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Fernando Nina (Heidelberg)
Leonie Meyer-Krentler (2013): Die Idee des Menschen in der Karibik. Mensch
und Tier in französisch- und spanischsprachigen Erzähltexten des 19.
Jahrhunderts. Berlin: Walter Frey
"Wie ist Denken möglich nach Saint-Domingue [Haiti]?"
fragt der französische Philosoph Louis Sala-Molins in seinem Buch Les Misères des Lumières : Sous la
raison, l’outrage… (1992) und verweist darauf, dass die europäische
Aufklärung nur mit dem Code Noir in der Hand zu interpretieren sei. Der Code
Noir war eine von König Louis XIV. erlassene Gesetzessammlung, welches der Sklavenhaltergesellschaft
auf den Antillen eine Rechtsgrundlage zur Verfügung stellte. Er regelte den
juristischen Status sowie Bestrafung, Unterweisung, Verkauf und Verpfändung von
Sklaven und wird von Sala-Molins als der "monströseste juristische Text
der Moderne" (Sala-Molins 1987: VIII, Übers. v. Verf.)
bezeichnet. Darin wird den schwarzen Sklaven kategorisch der Status als
Subjekte des Königs aberkannt (und ihnen somit eine unvollkommene Humanität und
ein ontologischer Mangel attestiert). Darum waren sie auch nicht Teil des 'sozialen Körpers', der sich in der
Nationalversammlung von 1789 konstituiert hatte, und ihre legale Nicht-Existenz
machte für sie die veröffentlichte Déclaration des Droits de l’Homme et du
Citoyen, deren sich die französische Aufklärung so rühmt, theoretisch nicht
anwendbar. Die grundlegende Frage, die hinter dieser monströsen historischen
Tatsache steht, ist die "Frage nach dem Menschen" (13) und die Studie
von Leonie Meyer-Krentler, die eine leicht überarbeitete Fassung ihrer
romanistischen Dissertation an der Universität Potsdam darstellt, diskutiert
diese Frage in einem erweiterten Kontext, nämlich in Bezug auf das "Verhältnis
zwischen Mensch und Tier in der Karibik" (12) im "archipelischen
Denken" (33) und in der Literatur der "Dreiheit Haiti-Guadalupe-Kuba"
(ebd.) aus einer "transkaribischen Perspektive" (13). Dass es sich
hierbei um eine methodologisch bemerkenswert eigenständige Studie handelt – obwohl
akademische Filiationen zur Potsdamer Schule eines Ottmar Ette bestehen –, die
nicht nur Fragen der Selektion der Texte umfasst, zeigt sich darin, dass auch
ein eigenständiger theoretischer Ansatz besteht, der als "Ausgangspunkt
für die Analyse […] ein dynamisches, vektoriales Raumkonzept, das den
soziokulturellen Raum nicht mehr (nur) als nationalen oder von einzelnen
Kolonialmächten definierten Raum begreift, sondern die Verbindungen und
Verknüpfungen innerhalb der Karibik [...] als Teil einer Textwelt, die durch
eine hohe dynamische Relationalität geprägt ist" (35) definiert.
