Jörg Dünne (Erfurt) Von Listen und Lasten der Philologie für das Leben. Nicht mehr ganz zeitgemäße Betrachtungen zu der von Ottmar Ette initiierten Debatte um Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft"Wie könnte man nicht einverstanden sein?" So lautet
die Frage, die Hans Ulrich Gumbrecht in seiner freundlich-kritischen Reaktion
auf Ottmar Ettes ursprünglich 2007 veröffentlichte, viel beachtete "Programmschrift
zum Jahr der Geisteswissenschaften" mit dem Titel "Literaturwissenschaft
als Lebenswissenschaft" stellt (LL: 81–84). Gumbrechts Kritik findet sich,
wie auch Ettes Programmschrift selbst, wieder abgedruckt in einem von Ette
zusammen mit dem Herausgeber der Zeitschrift Lendemains, Wolfgang Asholt, herausgegebenen gleichnamigen Sammelband
in der "Edition Lendemains" im Narr Verlag – zusammen mit neunzehn
weiteren Beiträgen zu dieser Debatte. Es trifft sich gut, dass fast zeitgleich
mit dem Rückblick unter dem Titel ZusammenLebensWissen.
List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalem Maßstab der dritte
Band und damit der Abschluss der Trilogie "Überlebenswissen" des
überaus produktiven Potsdamer Romanisten erschienen ist. Dass diese Debatte überhaupt geführt wurde und wird, ist
zunächst schon einmal das unbestreitbare Verdienst sowohl von Ette als auch der
Zeitschrift bzw. der Reihe Lendemains,
die sich in ihrer Rolle als Seismograph für aktuelle Debatten in der
deutschsprachigen Romanistik und darüber hinaus bestätigt sehen darf. Ihren
institutionellen Ort hat die Debatte im Übrigen am Graduiertenkolleg "Lebensformen
und Lebenswissen" an den Universitäten Potsdam und Frankfurt/Oder.1 Die folgenden Überlegungen erheben nicht den Anspruch, die
vielfältigen, den Stil der variierenden Wiederholung praktizierenden
Überlegungen Ettes in Kapitel für Kapitel und Teilband für Teilband zusammenzufassen
noch ihren – von den romanischen Kulturen geprägten – weltumspannenden Horizont
in Gänze zu würdigen. Sie können auch keine lückenlose Bestandsaufnahme des
sich auf Ettes Anregungen hin entwickelnden Felds liefern, wollen aber Folgendes
leisten:
PhiN 57/2011: 74 Insgesamt geht es also in den folgenden Überlegungen nicht
nur um die Beiträge Ottmar Ettes selbst, der sich mit seiner Trilogie zum "Überlebenswissen"
der Literatur einmal mehr als einer der wichtigsten Anreger in der derzeitigen
romanistischen Literaturwissenschaft und darüber hinaus erwiesen hat, sondern
um mögliche Fluchtlinien einer anhaltenden kulturwissenschaftlichen Debatte. 1. Zusammenleben und Überleben: Die Frage nach der Historizität des Lebens Zu Beginn soll möglichst knapp Ettes Anliegen
zusammengefasst werden: Es lässt sich wohl am besten in der Figur der
Scheherazade (vgl. dazu ZLW: 44–47) bündeln, denn nach Ette kann Erzählen, wenn
auch in prekärer Form, Überleben sichern, indem es Zeit 'komplexifiziert'.
