Rolf Lohse (Göttingen) Die Literatur Québecs auf dem Salon du livre, Paris 1999 Es muß darauf hingewiesen werden, daß der Versuch, herausragende Trends einer Literatur, die sehr breit präsentiert wurde, zu benennen, ein subjektives Moment enthält und von persönlichen Vorlieben und der selektiven Wahrnehmung des Beobachters abhängt. Wenn hier dennoch wichtige Texte und Namen der literarischen Szene Québecs genannt werden, handelt es sich um eine Auswahl, die subjektiv bestimmt ist und bei der der Vf. keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Der Salon du livre bot die Gelegenheit, einen breiten Ausschnitt der zeitgenössischen Literatur Québecs kennenzulernen, deren Facettenreichtum hervorzuheben ist, aber auch die überraschende Abwesenheit von Berührungsängsten hinsichtlich von Themen, die sicherlich zu Kontroversen in Québec führen könnten, geführt haben oder auch durch solche Kontroversen angeregt wurden, wie etwa die Minderheitenthematik oder die experimentelle Aneignung neuer Formen der Auseinandersetzung mit Sprache und Literatur. Verschiedene - auch dissidente - Ansätze fanden ihren selbstverständlichen Platz in der offiziellen Präsentation der frankophonen Literatur Québecs. PhiN 9/1999: 36 Suzanne Jacob, eine auch als Chansoninterpretin bekannte Schriftstellerin, schreibt gesellschaftskritische und tendenziell dissidente Romane (L'obéissance, 1991, La bulle d'encre, 1997), deren zentrale Aussage in der Entlarvung eines "apprentissage de l'obéissance" liegt. Ihr Anliegen ist es, die Welt lesbar und nicht unlesbar zu machen. Die selbstgewählte Einsamkeit der Protagonisten, die in Jacobs Romanen im Alltagsleben ihr Exil finden, ist nach Aussage der Schriftstellerin als Strategie zu verstehen, der Anpassung an die bestehenden Verhältnisse entgegen zu arbeiten und die Frage nach der Identität neu zu stellen. Québec ist auch heute noch das Ziel von Einwanderern verschiedener Herkunft. In dieser freiwilligen oder aufgezwungenen Exilsituation entsteht eine lebendige, facettenreiche Literatur, die sich unter verschiedenen Perspektiven der Einwandererliteratur und/oder der Exilliteratur zuordnen läßt. Im Rahmen der "littérature québécoise" schreiben einige Autoren die Literatur ihrer frankophonen Heimatländer weiter, so etwa Emile Ollivier (L'enfant aux pieds poudrés, 1999), der seine Heimat Haiti verlassen mußte und sie teils nostalgisch, teils kritisch in seinen Texten evoziert. Diese Autoren bringen die Erfahrung der Fremdheit und der Exilerfahrung in ihre dezidiert frankokanadisch perspektivierten Erzähltexte ein, wie etwa der in Brasilien geborene Sergio Kokis, und die aus China eingewanderte Schriftstellerin Ying Chen. Kokis beschreibt seine Exilerfahrung nicht als Erfahrung der Entwurzelung, sondern als Eintritt in eine universelle Existenzform. Ying Chen ist insbesondere deswegen von besonderem Interesse, weil sie die Exilerfahrung radikal positiv deutet und den mit der Einwanderung verbundenen teils traumatisierenden, teils euphorisierenden Neubeginn treffend auf den von ihr positiv valorisierten Begriff des orphelinage bringt. Sie weist für sich den Begriff der Identität zurück und entscheidet sich für ein Waisenschicksal, das als Ausdruck des Wunsches gedeutet werden könne, wiedergeboren zu werden. Eingewanderte Autoren mit komplexen Biographien, wie Neil Bissoondath, der auf Trinidad geboren wurde, aber indischer Abstammung ist und sich hin- und hergerissen sieht zwischen der Entwurzelung und dem Wunsch, sich zu entfalten, und Ook Chung, ein in Japan geborener Koreaner, greifen das Exilthema in ihren Novellen auf eine Weise auf, die erkennen läßt, daß sie die verschiedenen kulturellen Hintergründe, denen sie entstammen, einbeziehen. Ook Chung beschreibt eine mit der Exilerfahrung verknüpfte Gedächnislücke, die er durch Reisen etwa nach Tokio, wo er sich noch verwurzelt fühlt, zu füllen sucht. Die literarische Arbeit sieht er als "exercise de style dans le métissage culturel". Auch Naïm Kattan, in Bagdad geboren und seit 1954 in Kanada lebend, beschäftigt sich vor dem Hintergrund seiner Biographie mit Fragen der Exilerfahrung (Partages, 1999). PhiN 9/1999: 37 In der Dichtung wurden eine Reihe von interessanten Texten vorgestellt: etwa von Serge-Patrice Thibodeau, der in Le Quatuor, de l'errance (1995), insofern neue Wege der Dichtung beschreitet, als er seine geographisch weit gespannte Reisedichtung nach Prinzipien arabischer Zahlenmystik strukturiert und damit Elemente der islamischen Kultur an die heutige, abendländische Leserschaft vermittelt. Seine auch spirituelle Reise ist verbunden mit dem Appell gegen Fanatismen jeder Art. François Charron (Éloge de l'inconnu, 1998) beharrt auf der Notwendigkeit der Einsamkeit, die erst so etwas wie Solidarität ermögliche. Jean Désy vertritt mit Ô Nord, mon amour (1998) die Dichtung der amérindiens. Der Schriftsteller, Environnement-Künstler und Musiker Robert Racine bewegt sich auf experimentellen Bahnen zwischen Sprache und Musik. Neben einer Reihe von referierten Wörterbuchinstallationen - Racine verteilte etwa eine große Anzahl französischer Wörter auf einem Gartengelände und schuf so einen "parc de la langue française" - faszinierte seine Umsetzung des Petit Robert in eine musikalische Komposition, die auf einer der Buchpublikation beigefügten CD enthalten ist - ein musikalisches Ereignis, das den Vergleich mit Kompositionen von John Cage nicht zu scheuen braucht. Auch im Bereich des Essay und der Wissenschaften waren anregende Autoren zu entdecken, so etwa Laurent-Michel Vacher, der in seinem Essay Un Canada libre (1991) polemisch herausstellt, daß die konträren Positionen für und gegen die Unabhängigkeit Québecs sich auf der Ebene der verwendeten Argumente soweit angenähert haben, daß sie ununterscheidbar geworden seien, und je nach bezogener Position die eine oder andere Interpretation erlauben. Georges Sioui, Spezialist autochtoner Kulturen, legte Les Wendats: une civilisation méconnue (1994) vor, das mittlerweile zu den einschlägigen Standardwerken zählt. |