Katerina Karakassi (Athen/Konstanz) Subjekt, Blindheit und Metaphysik
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Da gab der Alliebende sie ihr wieder, die Qual der Natur, die lauten Anstalten des Begräbnisses öffneten der Scheinleiche wieder das Auge. [ ] Er selber holte aus dem Zimmer den Miniatur-Riß ab und schleppte sich wie ein hungriges, verwundetes Ungeheuer verdrüßlich und langsam aus dem Hause hinaus. (Titan: 500–1.) |
Die Beute des hungrigen Ungeheuers bleibt dank göttlicher Fügung nur das kleine Porträt der nun sehenden Liane. Das Miniaturbild fungiert dabei fast wie eine rituelle Vorbereitung eines späteren, zum Glück nicht stattgefundenen Angriffs. Und obwohl es nicht näher beschrieben wird, wird indirekt auf die Falschheit des Porträts hingewiesen. Aus der anfänglichen Konstellation, die die innere Ruhe und Geistigkeit Lianes gegenüber der Hastigkeit und Lüsternheit des Malers darstellt, wird im Bezug auf das Porträt die Parallele zwischen Weiß und Farben gezogen, um die Farbpalette des Begierde gegen die weiße Gestalt anspielen zu lassen.
Die Macht der Begierde ist vielfarbig, während die Seligkeit sich durch das weiße Licht äußert: "Häßlich leckten seine vielfarbigen Panther-Augen gleich roten, scharfen Tiger-Zungen über das süße, weiche Antlitz [ ] Endlich hatt' er sie Bunt auf Weiß" (Titan: 498).20 Doch die "giftige(n) Tinten auf das weiße Elfenbein" können niemals in der Logik des Passus – die weiße Gestalt Lianes erfassen. Die Ähnlichkeit des Porträts zu Liane wird somit suspendiert, das "wahre" Antlitz der Frau wird nicht abgebildet. Auf dem Bild ist eher die Begierde des Malers zu sehen, während dabei Liane vom Subjekt zum Objekt degradiert wird.21 Dies erklärt auch warum es nicht nur Liane ist, die nicht abgebildet werden will, und den Akt des Gemalt-Werdens als einen Gewaltakt erlebt, sondern dass sowohl Albano, als auch Idoine nicht porträtiert werden wollen.
Exemplarisch für die Abneigung gegen die Abbilder ist eine Szene auf Isola Bella, wo Albano sich zusammen mit seiner echten und seiner vermeintlichen Schwester, Julienne und Linda, befindet. Zuerst sehen sie eine Wachsfigur22, die angeblich die tote Severina abbildet, die aber keine andere ist als Linda, die dabei ist und niemand sie im Abbild wiederkennt und dann sieht Albano zuerst sein Spiegelbild, das ihn beunruhigt .
Auf der Schwelle kam es dem Grafen ein, in das Nebenzimmer zu schauen; er macht' es auf und fuhr zusammen, rief aber: "Geht nur voraus!" und ging hinein. Er hatte nämlich sich im Spiegel zweimal nachgespielt erblickt. Drinnen fand er sich in einer Nische in französischer Uniform stehen in Wachs, aber schon als Jüngling, und darneben, was die Tür bedeckt hatte, seinen Vater auch als Jüngling, altmodisch gekleidet, aber schön wie ein griechischer Gott; [ ]Er stürzte tief ins Meer der Vergangenheit. [ ] Man rief draußen. |
PhiN 57/2011: 7 |
Die Wachsfiguren, die so unheimlich wirken, bilden nicht nur die Vergangenheit ab, wie es im Passus beschwört wird, sondern auch die mögliche Zukunft. Albano will nämlich nach Frankreich, um dort zu kämpfen. Eine Diskussion hat soeben stattgefunden, während der Julienne und Linda ihn umzustimmen versuchen, sein Unternehmen zu vergessen, – freilich ohne Erfolg. Und nun findet er (eigentlich überraschenderweise) eine Wachsfigur, die ihn in einer französischen Uniform darstellt. Trotzdem scheint Albano nicht überrascht, sondern eher wütend zu sein. Die Zerstörung des Abbildes, die wie Selbstmord und Betasten des Ichs empfunden wird, wird durch die unsinnige Verdoppelung des Gesichtes erklärt.