Anders – und mit Ettes unbestreitbarer Begabung für einprägsame Formulierungen –
paronomastisch ausgedrückt: Die Literatur konstituiert, so die These,
Überlebenswissen durch die 'listige' Verwandlung der 'Last' der Geschichte zur 'Lust'
an einem künftigen Zusammenleben (vgl. exemplarisch ZLW: 341). Die Literatur
wird so für Ette zum "Lebensmittel" (ZLW: 217), das es beispielsweise
erlaubt, historische Traumata bearbeitbar zu machen – dies wird besonders
deutlich, wenn sich Ette mit Zeugnissen von ehemaligen Lagerinsassen befasst,
wie etwa mit Emma Kann, Max Aub oder Jorge Semprún (vgl. ÜLW: Kap. 7, 189–225,
sowie ZLW: Kap. 5, 199–219). In Verknüpfung damit sieht Ette die Funktion der
Literatur darin, feste kulturelle Verortungen auf eine 'Vektorialität' von
Bewegung hin durchlässig zu machen (ein schönes Beispiel dafür ist Ettes
Auseinandersetzung mit dem im Libanon geborenen und in Frankreich lebenden Amin
Maalouf, vgl. v.a. ZLW: Kap. 3, 117–164). Generell unterliegt Ettes Trilogie
ein impliziter raumtheoretischer Fokus, an dem dieser zumindest seit seiner
Monographie Literatur in Bewegung (Ette
2001) arbeitet und der sich am deutlichsten im zweiten Band der Trilogie: ZwischenWeltenSchreiben: Literaturen ohne
festen Wohnsitz (ZWS) äußert.2 Dabei interessieren Ette nicht
Fiktionen im engeren Sinn, sondern das, was er "friktionale" Texte
(vgl. bereits Ette 2001: 21–84, v.a. 43) nennt, die sich im Sinn seiner Trias
stets an den 'Lasten' der Lebenswelt abarbeiten, ohne dabei Realität einfach
mimetisch zu reproduzieren, aber auch ohne eine mehr oder weniger autonome
fiktionale Welt zu entwerfen. PhiN 57/2011: 75 In methodischer Hinsicht ist der assoziative Denkstil Ettes
gewöhnungsbedürftig, da er situativ immer neue Theorieansätze ins Spiel bringt,
anstatt einzelne davon näher oder in Form einer theoretischen Grundlegung zu
entfalten.3 Es soll aber nicht darum gehen, die Wendungen von Ettes
Denken auf ihre systematische Kohärenz zu überprüfen, was allein schon insofern
unangemessen wäre, da es Ette nicht um Systematizität im strengen Sinn geht.
Der große Reichtum seiner Trilogie liegt in den überraschenden Konstellationen,
die er aus kulturtheoretischen Versatzstücken und im Umgang mit Texten einer
nicht eurozentrisch verstandenen "littérature-monde"4
gewinnt. Die Frage, die man jedoch sehr wohl an Ette richten kann, ist
diejenige nach dem Verständnis der Schlüsselbegriffe Leben, Überleben und
Zusammenleben, die seinen Überlegungen zu Grunde liegen. Klar ist Ettes Ziel, dem angeblich unterkomplexen
Lebensverständnis der life sciences
ein kulturwissenschaftlich geprägtes Verständnis entgegen zu setzen (vgl. LL:
14) – wobei er sich jedoch nie vertieft mit dem Lebensbegriff der
Biowissenschaften auseinandersetzt, was im Übrigen auch in den wenigsten der
anderen Beiträge zu der Diskussion um Literaturwissenschaft als
Lebenswissenschaft geschieht.5 Und natürlich kennt Ette auch die
neueren kulturwissenschaftlichen Diskussionen um den Begriff des 'Lebens' und
die, so könnte man behaupten, auf der vorerst letzten Wendung der Foucault-Rezeption
(vgl. v.a. Foucault 1976 und 1997) aufruhen und sich vor allem auf den Begriff
der Biopolitik konzentrieren, der in den Schriften Giorgio Agambens (vgl. v.a.
Agamben 1995) eine weitere Zuspitzung erfahren hat (vgl. LL: 16–19). Es scheint Ette jedoch im Grunde nicht um eine historische
Konstellation des 'Lebens' zu gehen, die er mit dem Hinweis auf Foucault und
Agamben zwar andeutet, jedoch nie wirklich vertieft, sondern letztlich darum, eine
anthropologische Grundlage für ein Verständnis von Leben zu finden, die dennoch
nicht reduktiv biologistisch wäre und zu der die Literatur, so seine These,
einen privilegierten Zugang hätte: In Anschluss an Helmuth Plessner (v.a.
