PhiN 73/2015: 49 Markus Ising (Tübingen)
Der Ausdruck von EXISTENZ und LOKALISIERUNG in Marco Polos MilioneIm Gedenken an Peter Koch (1951–2014) In Latin, the conceptual categories of EXISTENCE and LOCATION were expressed by one and the same construction based on simple esse (e.g. Multi miseri sunt 'There are many unhappy people'; Liber in mensa est 'The book is on the table'). Modern Romance languages, on the other hand, have developed a constructional split, maintaining simple esse descendants only for the expression of THEMATIC LOCATION (e.g. Italian Il libro è sul tavolo 'The book is on the table'). EXISTENCE and RHEMATIC LOCATION, however, are expressed by either esse- or habere-based innovations (e.g. Italian C'è molta gente infelice / French Il y a beaucoup de gens malheureux 'There are many unhappy people'). The article sheds light on this constructional change by analysing the language of Marco Polo's Milione, an example of 14th century Old Italian. In this text, we find Latin-like essere-based constructions as well as innovative avere-based constructions, showing that the language of Milione still represents a transition type between Latin and modern Romance. Second, avere-based constructions are in the majority, which contrasts sharply with their subsequent disappearance and the generalization of the innovative esserci construction later on in Modern Italian. This proves that the long-term constructional split from Latin to Romance must not be conceived as a linear development, but as a result of strong competition between innovative constructions. 0 EinleitungDer Beitrag untersucht, wie Existenz und Lokalisierungsaussagen in Marco Polos Reisebericht Milione ausgedrückt werden und welche Rückschlüsse sich aus diesen Evidenzen für die Entwicklung von Existenz- und Lokalisierungskonstruktionen in der lateinisch-italienischen Diachronie ableiten lassen. In Kapitel 1 werden die hierzu nötigen Konzeptbereiche und Analyseparameter eingeführt und die Hypothesen aufgestellt, die anhand des Milione zu überprüfen sind. In Abschnitt 1.1 werden wir zunächst sehen, dass EXISTENZ und LOKALISIERUNG zusammen mit den Konzeptbereichen der ZUSCHREIBUNG und der POSSESSION die Eigenschaft haben, dass sie übereinzelsprachlich in auffälliger Regelmäßigkeit entweder auf der Grundlage des jeweiligen sein-Lexems oder auf der Grundlage des jeweiligen haben-Lexems versprachlicht werden. Durch die Unterscheidung mehrerer Varianten dieser vier Konzeptbereiche werde ich eine terminologische Grundlage für die folgenden Hypothesen legen. |
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In den Abschnitten 1.2 und 1.3 wird dann eine auf 1.1 aufbauende Typologie von Ausdrucksmustern der Konzeptbereiche EXISTENZ und LOKALISIERUNG vorgestellt. Diese Typologie bildet nicht nur den synchronen Ist-Zustand für die divergierenden Einzelsprachen ab, sondern ist die Grundlage für drei Hypothesen zur Entwicklung vom lateinischen Typus zu zwei heutigen romanischen Untertypen (s.u. 1.3.1/1.3.2). Kapitel 2 fasst zusammen, inwiefern die Analyse des Milione für die dargestellte Theoriebildung und die resultierenden Hypothesen nützlich ist. In Kapitel 3 werden das Corpus und Details der Datenerhebung präsentiert; vor allem aber diskutiere ich die alles andere als triviale Klassifizierung bestimmter Treffer als Existenz- oder aber als Lokalisierungsaussage. Kapitel 4 schließlich fasst die qualitativen und quantitativen Ergebnisse im Hinblick auf die Fragestellung zusammen. 1 Theoretische Grundlagen1.1 POSSESSION, ZUSCHREIBUNG, LOKALISIERUNG und EXISTENZBetrachten wir den Ausdruck von EXISTENZ und LOKALISIERUNG im Sprachvergleich, so fällt zunächst einmal auf, dass sehr viele Sprachen hierzu Konstruktionen verwenden, die auf den jeweiligen Lexemen für haben und sein basieren (vgl. (1)–(6)). Dies sind Lexeme, die typischerweise auch zum Ausdruck von POSSESSION ((7)–(9)) und von ZUSCHREIBUNGEN ((10)–(12)) verwendet werden.
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Es lassen sich daher in einem ersten Schritt diese vier konzeptuellen Bereiche zusammenfassen, die eine gemeinsame Affinität zu haben- und sein-basiertem Ausdruck haben. Schema 1: POSSESSION, ZUSCHREIBUNG, LOKALISIERUNG und EXISTENZ als die mit haben- und sein-Konstruktionen ausgedrückten Konzeptbereiche 1.1.1 Der Faktor InformationsstrukturMan erfasst jedoch nicht alle Ausdrücke für diese vier Konzeptbereiche, wenn man sich auf das Vierfelderschema beschränkt. Hierzu ist vielmehr eine Kreuzung der Konzeptbereiche mit zwei Faktoren vonnöten, die erstmals in Koch (1993) vorgenommen wurde. Ein erster Faktor ist der informationsstrukturelle Status des BUCHES, der UNGLÜCKLICHEN MENSCHEN bzw. von MAX in den oben genannten Beispielen: stellt dieser Aktant das Thema oder das Rhema der Aussage dar? Je nach Einzelsprache führt dieser informationsstrukturelle Faktor zu einem unterschiedlichen Ausdruck des betreffenden Konzeptbereichs, wie die folgenden Varianten der Beispiele (1) bis (9) verdeutlichen.1
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Je nach Informationsstruktur variiert die Wahl der Lokalisierungs-, Existenz- und Possessionskonstruktion erheblich: bei RHEMATISCHER LOKALISIERUNG wie in (1) bis (3) finden wir it. "esserci+Subjekt", fr. "y avoir+direktes Objekt" und engl. "there+be+Subjekt", bei THEMATISCHER LOKALISIERUNG hingegen einheitlich sein-basierte Konstruktionen ((1')–(3')).2 Ein vergleichbarer Ausdrucksunterschied besteht zwischen RHEMATISCHER und THEMATISCHER EXISTENZ, da hier im Falle der oben betrachteten Sprachen die identischen haben- und sein-Konstruktionen "esserci+Subjekt", fr. "y avoir+direktes Objekt" und engl. "there+be+Subjekt" ((4)–(6)) mit der Verwendung eines separaten Lexems (esistere/exister/to exist) in (4') bis (6') kontrastieren. Im Falle RHEMATISCHER bzw. THEMATISCHER POSSESSION unterscheiden diese Sprachen schließlich zwischen der einheitlichen Versprachlichung durch die einfache haben-Konstruktion ((7)–(9)) und der Verwendung eines weiteren separaten Lexems (appartenere/appartenir/to belong; (7')–(9')). Das Vierfelderschema ist somit um informationsstrukturelle Unterbereiche zu erweitern (Schema 2). Schema 2: POSSESSION, ZUSCHREIBUNG, LOKALISIERUNG und EXISTENZ, gekreuzt mit dem Faktor Informationsstruktur 1.1.2 Der Faktor BegrenzungDer zweite Faktor betrifft die Frage, ob die jeweilige Aussage universelle Gültigkeit beansprucht oder ob sie nur innerhalb bestimmter räumlicher und/oder zeitlicher Grenzen gilt. Im Falle von Lokalisierungsaussagen trifft stets letzteres zu, ist es doch gerade der Sinn einer Lokalisierung, eine räumliche Begrenzung in Form einer Ortsangabe wie sul tavolo in (1) zu nennen. Anders sieht das bei den übrigen drei Konzeptbereichen aus. Hier können wir zwischen EINFACHER EXISTENZ / POSSESSION / ZUSCHREIBUNG (vgl. oben (4)–(12)) und BEGRENZTER EXISTENZ / POSSESSION / ZUSCHREIBUNG (vgl. die unterstrichenen Begrenzungen in (13)–(21)) unterscheiden. |
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Wie diese Beispiele zeigen, führt der Unterschied zwischen EINFACHER EXISTENZ / POSSESSION / ZUSCHREIBUNG und BEGRENZTER EXISTENZ / POSSESSION / ZUSCHREIBUNG deutlich seltener als der Faktor Informationsstruktur zu einer ausdrucksseitigen Differenzierung: die Begrenzung wird häufig einfach an ein und dieselbe Konstruktion angehängt. Er kann aber sehr wohl Gegenstand einer einzelsprachlichen Opposition werden, wie der Fall sp. ser vs. estar in (22/23) zeigt.
