Victor Andrés Ferretti (Lissabon/Kiel) Orlando Grossegesse (2009): Saramago lesen. Werk · Leben · Bibliographie. Berlin: edition tranvía.Es gehört zu den mehr oder minder impliziten Grundentscheidungen
literaturwissenschaftlichen Arbeitens, ob man sich dem Werk noch lebender
Schriftsteller dezidiert widmen oder dies lieber einer späteren Generation
überlassen sollte, um stattdessen den vielen noch nicht erforschten Texten
bereits vergangener Autoren sein jeweiliges Forschungsinteresse zu widmen. Ganz
gleich, ob man nun an einem kontemporären Kanon1 mitschreiben oder
lieber eine Art kritische Distanz zum Zeitläufigen wahren möchte, die Gegenwärtigkeit
eines Textes kann letztlich nur die Lektüre erweisen. Einen Versuch, diesen präsentischen Brückenschlag herzustellen, stellt das 2009 in
der Berliner edition tranvía in aktualisierter und erweiterter Auflage
erschienene Saramago-Handbuch (183 S.) des in Braga lehrenden
Literaturwissenschaftlers Orlando Grossegesse dar. In Saramago lesen beschäftigt sich der Romanist und Komparatist mit
dem Wirken des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers von 1998. Dass José
Saramago 2010 87-jährig verschied, stellt für die Konzeption dieses Vademekums eine
Trübung dar. Denn die bis zum Jahr 2008 chronistisch zusammengetragenen Daten,
Fakten und Anekdoten zum Schriftsteller verlieren an Konturenschärfe, vor allem
in Anbetracht des Fehlens von Saramagos letztem zu Lebzeiten veröffentlichten
Roman Caim (2009), der als
Akkolade zu O Evangelho segundo Jesus Cristo (1991) betrachtet werden
kann. Auch wenn man entsprechende Leerstellen dem Autor
nicht vorhalten kann, ist dennoch die zum Spätwerk hin zunehmende Informationsdichte
weniger als Beleg für das wachsende Interesse an Saramagos Werk, sondern mehr
als Anliegen Grossegesses zu deuten, möglichst zeitnah zu dokumentieren. Und
hier wird die Crux dieser Art von 'aktualisiertem' Nachschlagebuch deutlich:
Mit Online-Medien mithalten zu wollen,2 wiewohl die kritische
Selektion von Relevantem ihre Zeit, ja – gerade bei meinungsfreudigen Autoren
wie Saramago – wohl auch eine andere Zeitigkeit erfordert. Zuweilen wünschte
man sich, Grossegesse hätte da mehr auf sein philologisches Gespür vertraut,
das er bereits in seiner wertvollen Queiroz-Studie (Grossegesse 1991) unter
Beweis gestellt hat. So zeigt sich diese Monographie mehr am Bezug zu Aktuellem in Saramagos Werk interessiert denn an einer sich darin artikulierenden
Präsenz. PhiN 57/2011: 58 Man hat es insgesamt mit einem wohlstrukturierten Buch zu tun, dessen dem Erzählwerk Saramagos gewidmeter Hauptteil sich – nach einem etwas teaserartig gestalteten Exordium (11–21) – auf fünf Wegstrecken (34–105) verteilt, die von poetologischen Erwägungen (25–33) und einem ornamentum zur Dramatik und Intermedialität (106–14) flankiert werden. Es folgen eine kommentierte Chronik von Saramagos Werdegang (117–42) sowie eine umfangreiche Bibliographie (143–83). Ziel dieses Buches sei es, so der Autor, "Wege der Rezeption des vielgestaltigen Werks [Saramagos, V.A.F.] zu weisen, Entwicklungslinien und -brüche zu skizzieren" (7). Womit sogleich der suggestive Titel dieses Vademekums expliziert wird, der also weniger ein Lesen als vielmehr ein Rezipieren zu bedeuten scheint; was indes nicht erklärt, weshalb Grossegesse durchweg Autorkommentare einflicht, die eine selbständige und "kritische Annäherung an José Saramago und sein Werk" (21) abdämpfen. So heißt es etwa im Kontext von Terra do Pecado (1947):
In bester Hamete-Manier bleibt es dem 'umsichtigen' Leser folglich selbst
überlassen zu urteilen, was er davon halten solle (vgl. Don Quijote II,
24, 829). Doch sind das nicht so sehr Belege für die "Ambivalenzen" (21) in
Saramagos Œuvre als eher Indizien eines verhaltenen Lektüreverständnisses. Denn eine aufgeklärte Lektüre sollte keiner Autoritätsargumentation, geschweige denn Legitimationsrhetorik bedürfen, um räsonabel zu sein. In Bezug auf Saramagos – nicht umsonst so titulierte – Poemas possíveis (1966) lautet es sodann:
Man ist gleichsam geneigt zu fragen: Wozu noch selbst lesen, wenn der Autor bereits alles 'gesagt' hat? Durch diesen konsolidierenden Zugang verlieren sich leider auch findige Lektürefäden Grossegesses, wie etwa der zum Evangelho segundo Jesus Cristo (43–46), in einem Gewebe von Präzipiertem.3 PhiN 57/2011: 59 Dass eine hypertextuelle Erzählung wie O Ano da Morte de Ricardo Reis (1984) nicht komplexitätsgetreu resümiert werden kann, versteht sich nahezu von selbst; nicht jedoch, warum Grossegesse gerade hier den Schlüssel zum Text gewissermaßen ausstellt (38–40), statt die offenen Lesarten des Romans herauszuarbeiten. Durch solcherlei Passagen wird augenfällig, dass es dem Autor nicht so sehr um gleißende Text-Ambiguitäten als vielmehr um kontroverse Ambivalenzen von Autoraussagen geht, womit der "produktive Dialog mit der Moderne" (38) zwar einen Rezipienten einschließt, den Leser indes als steinernen Gast zu begreifen scheint.4 Eine Passivität, die Grossegesse für die Lektüre seines Werkes selbst nicht
vorsieht, wenn er die Vielzahl an Saramago-Texten geschickt chromatisch
zusammenführt, um Aspekte der Temporalität, Karnevalisierung, Sensualisierung
sowie Post-Theorie in Saramagos Werk anzuspielen.5 Das führt
vereinzelt zu neuartigen Kopplungen wie etwa der These, dass ab dem Ensaio
sobre a Cegueira (1995) eine Luhmannsche "Ungewissheit" (97) für Saramagos
Poetik bedeutungstragend werde. Immerhin wird hier eine prinzipielle Offenheit
von Text thematisch, die der Autor an anderer Stelle am liebsten wieder
schlösse, wenn er notiert: "Auch alle weiteren Romane suggerieren auf
unterschiedliche Weise mit ihren 'offenen Schlüssen' die Möglichkeit, dass sich
Heilserwartung erfüllen könnte" (62). Doch könnte es nicht auch sein, dass ein
Text wie O Ano da Morte de Ricardo Reis gerade versucht, Prophetie zu
desavouieren und stattdessen Mündigkeit (auch die des Lesers) zu befördern?