Plessner 1980) schreibt Ette der Literatur nichts weniger als die Fähigkeit zu,
sie habe einen privilegierten Zugang zur Leiblichkeit der menschlichen Existenz
und könne zwischen dem Körper-Haben als Objekt und dem Leib-Sein als Grund von
aller Erfahrung vermitteln (vgl. ÜLW: Kap. 4, 123–149). Hier kommt es zu einer aufschlussreichen und nur auf den
ersten Blick überraschenden Verknüpfung, die Ette im Hinblick auf sein
Verständnis von (Über-)Leben vornimmt, nämlich zwischen der philosophischen
Anthropologie Plessners und dem Körperdenken bei Roland Barthes. Hinter dem
objektivierbaren Körper insistiert, so könnte man mit Ette sagen, bei Barthes
wie auch bei Plessner immer der Leib mit seinem Begehren, den es seiner Meinung
nach nicht einfach zu ignorieren gilt, auch nicht in der Wissenschaft. Diese
Engführung von Barthes' "plaisir du texte" (Barthes 1973) mit der Plessnerschen
Anthropologie ist durchaus aufschlussreich: Indem er den Lebensbegriff im
Grunde nicht historisch, sondern anthropologisch und mit einer starken
Leiblichkeitsemphase fasst, verlässt Ette ganz offensichtlich den Rahmen der
Historisierung des Lebens durch Foucault. Seine Re-Anthropologisierung des
menschlichen Lebens vor dem Hintergrund Plessners, die nicht so sehr die 'Differenz'
zwischen Körper-Haben und Leib-Sein, sondern in erster Linie die Fundierung des
menschlichen Lebens im Leiblichen akzentuiert, hat aber ihren Preis: Unter
anderem wird es für Ette durch diese Vorentscheidung schwierig, die ganze Tragweite
der aktuellen, an Foucault und Agamben anschließenden Diskussion um Biopolitik
zu erfassen, die es vor allem ermöglichen würde, den Begriff des 'Überlebens',
der immerhin Hauptgegenstand des ersten Bandes der Trilogie ist, genauer zu
konturieren. PhiN 57/2011: 76 Wie beispielsweise Falko Schmieder, der Herausgeber der
neuesten Diskussionsbeiträge zum "Überleben" in den
Geisteswissenschaften, im Einleitungsbeitrag zu dem von ihm herausgegebenen
gleichnamigen Sammelband ausführt (Schmieder 2011: 9–29), gelangt das 'Überleben'
erst in der biopolitischen Konstellation der Moderne zu einer zentralen Relevanz.
Die "Anthropologien des Überlebens" (vgl. dazu ebd.: 25–28), von
denen eine Sektion des vom Berliner Zentrum für Literaturwissenschaft herausgegebenen
Bandes handelt, verstehen sich dabei vor allem als historische Anthropologien,
die nicht auf einem substanziell gefüllten Lebensbegriff im Sinn von 'Leiblichkeit'
aufruhen, sondern auf einem historischen Lebensbegriff im Zeichen der
Biologisierung des Lebens seit dem 19. Jahrhundert. Schmieder folgt dabei im
Prinzip Foucault und Agamben, jedoch nicht der Zuspitzung Agambens, dessen
bekannter These nach Überleben als "neues Paradigma der
Kulturwissenschaften" (so der Titel der der Publikation zu Grunde
liegenden Tagung des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung6)
nur vom Lager als "Paradigma der Moderne" her gedacht werden kann.
Schmieder macht vielmehr deutlich, dass 'Überleben' in der Moderne nicht nur im
Lager greifbar wird, sondern ausgehend von der generellen Verzeitlichung des
Wissens im 19. Jahrhundert bereits auf der Grundlage der darwinschen
natürlichen Selektion mit dem "survival of the fittest" zum Paradigma
einer Lebenswissenschaft wird. Die Frage des Überlebens hat, so Schmieder
weiter, unlängst durch das Bewusstsein vom Klimawandel eine neue Wendung
erfahren, die der Frage des Überlebens eine anders als von politischen
Katastrophen her gedachte 'zerdehnte' Zeitlichkeit gibt. Diese historische
Spezifizität des (Über-)Lebens für die Moderne, die Gegenstand verschiedener
Beiträge des von Schmieder herausgegebenen Bandes ist, steht nicht im Fokus von
Ottmar Ette, obwohl er doch selbst vor allem literarische Texte der Moderne
behandelt. Dass Ette eher ein unversehrbares Substrat von Leiblichkeit
als Grundlage der modernen Sorge um das (Über-)Leben sieht als den
biopolitischen Ausnahmezustand, zeigt sich auch in der Rolle, die er der
Literatur zuweist: Gerade da, wo Ette in eindringlicher Weise auf Zeugnisse aus
Konzentrationslagern eingeht, akzentuiert er stets die 'positivierende' Rolle
des Schreibens als Transformation von Last zu Lust, womit er neuere kultur- und
auch literaturwissenschaftliche Überlegungen zu Trauma und Immunisierung (vgl.
dazu exemplarisch Koppenfels 2007) wenn nicht umgeht, so doch zumindest
entschärft. Ette hat keine Scheu, unter Berufung auf Mario Vargas Llosa "gute
Fiktionen" der Literatur zu fordern, die er den "schlechten
Fiktionen, welche die Geschichte […] beherrschen" entgegensetzt (ÜLW: 61).