Die Verwendung von sp. ser und estar erschöpft sich nicht im Ausdruck von ZUSCHREIBUNG (vielmehr drückt estar auch standardmäßig THEMATISCHE LOKALISIERUNG aus, vgl. unten (29)). Doch wenn diese Lexemopposition zum Ausdruck von ZUSCHREIBUNG verwendet wird, so handelt es sich um eine im spanischen Sprachsystem angelegte Opposition zwischen zeitlich einfacher und zeitlich begrenzter Zuschreibung: eine zeitlich unbegrenzte Zuschreibung führt zum Gebrauch von ser, eine zeitlich begrenzte Zuschreibung führt zum Gebrauch von estar. Insgesamt ist das Vierfelderschema also auch im Hinblick auf den Faktor Begrenzung zu erweitern, vgl. Schema 3. Schema 3: POSSESSION, ZUSCHREIBUNG, LOKALISIERUNG und EXISTENZ, gekreuzt mit dem Faktor Begrenzung |
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Ganz unabhängig von der Frage, ob der Faktor Begrenzung einzelsprachlich zu Ausdrucksunterscheidungen führt, werden insbesondere BEGRENZTE EXISTENZ und BEGRENZTE POSSESSION für Hypothesen zur Genese von Existenz- und Lokalisierungskonstruktionen von großer Bedeutung sein (vgl. 1.3.1/1.3.2). 1.1.3 Vue d'ensembleKoch (1993; 1999) hat unsere vier Konzeptbereiche erstmals systematisch mit den beiden Faktoren Informationsstruktur und Begrenzung gekreuzt, um ein onomasiologisches Analyseraster für den Sprachvergleich zu erhalten: Schema 4: Onomasiologisches Analyseraster für die Konzeptbereiche POSSESSION, ZUSCHREIBUNG, LOKALISIERUNG und EXISTENZ (Koch 1999: 281; angepasst) Die Unterteilungen (I bis X) der vier großen Konzeptbereiche illustrieren dabei die Affinitäten, die wir in den bisherigen Ausführungen feststellen konnten. Am Beispiel des Spanischen wollen wir sie kurz zusammenfassen. Der Konzeptbereich POSSESSION ist vor allem geprägt durch die gestrichelt wiedergegebene Scheidung in THEMATISCHE und RHEMATISCHE POSSESSION. In der Regel sind beide Untertypen ohne Begrenzung, vgl. (24/25). Lediglich rhematische Possession kommt jedoch auch begrenzt vor, vgl. (26). |
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Der Konzeptbereich ZUSCHREIBUNG kennt einzig die beiden Untertypen BEGRENZTER und EINFACHER ZUSCHREIBUNG (vgl. (27)/(28)), d.h. bis auf Sonderfälle (Anm. 1) wird immer einem thematischen Element etwas zugeschrieben.
Der Konzeptbereich LOKALISIERUNG wiederum ist geprägt durch die Unterscheidung in THEMATISCHE und RHEMATISCHE LOKALISIERUNG. Hier ist es der Faktor Begrenzung, der stets vorhanden ist.
Kommen wir schließlich zum Konzeptbereich der EXISTENZ, so spielt hier wie schon im Bereich ZUSCHREIBUNG der Faktor Begrenzung die wesentliche Rolle ((31)/(32)). Thematische einfache Existenz wie in (33) ist weniger relevant.
Durch die Kreuzung unserer vier Konzeptbereiche mit den beiden Faktoren Informationsstruktur und Begrenzung haben wir alle relevanten (Unter-)Konzeptbereiche definiert, um im Folgenden die unterschiedlichen Ausdrucksmuster von EXISTENZ und LOKALISIERUNG zu beschreiben (1.2) und um Hypothesen zur Entstehung der heutigen romanischen Muster aufzustellen (1.3). Da im Bereich LOKALISIERUNG stets eine Begrenzung vorhanden ist und im Bereich EXISTENZ die Thema-Rhema-Frage eine untergeordnete Rolle spielt, werde ich der Einfachheit halber nur noch von THEMATISCHER vs. RHEMATISCHER LOKALISIERUNG einerseits und von BEGRENZTER vs. EINFACHER EXISTENZ andererseits sprechen. |
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1.2 Versprachlichungsmuster von EXISTENZ und LOKALISIERUNGSchränken wir ausgehend von Kochs maximal breitem Analyseraster den Blick auf die Konzeptbereiche EXISTENZ und LOKALISIERUNG ein, so lassen sich mit Koch (2006b) drei Typen von Versprachlichungsmustern unterscheiden. Typ A trennt unabhängig von allen genannten Zusatzfaktoren schlicht Existenz- von Lokalisierungsausdrücken. Schema 5 illustriert diesen Typ am Beispiel der deutschen Opposition sein vs. es gibt. Schema 5: Der propositionale Typ A: EXISTENZ vs. LOKALISIERUNG Dieser Typ A steht zwei weiteren Typen B und C gegenüber, die für die lateinisch-romanische Diachronie ausgesprochen relevant sind (vgl. Schema 6). Das klassische Latein ist ein Vertreter des Typs B, der insofern holistisch genannt werden kann, als alle vier Konzeptbereiche mit ein und derselben Konstruktion (i.e. einfachem "esse+Subjekt") versprachlicht werden. Die Entwicklung hin zu den romanischen Sprachen geht mit einem Ausdruckswandel hin zum informationsstrukturell organisierten Typ C einher. Denn wie der untere Teil von Schema 6 illustriert, ist die ehemalige Ausdruckseinheit des Lateinischen aufgespaltet worden. Der thematische Konzeptbereich (THEMATISCHE LOKALISIERUNG) wird als einziger weiterhin durch die jeweilige Form von sein + Subjekt (bzw. durch "estar+Subjekt" in der Iberoromania) ausgedrückt ((29), (34), (38)). Alle rhematischen Konzeptbereiche (RHEMATISCHE LOKALISIERUNG, BEGRENZTE EXISTENZ, EINFACHE EXISTENZ) weisen hingegen einen neuen Ausdruck auf: fr. y avoir (Schema 6), sp. haber ((30), (31), (32)), it. esserci (i.e. mit konventionalisiertem Deiktikum: (35), (36), (37)), bras.pg. ter ((39), (40), (41)). Schema 6: Vom holistischen Typ B (THEMATISCHE LOKALISIERUNG = RHEMATISCHE LOKALISIERUNG = BEGRENZTE EXISTENZ = EINFACHE EXISTENZ) zum informationsstrukturellen Typ C (THEMATISCHE LOKALISIERUNG vs. REST) |
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1.3 Untertypen von Typ C: location languages vs. possession languagesDie romanischen Sprachen lassen sich alle gleichermaßen dem Typ C zuordnen, doch sie unterscheiden sich in der konkreten Ausgestaltung dieses C-Profils. Das Französische, das Spanische und das brasilianische Portugiesisch haben ihren neuen Ausdruck der rhematischen Konzeptbereiche auf der Grundlage ihres haben-Lexems gebildet, das Italienische hingegen auf der Grundlage seines sein-Lexems. Dieser Unterschied wirft die Frage der Entstehung dieser Ausdrücke für RHEMATISCHE LOKALISIERUNG, BEGRENZTE EXISTENZ und EINFACHE EXISTENZ auf: welche kognitiven Pfade kann man der Verwendung von it. esserci einerseits und von fr. y avoir, sp. haber, bras.pg. ter andererseits zugrunde legen? 1.3.1 Location languagesIm Falle der sein-basierten Innovation ist die Entstehungshypothese recht eingängig. Angesichts der Tatsache, dass it. esserci ganz offensichtlich durch eine Konventionalisierung von essere+Deiktikum entstanden ist, dürften die Ursprünge der Konstruktion in einer anaphorischen Referenzsituation wie (42) liegen, wo das Deiktikum ci notwendig ist, um den Rückbezug auf einen zuvor eingeführten Ort (hier: die SCHUBLADE) sicherzustellen.
