Marina Ortrud Hertrampf (Passau / Regensburg) Je sors enfin du Bois de la Gruerie: Jacques Darras' lyrische Stimme zum Ersten WeltkriegFranzösische Gegenwartslyrik zum Ersten Weltkrieg? Ein Jahrhundert nach Ausbruch des Krieges scheint dies kaum wahrscheinlich, erwartet man von lyrischen Auseinandersetzungen mit dem Krieg doch subjektiven Erfahrungs- und Gefühlsausdruck. Doch genau dies gelingt dem in der Vergangenheit bereits mehrfach ausgezeichneten (Prix Apollinaire 2004, Grand Prix de Poésie de l'Académie Française 2006) Gegenwartsdichter Jacques Darras (Jahrgang 1939) mit seinem 'Gedächtnisgedicht' Je sors enfin du Bois de la Gruerie (2014). Wie der paratextuelle Zusatz "Poème cursif/discursif" ankündigt, ist das knapp über 200-seitige Langgedicht eine äußerst ungewöhnliche Mischung aus subjektiver Prosadichtung, literaturhistorischen Reflexionen und Leserappellen (diskursive Elemente) einerseits und z.T. recht umfassenden durch Kursivdruck markierten Zitaten von Künstlern des Ersten Weltkrieges (kursive Elemente) andererseits. Das Gedicht ist damit beides zugleich, individuelle und kollektive Geschichtsaufarbeitung. Eng ineinander verwoben präsentiert Darras seine sehr persönliche Aufarbeitung der seit über einer Generation tabuisierten Geschichte seiner Familie mit einem Panorama literarischer Verarbeitungen des Ersten Weltkrieges. Darras ver-textet dabei literarische wie testimoniale Zeitzeugenberichte (so etwa Tagebuchauszüge des Blauer-Reiter-Malers Franz Marc) mit subjektiven Erinnerungen und Reflexionen zu einem sprachlich wie stilistisch eigenwillig komponierten, poetischen Ganzen. Stilistisch auffällig ist der beständige Wechsel zwischen ernst-nachdenklichem, betroffen-anklagendem und verspielt-ironischem Ton. Letzterer resultiert vor allem aus den zahlreichen Wortspielen, assoziativen Wortreihungen und Neologismen, mit denen Darras der Dada-Ästhetik eine Ehre zu erweisen scheint:
PhiN 70/2014: 147 Ähnlich wirkt eine Reihe von selbstironischen, metaliterarischen Äußerungen, etwa wenn es nach einem ganzen Kapitel von Textauszügen von Sigmund Freud, Romain Rolland und Stefan Zweig heißt:
Ausgangspunkt von Darras' poetischer Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg ist (wie auch bei so vielen zeitgenössischen Gedächtnisromanen) eine Familienphotographie, die in diesem Fall seinen Großvater Édouard Darras zeigt, der 1914 im Bois de la Gruerie als junger Soldat fiel:
In Form eines autobiographischen Berichts über seine Reise in die eigene und kollektive Vergangenheit, bringt das lyrische Ich alias Darras seine emotionale Verstörtheit zum Ausdruck, die der Besuch der Massengrabfelder in ihm auslöste:
PhiN 70/2014: 148 Die Vororterfahrung auf den Schlachtfeldern von 1914 ermöglicht Darras die späte Aufarbeitung eines viel zu lange totgeschwiegenen Kapitels individueller und kollektiver Familiengeschichte(n). Die Konfrontation mit dem Ort des Sterbens seines Großvaters und so vieler anderer Menschen füllt Leerstellen des Familiengedächtnisses und lässt ihn in einer seltsamen Mischform aus privatem und kollektivem Gedächtnis endlich einen Weg aus dem Wald des Schweigens und Verdrängens finden – so erklärt sich denn auch der Titel des Gedichtes: "Je sors enfin du Bois de la Gruerie". Zugleich schließt das dichtende lyrische Ich den Leser in seine Erkenntniserfahrung mit ein und fordert diesen damit gleichsam dazu auf, sich auch selbst der Vergangenheit zu stellen:
Die Beschäftigung mit dem Grauen des Krieges führt Darras über das persönliche und kollektive Erinnern des Leidens und Sterbens hinaus zu einer mal poetischen mal quasi-literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den literarischen Reaktionen deutscher, französischer und englischer Kriegsdichter. Über weite Strecken wirkt das Buch wie eine Anthologie literarischer Zeugnisse aus dem Ersten Weltkrieg. So werden neben zahlreichen französischen Autoren wie etwa Guillaume Apollinaire, Henri Barbusse, André Breton, Louis-Ferdinand Céline, Blaise Cendrars, Roland Dorgelès, Yvan Goll, Pierre-Jean Jouve und Charles Péguy auch deutsche Autoren wie beispielsweise Hugo Ball, Ernst Jünger und Erich Maria Remarque zitiert. Ein ganzes Kapitel der insgesamt 15 Kapitel des 'Gedichtbuches' widmet der Anglist Darras den englischen War Poets, insbesondere Wilfried Owen, Siegfried Sassoon und Edward Thomas. Bei seinem literaturgeschichtlichen Panorama ist es Darras ganz offensichtlich ein großes Anliegen, die im akademischen Betrieb Frankreichs oft stiefkindlich behandelten pazifistischen Schriften der Kriegszeit wieder sichtbar zu machen. Neben der intensiven Auseinandersetzung mit dem wie er schreibt "trio d'intelligence majeur" (Darras 2014: 125), bestehend aus Romain Rolland, Stefan Zweig und Sigmund Freud, das für ihn stellvertretend für den unerschrockenen Einsatz für ein friedliches Europa voller Menschlichkeit steht, propagiert der Literaturwissenschaftler eine Neurezeption von fast vergessenen Anti-Kriegs-Autoren wie Paul Claudel, Yvan Goll oder Pierre-Jean Jouve:
PhiN 70/2014: 149 Schließlich will Darras, der sich als europäischer Erbe Walt Whitmans versteht, mit seiner poetischen Reflexion im Sinne der Friedensarbeit einen Beitrag wider das Vergessen leisten:
Darras' ungewöhnliches Gedicht über den Krieg ist in zweifacher Hinsicht eine 'poetische Kriegserklärung' an das Verdrängen und Vergessen: an das persönliche Verdrängen schmerzhaft erfahrener Verluste ebenso wie an das kollektive Vergessen bis heute so wichtiger Stimmen gegen Krieg und Unmenschlichkeit. Je sors enfin du Bois de la Gruerie schreibt sich damit in die gegenwärtig verbreitete Mode der Gedächtnisliteratur ein. Der zunächst verwundernde Fokus auf die europäische Literatur des Ersten Weltkrieges erklärt sich nicht zuletzt durch die Entstehungsgeschichte des Langgedichtes. Den Anstoß für sein Gedicht erhielt Darras von dem Komitee der Bibliothèque Nationale Universitaire de Strasbourg (BNU), das anlässlich der Wiedereröffnung der Bibliothek im Oktober 2014 in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Bodleian Library Oxford die Ausstellung "1914: la mort des poètes" konzipierte. Doch trotz dieses Auftragscharakters ist es Darras gelungen, einen Text zu schaffen, der Whitmans Tradition folgend um die Demokratisierung der Dichtung bemüht ist: So ist sein Langgedicht weder pathetisches (Helden-)Epos, rhetorisch elaborierte Elegie der Opfer noch hermetische Lyrik für ein exklusives Publikum. Folgerichtig beschreibt er seine poetische Meditation über Freiheit und Frieden in einem freilich inszenierten Bescheidenheitsgestus auch als "outil-poème" (Darras 2014: 99). Darras' Wunsch, ein möglichst breites Publikum anzusprechen, scheint insofern realistisch, als Je sors enfin du Bois de la Gruerie trotz zahlreicher literarischer und historischer Anspielungen eine mehrdimensional-vielschichtige Lektüre ermöglicht und in seinem kommemorativen Appellcharakter auch von weniger belesenen Lesern als 'Gedächtnisgedicht' rezipiert werden kann. BibliographieDarras, Jacques (2014): Je sors enfin du Bois de la Gruerie. Tout reprendre à 1914. Paris-Orbey: Arfuyen |