Ette insistiert also letztlich auf der moralischen Funktion von Literatur, die
die Welt besser machen könne, als sie es außerhalb des Literarischen ist. Es
stellt sich allerdings die Frage, was mit einer Literatur ist, die unheilbare
Brüche des Historischen sichtbar macht und damit 'nur' von der Last der
Geschichte kündet, ohne sie in Lust verwandeln zu können oder dies auch nur zu
wollen. PhiN 57/2011: 77 Die Lust, die am Ende der literarischen Katalyse der Last
des Lebens steht, ist bei Ette zumeist erotisch konnotiert. Er verknüpft seine
Vorstellung vom Überleben bzw. vom Zusammenleben erstaunlich konstant mit (heterosexueller)
Erotik, was natürlich ausgehend vom Paradigma Scheherazade durchaus einleuchtet;
auch die junge kubanische Schriftstellerin und Malerin Juana Borrero, die mit
einer 'Blutschrift' ihren Geliebten auffordert, sich zwischen dem Dienst am
Vaterland und dem Liebesdienst an ihr zu entscheiden, stellt als Lust des
Überlebens eine erotische Gratifikation in Aussicht (LL: 21–26). Und ebenso ist
in Assia Djebars Nuits de Strasbourg
die Vision interkulturellen Zusammenlebens eine, die sich paradigmatisch im
Bett eines sich liebenden Paares entfaltet (vgl. das Schlusskapitel von ÜLW:
327–358). Dass in literarischen Texten über zeitliche und kulturelle Brüche
hinaus immer wieder ein metaphorischer Zusammenschluss von Erotik und
Gesellschaft hergestellt wird, verdient natürlich durchaus Beachtung; ob dieser
Zusammenschluss jedoch ein verallgemeinerbares Modell für ein 'lustvolles'
Überleben bzw. Zusammenleben abgibt, scheint allerdings fragwürdig. Das Beispiel von Assia Djebar zeigt bereits, dass es Ette
nicht nur ums 'nackte' Überleben geht, sondern, so zumindest suggeriert dies
der Titel des letzten Bandes seiner Trilogie, auch um positive Formen des
sozialen Zusammenlebens, die ebenfalls vom Paradigma der (erotischen)
Körperlichkeit her gedacht sind. Auch hier ist Roland Barthes insofern ein
zentraler Gewährsmann, als Ette ausgehend von ihm ein spezifisches 'Zusammenlebenswissen'
entwickeln will, das der Literatur nicht nur die Macht zuschreibt, 'Extremformen'
von Leben eine Stimme zu verleihen, sondern auch ein Speicher sozialer Formen
von Lebenswissen zu sein, die Formen der 'Proxemie', d.h. sozial relevanter
Nähe- bzw. Distanzrelationen zu anderen archivieren (vgl. Barthes 2002: 155–157
in Anschluss an den Anthropologen Edward T. Hall). Doch sieht man sich die
Vorlesung, die Barthes am Collège de France unter dem Titel "Comment vivre
ensemble" gehalten hat, näher an, merkt man, dass Barthes eigentlich keine
Formen sozialen Zusammenlebens beschreiben will, sondern Formen der
individuellen, körperlichen Distanznahme, die er, ähnlich wie Michel Foucault,
mit der frühchristlichen Askese beginnen lässt.7 Aus Barthes'
Untersuchungen zum Lebenswissen ist also anders, als dies der Titel der Vorlesung
etwas missverständlich ankündigt, kein besonderes Zusammenlebenswissen der
Literatur zu gewinnen, sondern vielmehr eine Archäologie individueller bzw.