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Nun besteht zwischen RHEMATISCHER LOKALISIERUNG und BEGRENZTER EXISTENZ eine sehr starke Kontiguität, die Koch (2012: 576) folgendermaßen beschreibt: "If a given entity exists in a particular local area, it must be located there; and if a given entity is located in a particular local area, it also exists there.” Dementsprechend wahrscheinlich ist es, dass ein Ausdrucksmittel wie esserci mit seinem anfangs noch anaphorischen Deiktikum ci auch auf die Begrenzung einer Existenzaussage rückverweisen kann. Wie (43) zeigt, kann diese Kontiguitätsbrücke zu einer alles andere als trivialen Ambiguität führen (vgl. auch Koch 2012: 576f.).
Einerseits kann der Sprecher mit (43) kommunizieren, dass sich viel Bier im Kühlschrank befindet und daher z.B. nichts Weiteres mehr hineinpasst. Andererseits kann auch die Existenz von viel Bier im Kühlschrank im Vordergrund stehen, z.B. wenn die Gastgeberin ihre trinkfreudigen Gäste mit dem Verweis auf ausreichenden Vorrat beruhigen will. Sobald schließlich das ci in der werdenden Konstruktion nicht mehr zwingend anaphorisch auf einen begrenzenden Rahmen verweist, ist auch EINFACHE EXISTENZ problemlos mit esserci zu versprachlichen. Der Unterschied zwischen BEGRENZTER und EINFACHER EXISTENZ wird in diesem Stadium, das dem heutigen Italienisch entspricht, allein durch die Anwesenheit oder Abwesenheit einer expliziten Ortsangabe im Satz (z.B. in Africa in (36) vs. Ø in (37)) ausgedrückt. Die Hypothese, die bereits Koch (1999: 294) aufgestellt hat, ist somit, dass sein-basierte Ausdrücke RHEMATISCHER LOKALISIERUNG bzw. EXISTENZ (it. esserci, aber auch z.B. engl. there+be) ihren Ausgang im Ausdruck für THEMATISCHE LOKALISIERUNG nehmen (it. essere / engl. to be) und dann in Kombination mit einem ursprünglich anaphorischen, dann semantisch "leeren" Deiktikum (it. ci bzw. engl. there) entsprechend Schema 7 in die rhematischen Konzeptbereiche einsickern. Weil der Quellkonzeptbereich der innovativen Konstruktion (z.B. it. "esserci+Subjekt") bei der THEMATISCHEN LOKALISIERUNG zu suchen ist, nennt Koch (2012: 579) Einzelsprachen dieses Untertyps von Typ C location languages. Schema 7: Top-down-Hypothese zur Entwicklung von rhematischen Konstruktionen in location languages |
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1.3.2 Possession languagesAnders verhält es sich im Falle jener Innovationen des Typs C, die auf dem jeweiligen haben-Lexem basieren (fr. y avoir, sp. haber, bras.pg. ter). Als Quellkonzeptbereich kommt hier POSSESSION ins Spiel, und zwar BEGRENZTE POSSESSION (44).
Den konzeptuellen Inhalt von (44) kann man als BESITZ-Frame modellieren: er enthält den BESITZER (den GROSSVATER), der über einen BESITZ (den WEIN) innerhalb seines VERFÜGUNGSBEREICHS (seines KELLERS) verfügt. Innerhalb eines solchen Frames können einzelne Konzepte in den Vordergrund oder in den Hintergrund treten.3 Wenn nun das Konzept des Besitzers in den Hintergrund tritt, so bleibt – einer ersten möglichen Hypothese zufolge – eine rudimentäre Existenzaussage, die zur Besitzaussage (44) in Kontiguität steht.4 Analog zu Kochs Kontiguitätspostulat für die EXISTENZ-LOKALISIERUNGS-Relation (vgl. 1.3.1) könnte man sagen: Damit ein Besitzer innerhalb seines Verfügungsbereichs über seinen Besitz verfügen kann, muss der besessene Gegenstand überhaupt erstmal in jenem Raum, über den der Besitzer verfügt, existieren. Dementsprechend zweideutig kann die Aussage (44) sein, wenn wie in (45) das Subjekt implizit bleibt. Doch auch in Sprachen mit obligatorischem explizitem Subjekt ist die genannte BESITZ-EXISTENZ-Kontiguität stark genug, um immer wieder zu unpersönlichen Existenzkonstruktionen auf der Grundlage ihres haben-Lexems zu führen (vgl. den Ausdruck BEGRENZTER EXISTENZ durch fr. il y a in Schema 6 oder auch die vermutlich polygenetisch entstandene Existenzkonstruktion südwestdeutscher Dialekte in (46)).