Er zerquetscht also zornig sein Gesicht, weil er den Zweck des Abbildes in platonischer Manier nicht anerkennen kann. Mehr noch: er ahnt, dass das Betasten des Ichs nur durch Bilder zustande kommt, daher auch der Hinweis auf den Selbstmord. Es ist der Mord an der Selbsterkenntnis durch Spiegelungen, die er nicht nötig hat. Denn das, was er in dieser Szene eigentlich ablehnt, ist nicht nur sich selbst in Abbildern wiederzuerkennen und durch Bilder festgelegt werden. Er wehrt sich auch gegen die Entmachtung seiner Souveränität so wie Liane sich gegen den Angriff des Malers gewehrt hat. Er wehrt sich zudem gegen die Aushöhlung seiner Einmaligkeit, gegen das Untergraben seiner Autonomie durch einen ihm fremden Willen. Auf den Porträts wird nämlich, so wie Albano und die anderen hohen Figuren durch ihre Handlungen suggerieren, nicht das Subjekt abgebildet, das in dieser Konstellation zum Objekt wird, sondern der Wunsch, die Begierde eines Anderen.
Die Wiederkehr der Vergangenheit in der Gegenwart wird dabei als die einzige Funktion der Bilder anerkannt, denn nur so kann die Wiedererinnerung, die Anamnese evoziert werden. So wird das Wachsbild als Zeichen der Todes und der endgültigen Abwesenheit (Severina), sowie als Erinnerung an die Vergangenheit (der Vater in seiner Jugend) erduldet. Doch dass das Abbild Albanos eine künftige Situation, eine noch nicht realisierte Subjektposition darstellt, wird nicht in Erwägung gezogen. Er merkt es nicht, denn er sieht nur die Verdoppelung seines Ichs, das letztlich für ihn das einzige Signifikante ist, und nicht seinen Körper, der in einer französischen Uniform dargestellt wird. Und dieses Verkennen ist ein im Roman wiederkehrendes Verkennen, das ausschließlich die platonisch konzipierten Hauptfiguren charakterisiert und sein Pendant in ihrer Antipathie gegen Porträts und Abbilder aller Art findet.
Die Ablehnung gegen das Porträtieren, die sowohl Albano, Liane und Idoine ausdrücklich teilen, ist nämlich exemplarisch für den Versuch die Subjektvorstellung der Zeit mit dem platonischen Ich-Ideal Jean Pauls im Roman zu verschmelzen. Die Verdoppelung des Gesichts durch das Porträt scheint einerseits eine Setzung der Identität zu sein, die die Suche nach weiteren Identitäten begrenzt und deshalb unerwünscht ist. Da dies das romantisch-klassische Ideal der Subjektivität untergräbt, werden die Porträts als eine Gefahr inszeniert.
Doch jede Abbildung ist in noch zweierlei Hinsicht suspekt: sie ist ontologisch unhaltbar und sie kann niemals die Idee adäquat materialisieren. Der Text in der Absicht den hohen Menschen zu skizzieren, setzt deshalb die platonische Aversion der Figuren gegen Abbilder emphatisch in Szene. Deshalb wird auch der Akt des Porträtierens als ein Angriff auf das autonome und d.". in der Logik des Romans zugleich auf das metaphysisch fundierte Subjekt dargestellt. Die Wut, ja die Feindlichkeit der idealisierten Hauptfiguren gegenüber den Porträts ist insofern erklärbar.