individualisierender Distinktionsformen, die sich dem Zusammenleben gerade entziehen:
Wie es 'miteinander aushalten'? – so müsste man Barthes' Frage eigentlich
reformulieren; wenn überhaupt, dann entwickelt Barthes einen skeptischen, in
moralistischer Tradition stehenden Ansatzpunkt zur Beschreibung von Formen des Zusammenlebens
(vgl. dazu Coste 1998), aber keine positiven Formen sozial gelingender Konvivenz
im Medium der Literatur. Ette bürdet der Literatur mit seinem emphatischen
Glauben an ihre Macht zur Lusterzeugung letztlich möglicherweise selbst eine moralische
Last auf und nimmt dabei immer wieder Kurzschlüsse wie denjenigen zwischen
Erotik und Sozialität vor, die durchaus als sinnstiftende literarische
Verfahren beschrieben werden können, jedoch nicht umstandslos als Modelle, die
Welt durch 'gute Fiktionen' besser zu machen. PhiN 57/2011: 78 2. Lebenswissenschaft
und Philologie Ottmar Ette praktiziert in seiner Trilogie nicht nur ein
emphatisches Verständnis von Literatur, sondern auch von der Literaturwissenschaft
als Philologie: Er weist letzterer eine Aufgabe zu, die darin besteht, zwar
nicht direkt im medizinischen Sinn Leben zu retten, so doch in einem durchaus
emphatischen Sinn kulturelles Zusammenleben jenseits biotechnischer
Machbarkeiten zu sichern. Es liegt im Trend, die Philologien mit
unverzichtbaren Aufgaben auszustatten, mit denen sie ihre gesellschaftliche "Bringschuld"
(so Ette wörtlich in LL: 16) abgelten können: Bei aller Sympathie für die
Parteinahme Ettes für die gesellschaftliche Relevanz seiner Zunft8
ist es die Frage, ob man die Literaturwissenschaft und ihre Vertreter nicht
hoffnungslos überfordern, ja sie auch einseitig vereinnahmen würde, wenn man
von ihr ein auf ganz bestimmte Weise dem 'Leben' verpflichtetes Engagement
fordern würde. Hier wird die "Wie-könnte-man-nicht-einverstanden-sein"-Haltung
zu Ettes Programmschrift, die Hans Ulrich Gumbrecht formuliert hat,
möglicherweise zu einem Symptom für die geheime Sehnsucht der
Literaturwissenschaft, der Philologie klassischen Zuschnitts gleichsam im
Handumdrehen zu besonderer gesellschaftlicher Relevanz zu verhelfen, indem man
ihr einen privilegierten Zugriff auf das Lebenswissen der Literatur
unterstellt. Diese Emphase halte ich für nicht ganz unproblematisch, denn sie
fordert vom Leser gleich einen doppelten Glauben ein: Erste Einstiegsbedingung in die von Ette propagierte Form
von Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft ist zunächst einmal, wie bereits
gezeigt, der Glaube an eine privilegierte Verbindung der Literatur zum Leben,
für die die (von Ette allerdings ganz unmetaphorisch ernst genommene) Metapher
der 'Blutschrift' der Juana Borrero steht. Zweitens bedarf es nach Ette eines
besonders sensiblen Philologen, um diese gesellschaftlich vergessene oder
zumindest nicht ausreichend gewürdigte Leistung ins rechte Licht zu rücken: Hier
beruft sich Ette in unerschütterlichem Glauben auf große Vorgänger seines Fachs
(vgl. dazu v.a. ÜLW: Kap. 3, 97–122). Vor allem ist er überzeugt, die Bedeutung
des Lebens für eine "Philologie der Weltliteratur" von Erich Auerbachs
Verständnis des Ausdrucks 'erleben' herleiten zu können (vgl. LL: 35f9).
Es ist jedoch zumindest kühn zu glauben, die genaue Lektüre der eigenen
Fachtradition könne uns mehr über die Art und Weise verraten, wie man mit dem
Leben umzugehen habe, als die Auseinandersetzung mit den life sciences, denen Ette, wie bereits bemerkt, tendenziell eher
die Reflexivität abspricht, die er der Literatur und der Literaturwissenschaft
zugesteht. Sicher, man versteht Ette, wenn er die schwindende Bedeutung der
Philologie in der gesellschaftlichen Debatte rezentriert sehen will. Aber
dieser Wunsch beinhaltet eine unhinterfragte Voraussetzung, der zur 'Tiefenmetaphysik'
einer emphatisch betriebenen Philologie zu gehören scheint: Es ist der Glaube an
eine unbedingte und nicht relative, auf ihre Position im jeweiligen diskursiven
Umfeld bezogene Macht des Verbunds von Literatur und Philologie, Anderes und
moralisch Bedeutsameres zu wissen als die restlichen Diskurse, die den Menschen
zugänglich sind. Das ist ein mächtiger Anspruch und, so ist zu vermuten, der
Preis, den man für die uneingeschränkte Zustimmung zu Ettes Verpflichtung der