Gerade Grossegesses anerkennenswerter Verzicht auf eine plane 'lexikalische'
Abhandlung der Werke zugunsten einer teils verschlungenen, gleichwohl
gelungenen Integration unterschiedlicher Textmomente macht es umso
betrüblicher, dass er diesen tour de force nicht auch seinen Lesern in
Bezug auf Saramago zutraut. Unter den vielen prominenten Autoren, die in diesem
Handbuch als Querverweis dienen (Benjamin, Borges, Machado et al.),
fällt das Fehlen eines Namens besonders auf: Ernesto Sabato (1911–2011), den
mit Saramago nicht nur ein Faible für die literarische Figur des Blinden
verband, sondern auch ein durch und durch intellektuell engagiertes Werk. Doch
wie für Saramago lässt sich wohl auch für Sabato konstatieren, dass nur die
fortwährende Re-Lektüre ihrer Texte ihre jeweilige Gegenwärtigkeit wird
zeitigen können – eine anthropologisch zu nennende Aktualität, durch die ein
Text, inan, von wem und wann geschrieben, dazu verhelfen kann, etwas besser zu
verstehen, was es zeitlebens heißt, Mensch zu sein. Kurzum: Grossegesses Handbuch hätte auch "Saramago-Rezeption lesen" betitelt werden können, ohne dessen achtbare Kompilationsleistung zu schmälern. Es handelt sich in jedem Fall um das Werk eines untrüglichen Saramago-Kenners, das es mit einem konzilianteren Lektüreverständnis vermutlich vermocht hätte, zwei Bücher in einem zu sein: ein biobibliographisches Nachschlagewerk zum einen und ein anregender Dialogpartner für die persönliche Saramago-Lektüre zum anderen. So lohnt für den kühneren Leser weiter ein Blick u.a. in Giulia Lancianis plurivoquen Sammelband (1996) und – allen voran – die beteiligte Lektüre von Saramagos changierenden Texten. PhiN 57/2011: 60 Bibliographie Bloom, Harold (Hg.) (2005): José Saramago. Philadelphia: Chelsea House Publishers. Cervantes, Miguel de (2001):
Don Quijote de la Mancha. Ed. F. Rico. Barcelona: Editorial Crítica. [1605/1615] Grossegesse, Orlando (1991): Konversation und Roman. Untersuchungen zum Werk von Eça de Queiroz. Stuttgart: Franz Steiner. Lanciani, Giulia (Hg.) (1996): José Saramago. Il bagaglio dello
scrittore. Rom: Bulzoni Editore. Seixo, Maria Alzira (1999): Lugares da Ficção em José Saramago. O Essencial e Outros Ensaios. Lissabon: Imprensa Nacional-Casa da Moeda. [1987] Anmerkungen 2 Dass etwa Wikipedia-Einträge aus Kompendien wie dem Grossegesses Wissen schöpfen, sollte kein Anlass sein, diese Wissensspeicher nachahmen zu wollen. – Für eine aktuelle Fassung von Saramagos Wirken vgl. die Online-Plattform seiner Stiftung: www.josesaramago.org (05.05.11). 3 Man könnte anführen, dass der Autor sich (auch) an ein breiteres Publikum wenden möchte, dem an dieser Art von 'Wegleitung' liege, doch wären weder das von Grossegesse größtenteils literatur- und kulturwissenschaftlich verwendete Vokabular noch der literaturdidaktische Ansatz in diesem Sinne 'vermittelnd' zu nennen. 4 Stimmte dies, dann wäre ein gleißender Roman wie Memorial do Convento (1982) lediglich aus kanonischen Gründen lesenswert. 5 Bezeichnend ist der Kommentar, den Grossegesse zu Maria Alzira Seixos (1999) in aktualisierter und erweiterter Auflage erschienener Saramago-Monographie von 1987 macht, wonach diese "[v]iel close reading statt übergreifender Konzepte" (166) enthalte. |