Jedoch ohne die deutungsbedürftige Welt der Abbilder und der Erscheinungen zu interpretieren, ohne Selbstreflexivität kann man eigentlich zu keiner Erkenntnis gelangen.
Dafür sorgen deshalb diejenigen Figuren, die zu einer postmetaphysischen Ordnung angehören und einerseits die Gefahren der Selbstsuche bzw. die existentielle Not des Subjektes drastisch veranschaulichen, andererseits aber imstande sind das komplexe Gewebe der Romanwelt zu überschauen, sowie in diese Welt einzugreifen und zu verändern.
Schoppe, derjenige, der die Rätsel der Porträts löst, derjenige also, der sich am intensivsten mit dem Ich auseinandersetzt, ebnet zugleich den Weg Albanos zum Thron. Interessant ist dabei, dass am Tag, an dem Schoppe das Geheimnis der Herkunft Albanos lüftet, der Tag ist, an dem er stirbt, nachdem er seinen Doppelgänger Siebenkäs getroffen hat.
"Niemand hat meine Gestalt" (sagte Schoppe erschüttert) "als der Ich." [ ] "Ich bin Siebenkäs", sagte das Ebenbild zärtlich und trat ganz nahe. "Ich auch, Ich gleich Ich", sagt' er noch leise, aber dann brach der überwältigte Mensch zusammen, und dieser reinigende Sturm wurde ein seufzendes, stilles Lüftchen. Mit weiß werdendem Gesicht, krampfhaft sich selber die starren Augen zuziehend, stürzte er um, [ ]. (Titan: 847) |
Während Schoppe mit der Identitätsformel Fichtes "Ich ist gleich Ich" stirbt, weil er seinen Doppelgänger gesehen hat, so bleibt Albano von der Entdeckung seiner wahren Identität ungerührt. Das Ich-Völkchen, das eigentlich Albano sehen sollte, aber Schoppe erblickte, ließ Albano in seiner Ich-Ethik unverändert.
Er scheint bis zum Ende sicher zu sein, dass Spiegelungen nicht einmalig sind und die Menschen, die in seinem Leben seriell auftraten für ihn nichts mehr als Spiegelungen gewesen sind. Wie z.B. Idoine, die als Ebenbild von Liane erscheint, Siebenkäs, der Schoppe ersetzt. Die Wiederholbarkeit der Abbildungen erlaubt deshalb Albano ohne weiteres "sich von seinem ganzen vorigen Leben" loszureißen, als er die Wahrheit seiner Herkunft erfährt.
Der hohe Mensch Jean Pauls braucht sich mit seiner neuen Identität nicht abfinden, denn seine Identität ist eine a priori gegebene und wird durch eine metaphysische Idee festgelegt, auch wenn gemäß dem romantischen-klassischen Ideal versucht wird ihn als ein sich stets entwickelndes Subjekt darzustellen. Diese Entwicklung findet jedoch nur vordergründig statt. Er, der stets im Zentrum der Handlung steht, wird vom Treiben der anderen Figuren, in die er nur sich selbst und seine eigene Ideale sieht, ohne sie jemals wahrzunehmen, zwar auf dem Handlungsbrett bewegt, doch innerlich bleibt er unberührt. Fast am Ende des Romans fasst Albano rückblickend sein Leben zusammen:
Sonderbar ists, daß ich immer auf Gräbern Spiegel finde, worin die Toten wieder lebendig gehen und blicken. So fand ich auf Lianens Grabe ihr lebendiges Bild und Echo; meinen alten liegenden Schoppe fand ich, wie Sie wissen, auch hinter einem Spiegelglas aufrecht und rege,[ ]. Ich versichere Sie, sogar meine Eltern werden mir vorgespiegelt, meinen Vater kann ich in einem Zylinderspiegel, und meine Mutter durch ein Objektivglas sehen. (Titan: 867) |
Die Ähnlichkeit wird somit auch jenseits des Grabes behauptet, während die lebendigen Porträts der Anderen, die Galerie des Helden auch mit anderen Namen bewohnen. Dieselbe Ähnlichkeit, an der Schoppe letztlich stirbt, irritiert Albano deshalb nicht, weil sie nicht konstitutiv für seine Identität ist.