Literaturwissenschaft auf eine Lebenswissenschaft zu zahlen hat. PhiN 57/2011: 79 Der Verlauf der bisherigen Debatte über Ettes Programmschrift
hat bereits mögliche Einschränkungen des Etteschen Anspruchs aufgezeigt: So
könnte man, wie dies Markus Messling in seinem Debattenbeitrag (LL: 127–136) andeutet,
die Frage stellen, ob die Philologie als ein Kind des 19. Jahrhunderts aufgrund
ihrer historischen Vorbelastung wirklich dafür geeignet sein kann, ein
Lebenswissen jenseits rassistisch-kolonialer Vereinnahmung bereitzustellen. Und
auch der Begriff der Lebenswissenschaft ist zumindest im deutschsprachigen
Raum, wie die Reaktionen von Wolfgang Adam (LL: 77–80) und Klaus-Michael Bogdal
(LL: 85–92) auf Ettes Propagierung einer neuen 'Lebenswissenschaft' zeigen, historisch
so vorbelastet,10 dass man kaum zu glauben wagt, dass sich das, was
die Philologen vom Leben wollten und wollen, immer einfach in Lust auflösen
lässt. Doch selbst wenn man glaubt, dass es, wie sich Ette in seiner
Replik auf Kritiken an seiner Programmschrift zu zeigen bemüht, eine Geschichte
der Lebenswissenschaft vor und jenseits ihrer biopolitischen Vereinnahmung
geben kann (vgl. LL: 137–144, v.a. 139–142) und selbst wenn man der Philologie
eine radikale Kritik ihrer eigenen Verstricktheit in Kolonialismus und
Rassismus zutrauen darf, liegt das eigentliche Problem anderswo: Das Konzept
einer Literaturwissenschaft als "Philologie des Lebens" (vgl. hierzu
explizit den Vorschlag von Toni Tholen, LL: 93–111, hier 100) hat die Tendenz,
das angebliche Wissen um das Leben bei der Autorität 'großer Philologen' zu
borgen, sobald diese den Ausdruck 'Leben' verwenden, wie terminologisch (un-)bestimmt
auch immer. Ob dies der taktisch geschickteste Weg ist, die
Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft in Stellung zu bringen, scheint
zweifelhaft, wenn man berücksichtigt, wie schmal die Basis für die Entwicklung
eines differenzierten Lebensbegriffs bei Erich Auerbach, aber auch etwa bei
Roland Barthes ist. Die Frage ist, ob man zumindest in Fragen des Verhältnisses
von Literatur und Leben an der leitenden Hand großer Philologen wirklich besser
aufgehoben ist als wenn man einen unvoreingenommenen Blick auf das riskieren
würde, was sich im Feld der Lebenswissenschaften wirklich bewegt. Damit komme
ich zu meinem letzten Punkt, d.h. zu möglichen Perspektiven der Diskussion, die
Ette ausgelöst hat. 3. Das Lebenswissen der Literatur – Perspektiven einer Debatte Wie sieht nun das aktuelle Feld von Diskussionen aus, das Ette eröffnet und in dem evtl. die Frage nach der Artikulation von Leben und literarischen Texten in anderer Weise anders gestellt wird als in Ettes Dreischritt von Last zu Lust mittels literarischer List? Während Ette de facto zumeist auf thematischer Ebene argumentiert, wenn er das Lebenswissen der Literatur in Anschlag bringt, gehen einige Beiträge des Bandes PhiN 57/2011: 80 Einige Beiträge beschäftigen sich in erzähltheoretischer
Hinsicht mit dem besonderen Beitrag von Literatur zur Narrativierung bzw.
Fiktionalisierung von Leben (so etwa Ansgar und Vera Nünning, LL: 45–63 bzw.
145–168, sowie Wolfgang Asholt, LL: 65–73) und diskutieren dabei auch die
Frage, inwiefern Literatur nicht nur Wissen speichern und im Rahmen einer Erinnerungskultur
bearbeiten (vgl. hierzu den interessanten Beitrag von Sergio Ugalde zum 'rhythmischen
Gedächtnis' der Literatur in LL: 169–177), sondern auch solches produzieren
kann. Besonders aussichtsreich scheinen dabei die Überlegungen von Pablo
Valdivia Orozco (LL: 113–125), der im Anschluss an Ette die welt- und
wissenskonstitutive Funktion von Literatur nicht auf den Bereich des
Fiktionalen beschränkt. Er untersucht vielmehr eine nahe liegende und auch von
Ette selbst angedachte (vgl. ÜLW: Kap. 6, 171–188), aber in den weiteren
Debattenbeiträgen (mit Ausnahme von Toni Tholen, LL: 93–111) kaum berücksichtigte
Form der Literatur, 'Leben' fassbar zu machen, nämlich die (Auto-)Biographie.
Die narrative Verknüpfung ist es nach Valdivia, die dem Erzählen vom Leben eine
besondere Form des Wissens ermöglicht, die weder mit der Ordnung eines
Diskurses zusammenfällt noch mit dem, was eine solche Ordnung ausschließt.