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Der Untersuchungszeitraum der literarischen Erzähltexte umfasst die Jahre 1789/91–1886
und beinhaltet die Analyse von sieben zentralen Texten: Stella (1859) von Émeric Bergeaud (Haiti), Les Créoles
ou La Vie aux Antilles (1859) von Jules Levilloux (Martinique), Francisco (1838) von
Anselmo Suárez y Romero (Kuba), "La Falaise-Blanche" aus der
Erzählsammlung Titime ? Histoires de l’autre-monde
(1833) von Eugène Chapus (Guadalupe) und Louis Victor Charlier (Réunion) sowie drei
bekannte kubanische Romane: Cecilia
Valdés o La Loma del Ángel (1839/1882) von Cirilio Villaverde (Kuba), Sab (1841) von Gertrudis Gómez de
Avellaneda und Alejo Carpentiers El reino
de este mundo (1949). Im Vorfeld kann man schon die gelungene Auswahl des
Textkorpus hervorheben, da es Meyer-Krentler gelingt, ein produktives Verfahren
in ihren Analysen herzustellen, das eine
Verbindung von einerseits kanonischen, bekannten und andererseits unbekannten
Texten herstellt, die sie miteinander und aufeinander bezogen liest. Explizit
sollen "Bezüge zwischen literarischen Inszenierungen des
Mensch-Tier-Verhältnisses und gesellschaftlichen Diskursen sowie historiographischen
Debatten hergestellt werden" (24), was der Autorin im Wesentlichen gelingt. Nach
einer Einleitung, in der sie den Forschungsstand zur Mensch-Tier-Debatte in
Bezug auf die Karibik vorstellt (9–30), hätten es die sehr anspruchsvollen
Ansätze aus der philosophischen Diskussion um Adornos Unterdrückung von "Affekt
in der aufklärerischen Subjektwerdung des Menschen" aus der Dialektik der Aufklärung und Derridas "Unentscheidbarkeit
des Unterschieds von Mensch und Tier" (28) verdient noch weitergedacht zu
werden. Ergiebige Untersuchungsansätze hätten sicherlich auch Édouard Glissants
Ausführungen zur Erfahrung des "abime", als monströse Erfahrung
gegeben, die "à la fin est devenue connaissance" (Glissant 1990: 20)
und die Sklaverei als grundsätzlich deshumanisierten Zustand, der ein anderes
Imaginäres hervorgebracht hat, postuliert, sowie Franz Fanons bekannte
psychoanalytischen Thesen zur Essenzialisierung des Sexuellen beim schwarzen
Mann sowie der Frau, das ihre Entmenschlichung zum Ziel hat (vgl. Fanon 1952:
insb. Kap. 2 u. 3). Sehr gelungen sind die theoretisch-historischen
Ausführungen zu den "Transkaribischen Relationalitäten" (31–80), wobei
nicht nur das "Ungeheuerliche" (35) der Haitianischen Revolution
behandelt, sondern auch ein sehr detaillierter und auf zahlreiche Quellen
gestützter materieller Kontext beschrieben wird, der für die zu behandelnde
Thematik von hoher Relevanz ist. Die gesamte revolutionäre Epoche von Guadelupe
bis Kuba wird im Zusammenhang mit der Haitianischen Revolution, anhand von historischen Vernetzungen, präsentiert, wobei auch anekdotische
Episoden sehr explizit und instruktiv eingesetzt werden (wie etwa das
Verschwinden von Schweinen aus dem Schlachthaus in Havanna vom 7.9.1791, das
seinerzeit als eine erste bedeutende aufständische Aktion gedeutet wurde). Den
Hauptteil ihrer vergleichenden Lektüren bildet dann das dritte Kapitel (81–252),
das in zwei großen Teilkapiteln mit jeweils drei bzw. vier weiteren
Unterkapiteln zunächst die Themenkomplexe "(Prä-)Darwinismus und Rassismus"
(83–114), "Animalisierung in der Sklaverei" (115–138), "Zwischen
Tier- und Menschzuschreibungen: das gesellschaftliche Dazwischen" (139–160)
und mit dem zusammenfassenden Unterkapitel "Zusammenleben I: Mensch und
Tier im kolonialen System" (161–167) endet. Der zweite Teil dieser
Analysen behandelt die Themenkomplexe "Rebellion/Revolution" (168–200),
die "karibische Mythenbildung zum Bois-Caïman" (201–234) und endet
mit "Zusammenleben II: Mensch und Tier jenseits der kolonialen Ordnung"
(235–252).
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Die originellen Hauptthesen der Studie lassen sich insbesondere
anhand der Auseinandersetzung mit Cecilia
Valdés (Kap. 3.1.2) zusammenfassen: 1. "[I]mmer da, wo Machtpositionen im
kolonialen Gefüge in Gefahr geraten, [sind] 'rassistische' Ausfälle (im Sinne
von ethnischer Degradierung) zu beobachten [und] Menschen [werden] auf einen
Tier-Status verwiesen." (122) Um diese These zu verstehen, bearbeitet
Meyer-Krentler in allen ihren philologisch-historischen Analysen das "Aufeinanderprallen
eines eurozentrischen Menschenbildes" mit dem kolonial bedingten "konfliktreichen
Zusammenleben in der Karibik", das in das "Undenkbare der
Haitianischen Revolution, das sich in vielen Texten der Karibik spiegelt"
(256), mündet: "Die Angst vor Haiti und die Angst vor einem Aufbrechen des
etablierten Mensch-Tier-Dualismus sind letzten Endes nie ganz zu trennen."