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1 Zur Subjektivität in einer historischen Perspektive siehe u.a. Hagenbüchle (1998).
2 Deshalb wird es die Liebe sein, die als das versöhnende Prinzip par excellence zelebriert wird. Durch die ihr zugeschriebene metaphysische Macht können die Gegensätze zwischen Vernunft und Imagination, Geist und Sinnlichkeit, zwischen Innen und Außen, zwischen Individuum und Sozietät, zwischen dem Einzelnen und dem Universum überwunden werden. Dass es sich meistens in der Literatur der Zeit eher um das Scheitern der Liebe, als um ihr Gelingen handelt, deutet auf das Scheitern des Subjektes hin, über diese Gegensätze hinaus zu gelangen. Klinkert suggeriert deshalb zurecht, dass "die Literatur durch die Thematisierung von Liebe ihre eigenen Probleme" zu überwinden sucht. Doch nicht nur wie Klinkert behauptet, weil "Die scheiternde Liebe... zu einem Tropus für die Ohnmacht der Literatur als autonomes Teilsystem in der modernen Gesellschaft [wird]", sondern auch, weil ihr problematisches Sujet, das labile und zerrissene Subjekt, diese Ohnmacht geradezu bedingt (Klinkert 2002: 57, 250).
3 Diese problematische Lage des Subjektes wird kritisch auch in den damaligen metaliterarischen Reflexionen widerspiegelt. Als Beispiel für das Bewusstsein der Bewegtheit, für die Sehnsucht nach Grenzüberschreitung in dieser Ära des metaphysischen Relativismus kann Schlegels Vorstellung einer progressiven Universalpoesie gelten, so wie der Versuch Kleists im Marionettentheater eine mythische Einheit zu restituieren, als Zeichen der Nostalgie nach einer verlorenen Ganzheit und der Suche nach einem fiktionalen Korrektiv der inneren Spaltung des Subjektes zu lesen ist. Siehe dazu u.a. Apel (1992).
4 Wesentlich für die Bedeutung der Zeit in der Romantik ist die Studie von Frank (1990).
5 Hinzu kommt, dass die neuere Forschung auf die enge Beziehung zwischen Bilder, Abbilder und Bildlichkeit und dem Begriff der Bildung, wie er im Bildungsroman problematisiert wird, hingewiesen hat. Siehe dazu: Dürbeck (1998) und Voßkamp (2004).
6 "Auch der Titan arbeitet vor allem an einem Problem: den Konsequenzen, die sich aus dem diagnostizierten Ende von Metaphysik ergeben. Jean Paul versucht mit dieser Diagnose umzugehen – um dann dennoch Metaphysik als funktionale Größe wieder emphatisch zu fordern. In der sprachlichen Inszenierung, als letztem Bezugsfeld, will Jean Paul nämlich Identität in einem umfassenden Sinn wiedergewinnen. Seine Wortkaskaden und schon expressionistischen Phantasien zielen auf Vermischung, wollen das Getrennte in Kommunikation versetzen. Die Vielzahl der sphärischen Bilder versucht qua Technik, aber doch im Kern mimetisch, die in Mythos und Metaphysik gedachte Verkettung noch einmal nachzuahmen. Gegen scheiternde Aufklärung tritt Jean Paul mit einer Flut von Worten an, die darauf zielen, den Zusammenhang durch eine komplementär-vollständige Darstellung von Welt gegenwärtig zu halten – auch wenn sich der Zusammenhang nicht zu einem Faden entwirren läßt" (Fohrmann 1985: 32). .