Ausgehend vom Ausdruck BEGRENZTER EXISTENZ verbreiten sich diese haben-Konstruktionen wiederum in den Bereich EINFACHER EXISTENZ sowie – dank der in 1.3.1 beschriebenen Kontiguitätsbrücke – oft auch in den Bereich RHEMATISCHER LOKALISIERUNG (vgl. aber unten (47)). Dem konzeptuellen Ursprung ihrer haben-Konstruktionen entsprechend lassen sich die betreffenden Einzelsprachen als possession languages bezeichnen. Eine schematische Zusammenfassung der dargestellten Entstehungshypothese bietet Schema 8. Schema 8: Hypothese I zur Entwicklung von rhematischen Konstruktionen in possession languages |
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Es kann allerdings noch eine zweite Entstehungshypothese im Bereich der possession languages aufgestellt werden. Angesichts der in 1.3.1 beschriebenen starken Kontiguität zwischen RHEMATISCHER LOKALISIERUNG und BEGRENZTER EXISTENZ einerseits und der soeben geschilderten BESITZ-EXISTENZ-Kontiguität andererseits entsteht de facto auch eine Kontiguität zwischen BEGRENZTER POSSESSION und RHEMATISCHER LOKALISIERUNG: wenn der Besitzer innerhalb eines bestimmten Rahmens über einen Gegenstand verfügt, dann ist der Gegenstand typischerweise auch in diesem Rahmen lokalisiert. Daher spricht a priori nichts gegen die alternative Annahme, dass z.B. die Sprecher des brasilianischen Portugiesisch mit der ter-Konstruktion nicht über die BEGRENZTE EXISTENZ in den rhematischen Bereich von Schema 8 einstiegen, sondern über die RHEMATISCHE LOKALISIERUNG. Von dort aus wäre dann über die bekannte Kontiguitätsbrücke ein Einsickern des unpersönlichen tem in den Bereich BEGRENZTE EXISTENZ und schließlich EINFACHER EXISTENZ denkbar, vgl. Schema 9. Schema 9: Hypothese II zur Entwicklung von rhematischen Konstruktionen in possession languages Eine synchrone Evidenz spricht für die Hypothese I: die unpersönliche haben-Konstruktion (46) in südwestdeutschen Varietäten scheint nur zum Ausdruck von EXISTENZ gebraucht zu werden. Eine Verwendung der Form für RHEMATISCHE LOKALISIERUNG wie in (47) erscheint mir unüblich.
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Diese Beschränkung spricht dafür, dass die Übernahme der haben-Konstruktion aus dem Bereich der BEGRENZTEN POSSESSION im Falle des Südwestdeutschen zunächst entsprechend Schema 8 verlaufen ist. Die Konstruktion ist dann jedoch im Konzeptbereich der EXISTENZ stecken geblieben und hat sich nicht in den Bereich RHEMATISCHER LOKALISIERUNG ausgedehnt. Angesichts der grundsätzlich vergleichbaren Plausibilität der beiden Hypothesen wäre es jedoch übereilt, für alle possession languages eine dem Südwestdeutschen analoge Entwicklung anzunehmen. Vielmehr wäre zur eindeutigen Klärung für jede possession language zunächst synchron zu überprüfen, ob alle rhematischen Konzeptbereiche der Schemata 8/9 mit der haben-Konstruktion ausgedrückt werden können. Wenn dies zutrifft, wäre zudem ein quantitativer Blick in die einzelsprachliche Diachronie zu werfen: es steht zu erwarten, dass derjenige Konzeptbereich, in den die haben-Konstruktion aus dem possessiven Bereich heraus als erstes übernommen wird, die frühesten und häufigsten haben-Belege aufweist. 2 FragestellungDie in 1 dargestellten Beschreibungstypologien und Schemata sind im Zuge von überwiegend synchron-sprachvergleichenden Ansätzen entstanden. Diachrone Überlegungen z.B. zum Ausdruckswandel Typ B > Typ C in der lateinisch-romanischen Diachronie (vgl. Schema 6) erschöpften sich bisher im Vergleich des lateinischen Startpunkts (Typ B) mit dem romanischen Ergebnis (Typ C). Die Bestimmung der Typ-C-Untertypen (1.3) war beschränkt auf die etymologische Interpretation der heutigen standardsprachlichen Existenz- und Lokalisierungskonstruktionen (s.o. die Rückschlüsse von der Zusammensetzung des heutigen it. essere+ci auf den vermutlich genommenen konzeptuellen Pfad). Ein Beispiel für die Grenzen dieser rein rekonstruktiven Rückschau liefert der folgende Ausdrucksvergleich:
Diese Aussage fasst den völlig unstrittigen Unterschied zwischen der heutigen location language Italienisch und der heutigen possession language Brasilianisch-Portugiesisch zusammen und führt ihn auf plausible unterschiedliche Quellkonzeptbereiche zurück. Darüber hinaus lässt sich ohne diachrone Empirie jedoch nichts sagen: wir wissen nicht, wie und wann genau sich die Ausdifferenzierung vollzogen hat, ob und in welchem Maße es im Italienischen zu einer bestimmten Zeit auch Ansätze zur Ausbildung einer possession language gegeben hat oder ob umgekehrt im brasilianischen Portugiesisch Tendenzen Richtung location language zu beobachten waren. Mit der folgenden Corpusanalyse zum Ausdruck von EXISTENZ und LOKALISIERUNG in Marco Polos Milione möchte ich fürs Italienische genau diese Fragen überprüfen und ggf. das Bild einer allzu einheitlich-teleologischen Entwicklung vom lateinischen Typ B zur heutigen italienischen location language relativieren. |
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Da sich im Altitalienischen Marco Polos tatsächlich auch Konstruktionen auf der Grundlage von avere finden, werde ich zudem quantitativ untersuchen, ob diese avere-basierten Formen häufiger zum Ausdruck von RHEMATISCHER LOKALISIERUNG oder von BEGRENZTER EXISTENZ und Verwendung finden. Auf diese Weise lässt sich eine Aussage darüber treffen, ob der konzeptuelle Pfad der avere-Konstruktionen im Altitalienischen eher der Hypothese I (Schema 8) oder der Hypothese II (Schema 9) entspricht. 3 Methode3.1 Das CorpusDass zur Untersuchung von Existenz- und Lokalisierungsausdrücken im Altitalienischen die Wahl auf Marco Polos Reisebericht Milione gefallen ist, liegt ganz wesentlich in der Thematik dieser Textsorte begründet. Wie in kaum einer anderen Textsorte steht in einem Reisebericht zu erwarten, dass viele neue, für den heimischen Leser unbekannte – und damit informationsstrukturell rhematische – Gegenstände, Ereignisse oder Sachverhalte eingeführt werden. Und eine solche Einführung beginnt typischerweise mit dem Postulat der Existenz oder mit der Lokalisierung des unbekannten Referenten in dem bereisten Gebiet. Zudem ist der Milione mit je nach Handschrift deutlich über 200 Kapiteln ein ausgesprochen großes Corpus, das auch bei einer für unsere Fragestellung so wichtigen quantitativen Analyse statistisch solide Ergebnisse ermöglicht. Der immer noch vorherrschenden Forschungsmeinung zufolge stammen die Reisebeschreibungen im Milione nicht direkt aus der Feder Marco Polos. Vielmehr geht man davon aus, dass der Venezianer nach seiner Rückkehr in genuesische Kriegsgefangenschaft geriet und dort dem Schriftgelehrten Rustichello da Pisa seine Erlebnisse diktiert hat (vgl. u.a. Segre 1982). Diese italo-französische Urfassung ist verloren; es existieren jedoch zirka 150 Abschriften, die auf altfranzösischen, lateinischen, toskanischen, venezianischen und deutschen Übersetzungen basieren (Ronchi 1982). Die Textgrundlage für die folgende Untersuchung ist die Edition einer frühen toskanischen Übersetzung von Ronchi (1982). Es ist daher ganz grundlegend darauf hinzuweisen, dass hier nicht der Sprachgebrauch des historischen Marco Polo betrachtet werden kann, sondern der Ausdruck von EXISTENZ und LOKALISIERUNG im Toskanischen des 14. Jahrhunderts. 