Vielmehr lasse sich über die Erzählung des Lebens, wie Valdivia am Beispiel der
Autobiographie von Gabriel García Márquez mit dem aufschlussreichen Titel "Vivir
para contarla" (dt. etwa: 'Leben, um davon zu erzählen') zeigt, eine "Epistemologie
des Vollzugs" (LL: 115) erschließen, die eine performative Kongruenz von
Narration und Leben erkennbar werden lasse. Dieser Ansatz bedürfte sicher der
Konkretisierung, er scheint aber deswegen so interessant, weil er weder
teleologisch auf die Formierung einer wie auch immer gearteten narrativen
Identität zielt noch die Narration als bloße nachträgliche Bearbeitung der Lasten
des Lebens erscheint, wie Ettes Aussagen dies nahelegen. Die Argumentationslinie, derzufolge die Narrativierung bzw. Fiktionalisierung dem an sich ungreifbaren Leben eine wie auch immer zu denkende Form verleiht, verbleibt auf der 'sicheren' Seite der kulturwissenschaftlichen Tätigkeit, die sich mit der sprachlich-diskursiven Erfassung von Lebenswissen als kulturell formbarem bíos befasst. Es ist PhiN 57/2011: 81 Auch Borsò gibt sich somit nicht mit der Einhegung der
Literatur und Ästhetik im 'Garten des Wissens' zufrieden, deren Überwindung
Ette öffentlichkeitswirksam und sicherlich zu Recht einfordert. Im Unterschied
zu Ette will Borsò diese Überwindung aber nicht erreichen, indem sie der
Literatur und der Philologie emphatisch eine besondere Nähe zu den 'Grundlagen'
des Lebens attestiert. Stattdessen lässt sich mit ihr nüchtern, aber dennoch
folgenreich konstatieren, dass die Literatur zusammen mit anderen ästhetischen
Praktiken Ausschlussbewegungen der modernen Wissensordnung sichtbar macht: Ihre
Funktion liegt nicht darin, dass sie inhaltlich etwas Besonderes über die Last
oder Lust des Lebens zu sagen hätte, sondern dass sie immer wieder darauf
verweist, wie die Grenzlinien verlaufen, mit denen biologisches Leben vom
kulturell formbaren Bios abgespalten wird. PhiN 57/2011: 82 Folgt man Borsò in diesem Schritt, so bedeutet das aber
auch, dass man das "Lebenswissen" der Literatur nicht unbedingt,
zumindest nicht primär bei den großen Philologen suchen sollte, sondern
vielleicht doch eher bei den disziplinären Grenzgängern in dem unscharf
abgegrenzten und wandlungsfähigen Bereich der aktuellen Kulturtheorie. Eine zukünftige
Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft hätte sich wohl eher auf diesem
offenen Feld als im Garten der Philologie zu betätigen, der trotz gegenteiliger
Beteuerungen wohl zumindest in Bezug auf Fragen des Lebenswissens eher als ein hortus conclusus erscheint. Diese Tür überhaupt
aufgestoßen zu haben, ist trotz aller möglichen Kritik das bleibende Verdienst
der beeindruckenden Lebens-Trilogie von Ottmar Ette. Agamben, Giorgio (1995): Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita. Torino: Einaudi. Asholt, Wolfgang/Ottmar Ette (2010) (Hg.): Literaturwissenschaft als
Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Narr.
[Zitiert unter der Sigle LL] Auerbach, Erich (19949): Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur.
Tübingen/Basel: Francke. Barthes, Roland (2002): Comment vivre ensemble. Simulations
romanesques de quelques espaces quotidiens. Notes de cours et de séminaires au Collège de France, 1976–1977. Hg. v. Claude Coste. Paris: Seuil. Barthes, Roland (1973): Le plaisir du texte. Paris: Seuil. Coste, Claude (1998): Roland Barthes moraliste. Villeneuve d'Ascq: Presses universitaires du Septentrion. Ette, Ottmar (2010): ZusammenLebensWissen.
List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab. Berlin:
Kadmos. [Zitiert unter der Sigle ZLW] Ette, Ottmar (2005): ZwischenWeltenSchreiben.
Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kadmos. [Zitiert unter der Sigle
ZWS] Ette, Ottmar (2004): ÜberLebensWissen.
Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kadmos [Zitiert unter der Sigle ÜLW] PhiN 57/2011: 83 Ette, Ottmar (2001): Literatur
in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und
Amerika. Weilerswist: Velbrück. Foucault, Michel (1976): "Droit de mort et pouvoir sur la vie", in: Ders : La volonté de savoir. Histoire de la sexualité 1. Paris: Gallimard,
175–211. Foucault, Michel (1997): Il faut défendre la société.