7 "Jean Paul läßt seine Figuren sich wechselseitig relativieren, bringt sie je zueinander in eine Beobachter- und Teilnehmerposition. Sie agieren und reflektieren sich gegenseitig. Die inverse Spiegelbildlichkeit Albanos zu Roquairol, Lianes zu Idoine und Linda und Schoppes zum Kahlkopf usw. zeugt von einer Nähe, die auch als Identitätsverlust begriffen werden kann. Das in-der-Schwebe-Halten von Fixierung und Auflösung bestimmt die mehrschichtige Gesamtkonstruktion des Romans. Das unendliche Abschweifen, von dem Jean Paul träumt (sein "Papierdrache"), verhindert die Festlegung auf ein Programm, und selbst Albanos Fürsten-'Beruf', als vordergründige Lösung des Romans wird dann im "Komet" parodiert. Einheit und Transparenz, die eine Vernunft haben sich trotz erheblicher Anstrengungen nicht nachweisen lassen. Gerade im Schreibverfahren wird eine programmatische Lösung verhindert, die konträr zum Schreibverfahren selbst stehen würde. Das Feld der sich auf paradoxe Weise ausschließenden Konzepte, die im Raum des Romans in Kommunikation treten, legt nur frei, daß Welt in Schoppeschen Sinne ein Konstruktionszusammenhang ist – und es gleichzeitig nicht sein darf". (Fohrmann 1985: 30–31)
9 Es war Jean Paul, der den Begriff Doppelgänger prägte (Schulz 1996: 95).
10 Vgl. dazu die Bemerkung von Wölfel: "Wenn Jean Paul also mit der Erfindung einer genealogisch-dynastischen Verwicklung, durch die der Romanheld erst zusammen mit der Offenbarung der Vorgeschichte zu seiner "bürgerlichen" - Identität gelangt, dennoch arbeitet, dann kann das Verhältnis von, vorgegebener Welt der Vorgeschichte und gegebener Welt der Gegenwartshandlung nicht wie im Barockroman das von allgemeinem Wahrheits- und Daseins-Grund und ungesichert-fremdem Raum der Abenteuer sein, kann der Held nicht mit der Entdeckung seines Herkommens, mit der Ankunft in seiner Herkunft', zu seiner Wahrheit gelangen. Denn seine wahre Identität ist ja keine "äußere", sondern eine "innere", nicht die eines "Hauses", sondern eines Individuums. (Nicht ein einziges Mal wird am Ende des Romans Albano bei dem Namen genannt, der ihm "in Wahrheit" zukommt, nachdem er Cesara nicht mehr heißen kann. Er wird weiterhin wie er immer hieß, mit seinem Vornamen, also dem ihm als Individuum zukommenden Namen, benannt" (Wölfel 1984: 65–66). Zur Struktur des Romans siehe: Markschies (1957). Zur Fabel des Titans: Müller (1996: 29–44).
11 Zur Figur von Roquiairol wichtig ist immer noch die Studie von Rehm (1950).
12Zu den Frauengestalten in Titan siehe u.a.: Minter (2002: 321–25).
13 Die Erhöhung Albanos zum Fürsten versteht Wölfel als einen " übergang in eine messianische Gestalt" und dies steht "nicht im Zeichen der Revolution, sondern ist Produkt der eschatologischen Konzeption des Charakters" (Wölfel 1989: 231).
14 Vgl. dazu die Bemerkung von Christoph Zeller "Das Genie lautete nach den frühesten Plänen Jean Pauls der Titel des Romans. Der Held hätte demnach durch ein übermaß an "Kraft", an Leidenschaft, die schlechten Seiten seines Wesens veräußern sollen. [...] Die Aufspaltung des widersprüchlichen Genies in seine Extreme gestattet schließlich die metaphorische Darstellung eines Konflikts, der sich im Innern entwickelt: Albano und Roquairol sind zwei Seiten desselben Prinzips, die Pole menschlicher Phantasietätigkeit – "Engel" und "Teufel" des dichterischen Schaffens" (Zeller 1999: 125).