3.2 Die CorpusanalyseZur Beantwortung unserer Fragestellung wurden die avere- und essere-basierten Ausdrucksformen von RHEMATISCHER LOKALISIERUNG, BEGRENZTER EXISTENZ und EINFACHER EXISTENZ manuell erfasst. Mithilfe dieser lektürebasierten Erfassung konnte ein wesentliches Problem der Corpuslinguistik umgangen werden, das gerade bei älteren Sprachstufen besteht. Solange die untersuchte Sprache nicht kodifiziert ist, besteht in der Regel eine ausgeprägte Varianz in der Schreibweise ein und derselben grammatischen Form. Im Milione beispielsweise finden sich für die grammatische Form "3. Person Singular von avere bzw. essere" variierende Schreibweisen des Verballexems selbst (fuè/fue, à/àe, avea/ave'), des Verballexems in Verbindung mit Pronomen, Deiktika und Partikeln (nonn-è, v'ha/v'à/v'àe, quiv'àe, vi n'à/ve n'à, non-à/nonn-à) sowie insbesondere Schreibvarianten durch typisch altromanische Nachstellungen des klitischen Elementes am Satzanfang (èvi, fuvi, àvi, ànne, àvine, àcci); hierzu kommen entsprechende weitere Formen für den Plural. |
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Angesichts einer solch ausgeprägten Allographie würde eine elektronische Recherche in einem nicht-annotierten Milione-Corpus (z.B. über die Biblioteca Italiana) keinerlei Zeitgewinn bedeuten. Denn in einem ersten Schritt müsste man ohnehin erst mittels klassischer Lektüre des Textes ein Inventar von Schreibvarianten der 3. Person von avere bzw. essere erstellen, um diese in einem zweiten Schritt in die Suchmaske eingeben zu können. Und selbst in Zeiten komplett annotierter Corpora (die mir für den Milione nicht bekannt sind) ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass bei einer elektronischen Suchabfrage des Typs "3. Person Singular und Plural von avere und essere, alle Tempora und Modi" nicht alle oben genannten Schreib- und Stellungsvarianten als Treffer angezeigt werden5. Berücksichtigt man zudem die Tatsache, dass zur semantischen Klassifizierung der Belege zwingend der jeweilige Kotext einbezogen werden muss (vgl. genauer unten 3.3), so erscheint die Trefferrecherche mittels Textlektüre in unserem Fall klar als die sinnvollste Vorgehensweise. Diese manuelle Erfassung führte angesichts der ausgesprochen hohe Frequenz von Existenz- und Lokalisierungsaussagen in Marco Polos Milione zur Notwendigkeit, die absolute Datenmenge zu begrenzen. Der vorliegenden Untersuchung liegt daher nur ein Teil des Gesamttextes zugrunde, genauer die Kapitel 1 bis 140 der toskanischen Fassung des Milione. Damit sind zwei Drittel der Kapitel bzw. 62 Prozent des Gesamttextes abgedeckt. 3.3 Parameter zur semantischen Klassifikation der BelegeSind die relevanten Ausdrücke erhoben, so stellt sich für jeden Beleg die Frage, ob es sich um einen Ausdruck RHEMATISCHER LOKALISIERUNG, BEGRENZTER EXISTENZ oder EINFACHER EXISTENZ handelt. Die Identifikation EINFACHER EXISTENZ ist vergleichsweise unproblematisch, da hierzu lediglich das Fehlen einer begrenzenden Ortsangabe (s.o. in Africa) sowie jeglicher impliziter Begrenzung festgestellt werden muss6. Problematischer ist die Unterscheidung zwischen RHEMATISCHER LOKALISIERUNG und BEGRENZTER EXISTENZ, da beide konzeptuellen Kategorien in Typ-C-Sprachen per definitionem identisch ausgedrückt werden. Schon Beispiel (43) hat uns vor Augen geführt, dass dieser Synkretismus (Koch 2012: 575f. spricht hier auch von constructional polysemy) spätestens bei der Übersetzung in eine Typ-A-Sprache die bisweilen schwierige Entscheidung erfordert, welche der beiden grammatischen Bedeutungen der Sprecher bzw. Schreiber kommunizieren wollte. Schema 10 illustriert dieses Interpretationsproblem am Beispiel von fr. il y a, das im Deutschen entweder mit es gibt als Existenzaussage wiedergegeben werden kann, oder aber als Lokalisierungsaussage mit sein (bzw. alternativen Positionsverben wie liegen, stehen, sich befinden). Schema 10: Expliziter vs. synkretistischer Ausdruck von RHEMATISCHER LOKALISIERUNG und BEGRENZTER EXISTENZ |
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Möchte man den Ausdruck von RHEMATISCHER LOKALISIERUNG und BEGRENZTER EXISTENZ in einer Typ-C-Sprache wie dem Italienischen quantitativ erfassen und die Belege nicht rein intuitiv einem der beiden Konzeptbereiche zuordnen, so bedarf es eindeutiger Klassifikationskriterien. Auf der Grundlage der distinkten Versprachlichung von RHEMATISCHER LOKALISIERUNG und BEGRENZTER EXISTENZ im Deutschen schlage ich die folgenden, im weitesten Sinne semantischen Parameter als Klassifikationskriterien vor. 3.3.1 Parameter A: BEGRENZTE EXISTENZ aufgrund eines "sensationellen" ReferentenGerade Texte wie der Milione, die von Reisen in ferne Länder berichten, entwickeln ihre Anziehungskraft durch das Erzählen des Unbekannten, das vor dem Hintergrund der heimischen Alltagswelt bisweilen sensationell anmutet. Dementsprechend häufig werden auch bei Marco Polo Referenten eingeführt, deren sensationelle Eigenschaften ausführlich beschrieben werden (vgl. die unterstrichenen Passagen in (48) und (49)).
Wie in den beiden Übersetzungen angegeben, ist hier theoretisch eine Interpretation von è bzw. v'à als Ausdruck RHEMATISCHER LOKALISIERUNG (entsprechend dt. 'sich befinden') möglich. Im Falle von solchen Referenten ist es jedoch bezeichnend, dass ihre "sensationellen" Eigenschaften ungleich ausführlicher beschrieben werden als ihre Verortung. Daher ist es plausibler, dass ihre schiere Existenz in der entsprechenden Gegend bzw. Stadt kommuniziert werden soll (im Sinne der deutschen Verstärkung dort gibt es doch tatsächlich…). Ich habe daher Belegstellen dieser Art als Ausdruck BEGRENZTER EXISTENZ gewertet. |
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3.3.2 Parameter B: BEGRENZTE EXISTENZ, wenn der Referent charakteristisch für den Ort istDer zweite Parameter stützt sich nicht allein auf Eigenschaften des rhematischen Referenten, sondern auf sein Verhältnis zu seiner räumlichen und/oder zeitlichen Begrenzung. Wie das Beispielpaar (50)/(51) zeigt, stellt sich diese Frage insbesondere in Fällen, in denen die raum-zeitliche Begrenzung einen Rahmen bildet, in dem der rhematische Referent enthalten ist.