Cours au Collège de France, 1976. Paris:
Gallimard/Seuil. Koppenfels, Martin von (2007): Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München: Fink. Le Bris, Michel/Jean Rouaud (2007) (Hg.): Pour une littérature-monde. Paris: Gallimard. Plessner, Helmuth (1980): Anthropologie der Sinne.Gesammelte Schriften. Bd. 3. Hg. v.
Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schmieder, Falko (2011) (Hg.): Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen. München: Fink. Überleben (2009). Themenheft der Zeitschrift Trajekte
18/9. Anmerkungen 1 Vgl. die Website: www.gk-lebensformen-lebenswissen.de. 2 Die Auseinandersetzung mit Ettes Verständnis von Räumlichkeit wäre Gegenstand einer eigenen Auseinandersetzung, die hier nicht geführt werden kann und soll. Aus diesem Grund wird auch auf die Kapitel zu Reiseliteratur, Inseldenken sowie Weltliteratur nicht näher eingegangen; sie scheinen mir aber im Grunde sogar noch perspektivenreicher als Ettes Beschäftigung mit dem Lebensbegriff zu sein – und zumindest bis zu einem gewissen Grad davon ablösbar. 3 Mit theoretischen Konzepten operiert Ette in einem ständigen work in progress, d.h. er speist in aktuelle Überlegungen Theorieansätze ein, die er in anderen Kontexten eingeführt hat und entwickelt sie dabei ständig weiter. Dies kann sehr produktiv sein, weil Ette mit Konzepten spielerisch umgeht und gerne auch Neologismen erfindet, die eingefahrene Verknüpfungen aufbrechen. Nicht in allen Fällen ist aber der Erklärungswert des so eingeführten Konzepts einsichtig – so ließe sich fragen, was Ette in ZusammenLebensWissen unter einem "Überlebens-Gnosem" versteht (ÜLW: 42, 202), ebenso wenig ist die Notwendigkeit zu erkennen, warum Ette Strukturen der mise en abyme immer wieder als Fraktale bezeichnet (vgl. z.B. ÜLW: 242), ohne dass dabei durch die Verwendung des Ausdrucks hinaus ein spezifischer Mehrwert erreicht würde. PhiN 57/2011: 84 4 Vgl. dazu die Würdigung Wolfgang Asholts in LL: 71f, der dabei auch auf das Manifest "Pour une littérature-monde en français" (Le Bris/Rouaud 2007: 23–53) verweist. 5 Näheres dazu s.u., Teil 3. 6 Vgl. zu diesem Thema auch die Nr. 18 der vom ZfL herausgegebenen Zeitschrift Trajekte (Überleben 2009). 7 Es wäre darüber hinaus an Barthes' Vorlesungen die bemerkenswerte Gleichzeitigkeit zu Michel Foucaults ebenfalls in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre anlaufenden Studien zur Geschichte der Selbstpraktiken zu untersuchen, die Foucault bekanntlich zu der großen und umstrittenen These einer Konstitution neuzeitlicher Subjektivität aus spätantiken Selbstpraktiken heraus geführt haben. 8 Die Gegenposition zu Ette wird im Rahmen der Diskussionsbeiträge zu Ettes Programmschrift von Christoph Menke (LL: 39–44) artikuliert. Zwar ist Menkes Verteidigung der unbedingten Autonomie der Ästhetik sicherlich konsequenter als Ettes systematisch schwer zu haltende Position einer 'relativen' Autonomie, dafür ist Menke aber auch in keinster Weise bereit, sich für die Verbindung von Lebenswissenschaft und Ästhetik überhaupt zu öffnen. 9 Ette bezieht sich dabei auf den Schluss des letzten Kapitels von Auerbachs Mimesis (Auerbach 1994: 514), der m.E. aber gänzlich auf die Lebenswelt "unsere[r] Epoche" gerichtet ist, ohne sich dabei in textanalytisch hilfreicher Weise auf die Untersuchung literarischer Texte zu beziehen. 10 Adam verweist insbesondere auf den nationalsozialistischen Bildungspolitiker Walther Linden, der die Formulierung "Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft" wörtlich im Sinn einer völkischen Ideologie verwendet (vgl. LL: 77). 11 Nähere Klärung dieser Frage ist von der Publikation der Beiträge der Tagung "Biopolitik, Bioökonomie und Biopoetik im Zeichen der Krisis" zu erhoffen, die im Januar 2010 in Düsseldorf stattgefunden hat (vgl. die Tagungswebsite unter: www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/biopolitik). |