15 Wölfel bemerkt im Hinblick auf Albano: "Ein 'Charakter', in diesem Sinne verstanden, bildet sich bei Jean Paul nicht in 'in den Strom der Zeit', wie Goethes Leonore im Tasso meint; jenseits von aller Welt und Zeit ist er anfänglich da, und er verharrt in allen Bewegungen als ein Unbewegtes, in aller Veränderung als ein Unveränderbares, weil er nicht von dieser Welt ist" (Wölfel 1989: 228).
16Selbstkommentar von Jean Paul in der Vorschule der ästhetik, hier nach Wuthenow (2001: 890).
17 "Richter besitzt ein glänzendes Genie, aber den verderbtesten Geschmack, den man je einem Schriftsteller verziehen hat; Kraft eine poetische Welt zu schaffen, aber nicht Einsicht genug, sie zu ordnen; kränklich lebhaftes, verworrenes Kunstgefühlt und zu wenig, all zu wenig Künstlersinn" (Merkel 1800: 36–37).
18 Hans-Christoph Koller stellt in seinem Aufsatz "Bilder, Bücher und Theater. Zur Konstituierung des Subjekts in Jean Pauls Titan" fest, daß alle wichtige Nebenfiguren (die scheitern, oder sterben), irgendeine besondere Beziehung zur Kunst haben. Was die Bilder betrifft, so sind sie seiner Meinung nach von unübersehbarer Bedeutung. Sie präformieren nämlich die Wünsche des Helden, indem sie anstelle von den Objekten bzw. Personen selbst treten. Die Vorenthaltung der Wunschobjekte "macht Albano besonders empfänglich für Bilder" (Koller 1985: 29) Diese Empfänglichkeit beschränkt sich nicht nur auf seine Liebe zu Frauen, sondern beinhaltet nahezu alle mögliche Objekte. (vgl. Koller 1986: 27) Interessant – aber nicht in ihrer vollen Konsequenz gezogen – ist Kollers Erklärung für die Ablehnung Albanos gegenüber seiner Spiegelbildern bzw. gegenüber der Vervielfältigung seines Ichs. An der Wahl Albanos, Roquairol zum Freund zu machen, ist die (von Albano erwünschte innerliche) Ähnlichkeit zwischen den beiden die Grundlage der Freundschaft. [ich bin wie du, schreibt er ihm in seinem ersten Brief.] So kommt Koller zu dem Schluß, dass "[d]ie Wahl des Freundes nach dem Kriterium der Ähnlichkeit mit dem eigenen Ich [erfolgt]. [...] Und Albano braucht einen solchen Freund, ein ihn verdoppelndes Spiegelbild, um selbst ganz zu sein, denn erst wer "zweimal" lebt, ist "wie unsterblich", und erst dem verdoppelten Ich erschließen sich "die Alpen der Schöpfung", der Frühling und die Fülle der Welt. Seine Attraktivität für Albano bezieht das Bild des ähnlichen Gegenübers allerdings daraus, daß es ihm in einer entscheidenden Hinsicht unähnlich ist. [...] Damit Albano an einem Spiegelbild seiner selbst zum "hohen" Menschen reifen kann, muß dieses Spiegelbild ihm etwas voraus haben: es muß edler, schöner und vollkommener sein, als er selbst es ist. Wie das Ich in Lacans "Spiegelstadium", konstituiert sich Albanos Ich auf dem Weg über das Bild eines anderen, vollkommeneren Gegenübers. Doch wie das Ich des "Spiegelstadiums" seine Abhängigkeit von diesem anderen verkennt, so bleibt auch Albano die Herkunft seines Ichs verborgen. Er, dessen Sehnsucht nach Größe von dem Wunsch geprägt ist, aus eigener Kraft groß zu sein, statt von fremder Hand getrieben zu werden, muß sich auch in der Freundschaft die Illusion der Autonomie bewahren. So muß er beides verkennen: daß seine Sehnsucht nach dem Freund nur dem eigenen Spiegelbild gilt, und daß er nur durch dieses ähnlich-unähnliche Gegenüber das ist, was er ist. Während Liane ihr Spiegelbild idealisiert und dessen ähnlichkeit mit sich selbst verkennt, weil sie ihr Ich verleugnet, verkennt Albano umgekehrt das Bild des anderen und dessen Einfluß auf sich selbst, weil er sein Ich idealisiert. Der Begegnung mit den (Spiegel-)Bildern seiner selbst, so läßt sich folgern, weicht er deshalb aus, weil sie die geheime Struktur offenzulegen drohen, die seiner Subjektivität zugrunde liegt." (Koller 1986: 32–33.)