In beiden Fällen stellt AFRIKA den begrenzenden Frame für die LÖWEN bzw. die UN-BLAUHELME dar. Nun haben Löwen die Besonderheit, dass sie typischerweise mit Afrika assoziiert werden und auch faktisch nur in Afrika vorkommen. Diese charakteristische Eigenschaft einer Referentenklasse wie LÖWE für seine Begrenzung (AFRIKA) scheint mir eine wesentliche Bedingung für die Verbindung beider in Form einer Existenzaussage zu sein. Eine Lokalisierung verbindet beide nicht in vergleichbarer Weise, was sowohl durch die unnatürlich klingende Alternative (??In Afrika befinden sich viele Löwen) als auch durch den Vergleich mit (51) deutlich wird. BLAUHELME sind nicht vergleichbar charakteristisch für AFRIKA, sondern befinden in der Regel nur vorübergehend (z.B. im Rahmen einer Krise) in diesem Frame, was die gestrichelten Pfeile symbolisieren sollen. Dementsprechend erscheint die Verbindung beider in Form einer Lokalisierung (In Afrika befinden sich viele UN-Blauhelme) deutlich natürlicher. Die Alternative ?In Afrika gibt es viele UN-Blauhelme ist bezeichnenderweise nur dann akzeptabel, wenn man dazu neigt, die eigentlich temporäre Präsenz der Referentenklasse im Frame als de facto dauerhafte und damit doch charakteristische Präsenz aufzufassen (z.B. wenn man Afrika als dauerhaft krisengeschüttelten Kontinent wahrnimmt, auf dem ein Blauhelm-Einsatz auf den anderen folgt). Im Milione sind Charakterisierungen von räumlichen Frames (insbesondere von PROVINZEN und STÄDTEN) durch Referenten(klassen) ausgesprochen häufig anzutreffen. Fälle wie (52) stellen geradezu ein konstantes Muster im Erzählstil Marco Polos dar: durchreiste Provinzen werden z.B. im Hinblick auf die sie charakterisierenden Siedlungen (à molte cittadi e castella) oder auch ihre Flora (lo buono pasco che v'è) beschrieben, Städte u.a. durch charakteristische Rohstoffvorkommen, die häufig ihre Handelsbeziehungen prägen (ov'è la più bella bambagia del mondo e la migliore). Aufgrund dieses chararkterisierenden Referenten-Frame-Bezuges habe ich all diese Fälle analog zu (50) als Ausdruck BEGRENZTER EXISTENZ gewertet. |
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Wie oben bereits angedeutet, ist der potenziell charakterisierende Referenten-Frame-Bezug dann ein für die Klassifizierung relevanter Parameter, wenn der rhematische Referent in seiner raum-zeitlichen Begrenzung enthalten ist. Mit Peirsman/Geeraerts (2006) kann man in diesen Fällen ((50)–(52)) von einer containment-Relation sprechen. Steht der rhematische Referent hingegen zu seiner Begrenzung in räumlicher Nähe oder in räumlichem Kontakt, so kann er sie nicht vergleichbar charakterisieren. Die Folge ist, dass solche adjacency- und contact-Bezüge im Deutschen typischerweise in Form einer Lokalisierung wiedergegeben werden und die Alternative einer Existenzaussage weniger natürlich bis unmöglich erscheint, vgl. (53)–(55). Ich habe vergleichbare Belege des Milione daher als Ausdruck RHEMATISCHER LOKALISIERUNG gewertet.
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3.3.3 Parameter C: BEGRENZTE EXISTENZ bei geringem ZoomingNeben Eigenschaften des rhematischen Referenten selbst (Parameter A) und dem Verhältnis des rhematischen Referenten zu seiner räumlichen und/oder zeitlichen Begrenzung (Parameter B) spielt schließlich auch die Art und Weise dieser Begrenzung selbst eine Rolle für die Klassifizierung als RHEMATISCHE LOKALISIERUNG oder aber als BEGRENZTE EXISTENZ. Man vergleiche hierzu das schon bekannte Beispiel (50) mit der Variante (56), bei der einzig durch die Wahl einer anderen räumlichen Begrenzung das Sprachempfinden kippt und eine Lokalisierungsaussage mindestens deutlich natürlicher erscheint als eine Existenzaussage, wenn sie nicht sogar die einzig akzeptable Aussage ist.
Der semantische Unterschied, der zu diesem Kippeffekt führt, lässt sich am bildlichsten mit unterschiedlichem Zoom erklären: die Begrenzung KÄFIG ist um ein Vielfaches "enger" als die Begrenzung AFRIKA; wir haben in (56) einen viel größeren Zoom als in (50). Dieser Zoom hat eine sehr große Spannweite. Er fängt an bei Nullzooming, das man entweder als Abwesenheit jeglicher Begrenzung auffassen kann oder als Begrenzung durch die WELT schlechthin (vgl. ähnlich Koch 1999: 295). Mithilfe von Nullzooming lässt sich EINFACHE EXISTENZ wie in (57) als Extremfall BEGRENZTER EXISTENZ modellieren.
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Von Nullzooming ausgehend lässt sich ein Kontinuum von Begrenzungen annehmen, die sich bei den bisher betrachteten Beispielen von Kontinenten (AFRIKA) über Länder, Provinzen (GRANDE ARMENIE, (52)), Städte (ARZINGA, (52)) und Landschaftsausschnitte (DISCESA DELLA MONTAGNA, (52)) bis hin zu kleinen Räumen (KÄFIG, (56)) und Objekten (TISCH, (55); SCHUBLADE, (42)) immer enger zusammenziehen. Und in der Regel konnte mit diesem zunehmenden Zooming bis hinunter auf Objektebene eine immer stärkere Tendenz zu RHEMATISCHER LOKALISIERUNG in Verbindung gebracht werden. AFRIKA stellt seit Schema 5 die geradezu prototypische Begrenzung einer Existenzaussage dar und begrenzt nur in Verbindung mit besonders uncharakteristischen Referenten wie in (51) eine Lokalisierung. Für Provinzen und Städte wie in (52) oder (49) gilt dies auch noch mehrheitlich, wobei hier die Interpretation als BEGRENZTE EXISTENZ schon deutlich durch den Parameter A oder B unterstützt werden muss. Bei begrenzenden Landschaftsausschnitten wie in (53) und (54) war die Ambiguität zwischen RHEMATISCHER LOKALISIERUNG und BEGRENZTER EXISTENZ schon ausgeprägter, und im Falle von (55), (56) und (42) ist RHEMATISCHE LOKALISIERUNG de facto die einzige Möglichkeit: Sätze wie *Auf dem Tisch gibt es ein Buch, *In Käfig 2 gibt es viele Löwen oder *In der Schublade gab es einzig ein sehr schönes Foto seiner Frau entsprechen typischen Fehlern von Typ-C-Sprechern, die mangels Unterscheidung in ihrer Muttersprache in der Typ-A-Zielsprache Deutsch die falsche Konstruktion wählen (vgl. Koch 1993: 177; 2012: 534). Die klaren Affinitäten zwischen geringem Zooming und (EINFACHER wie BEGRENZTER) EXISTENZ einerseits sowie starkem Zooming und RHEMATISCHER LOKALISIERUNG andererseits lassen sich in Anlehnung an das Nähe-Distanz-Kontinuum von Koch/Oesterreicher (1990) mit den Schemata 11–13 illustrieren. Schema 11: Nullzooming: EINFACHE EXISTENZ in (57) Auf der Horizontalen des Schemas können alle o.g. Begrenzungen verortet werden; die beiden Dreiecke stehen für die konkurrierenden Konzeptbereiche. Im Falle von Beispiel (57) befinden wir uns ganz in der rechten Ecke: aufgrund der fehlenden raum-zeitlichen Begrenzung liegt Nullzooming vor, was mit dem notwendig begrenzten Charakter jeder LOKALISIERUNG nicht vereinbar ist. Als Extremfall BEGRENZTER EXISTENZ (vgl. die rote Markierung) wird hier EINFACHE EXISTENZ ausgedrückt. |