(68) 2. "Dort, wo solche Diffamierungen stattfinden, lassen sich fragile
Punkte im kolonialen Machtsystem ausmachen." (122) Diese Momente liest
Meyer-Krentler mit hoher Genauigkeit, einem bedachten Umgang mit der
Sekundärliteratur, in teils sehr empfindsamen Lektüren heraus und kann dadurch behaupten,
das man diese Bedeutungsebene "als intime[n] Spiegel [lesen kann], in dem
sich auch und gerade das Verschwiegene, das Verdrängte, die Angst und die
Schwäche dieser gesellschaftlichen Akteure zeigt." (123) Dies kann
Meyer-Krentler beweisen, indem sie eine Verflechtung der Tierzuschreibungen in den
von ihr analysierten Erzähltexten konstatiert, die sich zwischen der ethnischen und der
sozialen Ebene sowie oft auch in einer Verschränkung dieser beiden offenbart.
Diese Fragilitätsmomente des kolonialen Machtapparates, und das ist eine Lektüre,
die von ihrer Hauptthese der "markanten Ambivalenz" (260) zwischen
Faszination und Undenkbarem des Mensch-Tier-Verhältnisses ausgeht, zeigt sich gerade
dort, wo "der Einbezug grenzenloser Nähe zum Tier" (259) als befreiende
und die ausgrenzenden Kategorien infrage stellende "Dimension einer Macht
des Erzählens" (259) inszeniert wird. Denn wenn auch, wie sie in einer
ausführlichen Analyse der métis-Figuren
bei Levilloux und Villaverde zeigt (Kap. 3.1.3), diese Figuren "sich
zwischen Tier- und Menschzuschreibungen behaupten müssen und von einem
besonders unklaren gesellschaftlichen Status aus agieren" (257), ist die "integrative
Kraft jenseits starrer Kategorien eine Kraft, die häufig als übermächtig
wahrgenommen wird" (260). Die exkludierende, "unterlegenheitsassoziierte
Animalisierung von Menschen" (260) wird durch die Macht des Erzählens (was
sie eindrucksvoll anhand der Mackandal-Erzählungen und des Themenkomplexes der
Mensch-Tier-Verwandlung zeigt), zu einer inkludierenden, integrativen, die
Macht der Literatur besonders hervorhebenden Kraft: einer Kraft, die nicht nur
die bestehende koloniale, konfliktgeladene gesellschaftliche Ordnung
problematisiert oder auseinandernimmt, sondern die zeigt, dass die Literatur
hier diejenige Instanz ist, an der sich bestimmte Mensch-und Tierzuschreibungen
und Mythenbildungen erst herausbilden, aber zugleich auch der Ort, an dem sich
diese wieder auflösen lassen und neue, bessere Formen des Zusammenlebens
postuliert werden können.
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Dass sich diese Ermöglichungsdynamik der Literatur
einer politischen Aussage entziehen kann, erscheint für den Rezensenten als haltlos,
weshalb die ungeachtet dieser Einschränkung sehr instruktive Studie von
Meyer-Krentler auch Fragen der politischen Dimension hätte
einbeziehen müssen. So konstatiert Fanon in seinem Buch Les damnés de la terre von 1961: "Le colonisé sait
tout cela et rit un bon coup chaque fois qu'il se découvre animal dans les paroles de l'autre [le colon]. Car il
sait qu'il n'est pas un animal. Et précisément, dans le même temps qu'il
découvre son humanité, il commence à fourbir ses armes pour la faire triompher."
(Fanon 1961: 46)
Bibliographie
Fanon, Frantz (1952): Peau noire, masques blancs. Paris: Seuil.
Fanon, Frantz (1961): Les damnés de la terre. Paris: François
Maspero.
Glissant, Édouard (1990): Poétique de la relation: poétique III. Paris: Gallimard.
Sala-Molins, Louis (1987): Le Code Noir ou le calvaire de Canaan. Paris: Quadrige-PUF.
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