Koller hat Recht mit seinen Überlegungen. Es ist richtig, daß Albano das Bild des Anderen und dessen Einfluß verkennt. Doch im Rahmen des Romans ist diese Verkennung m.E. ein taktischer Zug, der auf die Idealisierung des Helden abzielt. Die dunkle Figur Roquairols ist nötig, um die Figur des hohen Menschen, für den Albano typologisch steht, mit leidenschaftlichen Nachdruck hervorheben zu können. Die äußerliche Ähnlichkeit bezeugt hier den inneren Unterschied. Daß dies eine Ausnahme im Roman darstellt, spricht für eine Erzählstrategie, die ex negativo die Kongruenz des edlen Subjektes beschwört. Während nämlich die wechselseitige Relativierung der anderen Figuren, deren Spiegelbildlichkeit ihre Identität als kontigent erweisen läßt, sie zu Ersatzteilen der Textmaschinerie degradiert, ist Albano ein anderes Schicksal vorenthalten. Er ist nämlich, derjenige der von den Bildern der Anderen ernährt wird, aber als ein Ideal-Ich – das sogar jenseits der Zeit steht – keine Vervielfältigung oder Fragmentierung aufweisen darf (Koller 1986: 27ff, 32–33).
19 Zur Blindheit Lianes siehe Eickenrodt (2006: 316–19).
20 "Es war für ihn kein Opfer, sondern ein Vor-Genuß, ein süßer Imbiß, den Kuß dieser zarten, kleinen Hand und Lippe und die ganze Schaustellung seines brennenden Herzens hinauszusetzen, bis er ihren Abriß mit den Gift- Tinten auf das weiße Elfenbein durch die schnelle Dupfmaschine seiner Hand abpunktieret sah." (Titan: 498)
21 Vgl. dazu die Interpretation dieser Szene, die Sabine Eickenrodt liefert (Eickenrodt 1999: 100–105).
22 "Platons Politeia und ihr Höhlengleichnis steht für Jean Paul von Anfang an als einschlägiges Modell dahinter: Die Sinnenwelt der in der Erdhöhle Eingeschlossenen ist, erkenntniskritisch gesehen, nur Schatten und Schein, und die Körper, die diese Schatten erzeugen, sind, ontologisch gesehen, den flüchtigen Schatten gleich und lediglich Gefängnis der unwandelbaren Seele und ihrer Ideen. Wo die Schattenrisse sind, sind die Wachsnachbildungen nicht weit" (Pfotenhauer 1996: 10).
23 Siehe z.B. dazu u.v.a. Hesse (2010). Hesse befasst sich in ihrer Arbeit im Grunde genommen ausschließlich mit Roquairol und Schoppe. Albano widmet sie nur zwei oder drei Absätze. Den Grund dafür gibt sie wie folgt an: "Während also Albanos Charakter und Geschichte des Vergleichs mit Roquairol bedürfen um profiliert hervorzutreten, konstruieren sich Roquairol und Schoppe unabhängig von Albano im Zuge eigenständiger Erzählstränge" (Hesse 2010: 162). Albano wird – so Hesse – zur Hauptfigur, nur weil alle andere sterben! (Hesse 2010: 302).