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Die Begrenzung durch den Kontinent AFRIKA in (50) führt hingegen dazu, dass die beiden Ausdrucksoptionen auf der horizontalen Achse von Schema 12 etwas weiter links positioniert sind. Die Höhe des unteren Dreiecks ist an dieser Position weiterhin deutlich größer als jene des oberen Dreiecks (vgl. die rote vs. graue Markierung). Dementsprechend präferiert ist der Konzeptbereich der BEGRENZTEN EXISTENZ. Schema 12: Geringes Zooming: klare Präferenz für BEGRENZTE EXISTENZ in (50) Schema 13 schließlich illustriert die gegenteilige Präferenz im Falle von (56): die Begrenzung durch den vergleichsweise kleinen Raum des KÄFIGS führt zu einer Positionierung im linken Teil des Schemas, in dem die Dreiecke genau die umgekehrten Höhen aufweisen. Die Beispiele (55) und (42) mit ihrem extremen Zooming befinden sich im Vergleich zu (56) nochmals näher am linken Pol, während alle anderen o.g. Beispiele im Bereich zwischen (50) und (56) anzuordnen wären. Schema 13: Starkes Zooming: klare Präferenz für RHEMATISCHE LOKALISIERUNG in (56) |
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4 ErgebnisseBei der Diskussion der Klassifikationsparameter in 3.3 haben die altitalienischen Beispiele bereits gezeigt, dass der Ausdruck von EXISTENZ und LOKALISIERUNG bei Marco Polo sehr variantenreich ist. Abstrahieren wir von den Allographien, so finden wir für die Konzeptbereiche RHEMATISCHE LOKALISIERUNG, BEGRENZTE EXISTENZ und EINFACHE EXISTENZ sowohl Ausdrücke mit einfachem essere (vgl. (48), (52: ov'è la più bella bambagia), (53), (57)) und mit einfachem avere ((52: Quivi à molte cittadi e castella), (54)) als auch Kombinationen der beiden Verben mit dem Deiktikum vi (vgl. (50), (52: per lo buono pasco che v'è)). Aus Sicht des modernen Italienisch ist bemerkenswert, dass bis auf einen einzigen Beleg (siehe (58)) noch keine Kombination mit dem Deiktikum ci zu finden ist. Das heute standardsprachliche esserci findet sich in unserem Teilcorpus des Milione kein einziges Mal.
Die quantitative Verteilung der sechs systematisch erhobenen Ausdrucksoptionen essere, avere, esservi, avervi, esserci, averci stellt sich folgendermaßen dar. Schema 14: Morphosyntaktische Onomasiologie von RHEMATISCHER LOKALISIERUNG, BEGRENZTER EXISTENZ UND EINFACHER EXISTENZ in Marco Polos Milione |
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Diese detaillierte morphosyntaktische Aufstellung aller essere- und avere-basierten Ausdrücke für unsere rhematischen Konzeptbereiche könnte dazu verleiten, jede einzelne belegte Form in Schema 14 mit einer unabhängigen Existenz- bzw. Lokalisierungskonstruktion gleichzusetzen. Dies wäre jedoch nur zulässig, wenn jede der Kombinationen von Verb+Deiktikum (z.B. esservi) als Alternative zum einfachen Verb (z.B. essere) schon vollständig konventionalisiert wäre. Dies ist im Milione noch keineswegs der Fall, wie ein Blick auf die genaue Verwendung des Deiktikums zeigt. Vi steht im Milione nämlich in aller Regel nur dann, wenn es als anaphorisches Pronomen unabdingbar ist (vgl. hierzu auch Ciconte 2009 und 2011). Diese noch weitgehend "bedarfsorientierte" Setzung wird durch zwei Beobachtungen gestützt:
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Für unsere Ausdrucksanalyse der Konzeptbereiche RHEMATISCHE LOKALISIERUNG, BEGRENZTE EXISTENZ UND EINFACHE EXISTENZ heißt das, dass alle Kombinationen von essere + Deiktikum kotextabhängige Varianten ein und derselben Existenz- bzw. Lokalisierungskonstruktion sind, die ich mit "essere+Subjekt" beschreiben möchte: wenn im unmittelbaren Kotext eine explizite Begrenzung vorhanden ist, dann wird die Konstruktion am Verb mit einfachem essere realisiert, wenn nicht, dann mit esservi. Gleiches gilt für die Konstruktion "avere+direktes Objekt": bei vorhandener Ortsangabe genügt avere, bei der Notwendigkeit eines anaphorischen Rückbezugs steht avervi bzw. averci 8. Letztlich haben wir es somit mit nur zwei Konstruktionen "essere+Subjekt" sowie "avere+direktes Objekt" zu tun, die sich in unterschiedlicher Quantität über alle drei rhematischen Konzeptbereiche erstrecken (vgl. Schema 15). Schema 15: Konstruktionsgrammatische Onomasiologie von RHEMATISCHER LOKALISIERUNG, BEGRENZTER EXISTENZ UND EINFACHER EXISTENZ in Marco Polos Milione |
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Mit diesen qualitativen und quantitativen Ergebnissen lassen sich nun auch die zentralen Fragen beantworten, die sich in Abschnitt 2 in Bezug auf den Wandel vom klassisch-lateinischen Typ B hin zum modern-romanischen Typ C gestellt haben. Schema 6' stellt diesen Konstruktionswandel nochmals am Beispiel des modernen Italienisch dar. Schema 6': Vom klassisch-lateinischen Typ B zum modern-romanischen Typ C Vergleichen wir den homogen mit esserci+Subjekt ausgedrückten rhematischen Konzepbereich des heutigen Italienisch mit den heterogenen Ergebnissen des Milione in Schema 15, so lässt sich zuallererst eines feststellen: unser altitalienischer Text spiegelt einen Sprachzustand wider, der noch erstaunlich wenig mit dem modernen italienischen Typ C gemein hat. Dies lässt sich an zwei wesentlichen Punkten festmachen.
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Die hier präsentierten qualitativen und quantitativen Ergebnisse bilden die Situation im Subcorpus eines Textes ab, der in der Toskana des 14. Jahrhunderts entstand und einer für Existenz- und Lokalisierungsausdrücke besonders ergiebigen Diskurstradition angehört. Um die Komplexität der altitalienischen Realität in diesem Konzeptbereich abzubilden, wäre es daher ein Desiderat, Kochs Analyseraster auf weitere Varietäten und Diskurstraditionen anzuwenden. Dann würde sich zeigen, inwieweit die spezifischen Ergebnisse aus dem Milione auf "das" Altitalienische zu übertragen sind. Darüber hinaus stellen sich aus dem Ergebnis unserer Analyse natürlich einige diachrone Fragen: wann und wo etabliert sich "esservi+Subjekt" und v.a. dessen Variante mit esserci als veritable Konstruktion? Ist die avere-Konstruktion ein – möglicherweise diatopisches – Spezifikum, oder sind diese Ansätze zu einer possession language konstitutiv für das Altitalienische? Wann hat diese avere-Konstruktion ihren Höhepunkt – und auf welchem Wege verlässt sie unseren rhematischen Konzeptbereich zugunsten von "esserci+Subjekt" wieder? Die Antworten kennen wir noch nicht. Peter Koch hat uns die theoretischen Werkzeuge hinterlassen, um es herauszufinden. |
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5 BibliographieBlank, Andreas (1997): Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen, Tübingen. Ciconte, Francesco Maria (2009): "Pro-forms in Existential Constructions of Early Italo-Romance Vernaculars”, in: Kaiser, Georg A. / Remberger, Eva-Maria (Hgg.), Proceedings of the Workshop "Null-subjects, expletives, and locatives in Romance", Konstanz, 183–198. Ciconte, Francesco Maria (2012): "The emergence and the reanalysis of the existential proform: evidence from early Italo-Romance", in: Transactions of the Philological Society 109 (3), 284–306. Detges, Ulrich / Waltereit, Richard (2002): "Grammaticalization vs. Reanalysis. A Semantic-Pragmatic Account of Functional Change in Grammar", in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 21 (2), 151–195. Koch, Peter / Oesterreicher, Wulf (1990): Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch, Tübingen. Koch, Peter (1993): "Haben und Sein im romanisch-deutschen und im innerromanischen Sprachvergleich", in: Rovere, Giovanni / Wotjak, Gerd (Hgg.), Studien zum romanisch-deutschen Sprachvergleich, Tübingen, 177–189. Koch, Peter (1999): "Cognitive aspects of semantic change and polysemy: The semantic space HAVE/BE", in: Blank, Andreas / Koch, Peter (Hgg.), Historical Semantics and Cognition, Berlin/New York, 279–305. Koch, Peter (2001): "Metonymy. Unity in diversity", in: Journal of Historical Pragmatics 2, 201–244. Koch, Peter (2003): "From subject to object and from object to subject: (de)personalization, floating and reanalysis in presentative verbs", in: Fiorentino, Giuliana (Hg.), Romance Objects. Transitivity in Romance Languages, Berlin/New York, 153–185. Koch, Peter (2006a): "Romanische Sprachwissenschaft und diachronische kognitive Linguistik – eine Wahlverwandtschaft?", in: Dahmen, Wolfgang u.a. (Hgg.), Was kann eine vergleichende romanische Sprachwissenschaft heute (noch) leisten? Romanistisches Kolloquium XX, Tübingen, 101–136. |
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Koch, Peter (2006b): "Possession, existence et localisation: valence et typologie lexicale", in: Leth Andersen, Hanne / Birkelund, Merete / Mosegaard Hansen, Maj-Britt (Hgg.), La linguistique au cœur. Valence verbale, grammaticalisation et corpus. Mélanges offerts à Lene Schøsler à l'occasion de son 60eanniversaire, Odense, 1–27. Koch, Peter (2012): "Location, existence, and possession: A constructional-typological exploration", in: Linguistics 50, 533–603. Köder, Melanie (2014): EXISTENZ- und LOKALISIERUNGsausdrücke in älteren Sprachstufen des Französischen. Eine empirische Analyse der Konstruktion (il) (y) a bis 1200. Magisterarbeit, Tübingen. Peirsman, Yves / Geeraerts, Dirk (2006): "Metonymy as a prototypical category", in: Cognitive Linguistics 17, 269–316. Ronchi, Gabriella (Hg.) (1982): Marco Polo: Milione / Le Divisament dou Monde, Mailand. Segre, Cesare (1982): "Introduzione", in: Ronchi, Gabriella (Hg.), Marco Polo: Milione / Le Divisament dou Monde, Mailand, XI–XXIX. Taylor, John R. (21995): Linguistic Categorization. Prototypes in Linguistic Theory, Oxford. Waltereit, Richard (1998): Metonymie und Grammatik. Kontiguitätsphänomene in der französischen Satzsemantik, Tübingen. Anmerkungen1 Zuschreibungen bleiben bezüglich des Faktors Informationsstruktur außen vor, da sie sich üblicherweise an ein thematisches Subjekt richten, wenn man kontrastive Varianten wie (i) außen vor lässt: (i) dt. Nicht er ist dumm, sondern sie! 2 Ich spreche von haben- und sein-basierten Konstruktionen, wenn ausgehend von konkreten Lokalisierungs- oder Existenzaussagen (z.B. it. c'è un libro 'dort ist ein Buch'; fr. il y a beaucoup de gens malheureux 'es gibt viele unglückliche Menschen') die zugrundeliegende, abstrakte Fügung gemeint ist (z.B. it. "esserci+Subjekt"; fr. "y avoir+direktes Objekt"). 3 Zum konzeptuellen Frame als Modell kontiguitätsbasierter Weltwissensorganisation vgl. u.a. Taylor (1995); Koch (2001). Figur-Grund-Wechsel zwischen in Frames enthaltenen Konzepten wurden in der Kognitiven Linguistik als Erklärung für die verschiedensten sprachlichen Phänomene herangezogen, vgl. beispielhaft lexikalischen Bedeutungswandel (Blank 1997), Metataxe (Waltereit 1998), Reanalyse (Detges/Waltereit 2002). 4 Vgl. für diese Hypothese Koch (2006a: 124f.; 2006b: 4f.; 2012: 560f.). 5 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Recherche von Köder (2014) im annotierten Altfranzösisch-Corpus der Base de français médiéval (http://txm.bfm-corpus.org/). Bereits die automatische Generierung aller im Corpus enthaltenen Schreibvarianten der 3. Person Singular von avoir offenbarte eklatante Schwächen, fehlten in der Liste des resultierenden Suchbefehls doch Formen wie oüsse, óut, oút, ád, art, avrad, aveit Köder 2014: 20). Solche Ungenauigkeiten in der Annotation insbesondere historischer Textcorpora stellen m.E. ein ernstzunehmendes Problem für die aktuelle Corpuslinguistik dar. |
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6 Eine implizite Begrenzung liegt beispielsweise in (i) vor, wo trotz fehlender overter Orts- oder Zeitangabe klar ist, dass der günstige Wind nicht für die ganze Welt, sondern für den aktuellen Ort der Handlung postuliert wird. (i) biau tens faisoit, si ot bon vant. (Roman d'Eneas, v. 4598; zit. in Köder 2014: 31) Eine ausführliche Diskussion expliziter und impliziter Begrenzungen von Existenzaussagen findet sich in Köder (2014: 41–51 u. 60–64). 7 http://www.ilgiornaledivicenza.it/stories/2568_sandrigo/789982_mezzo_milione_di_litri_dalle_case_dellacqua/#scroll=256 (9.4.2015). 8 Die Notation der Konstruktion als "essere+Subjekt" rührt daher, dass in der Konstruktionsgrammatik die formale Seite einer Konstruktion als mehr oder weniger schematisches Muster definiert wird, das über die verbale Form i.e.S. hinausgeht und eben auch Aktanten umfasst (vgl. Koch 2012: 550ff.). Bei Existenz- und Lokalisierungskonstruktionen mit avere ist der syntaktische Status des rhematischen Referenten ein anderer (direktes Objekt), was sich mit der Entstehung dieser Konstruktionen aus dem Konzeptbereich POSSESSION erklären lässt (s.o. 1.3.2). |