Martin Haase (Osnabrück/Berlin) Grammatikalisierung und Reanalyse aus empirischer Sicht: Apenninenumbrisch*The Grammaticalization model (esp. when encompassing Reanalysis) aims at a theoretical framework for explaining language change. Theoretical arguments are sometimes illustrated by data from different standard (or written) languages which are supposed to have evolved out of each other: The best example is the comparison of data from classical Latin and data from standard French or standard Italian. Of course, in Romance studies it is very well known that classical Latin is not a predecessor of modern Romance languages, and that where language change is concerned reliable data can best be obtained from historically documented dialects. This article gives some insight into what happens to concepts such as grammaticalization and reanalysis when such empirical data is taken into consideration. The basis is a "biography" of Romance dialects from Central Italy. Besonders in dem Nebeneinander verschiedener Analysen oberflächlich gleicher Ausdrucksmittel wird eine Chance gesehen, Synchronie und Diachronie zusammenzuführen. Die synchrone Variation wird als Niederschlag eines sich vollziehenden Wandels gesehen. Die Unterscheidung von Synchronie und Diachronie ist jedoch nicht etwas "reales", sondern ein Konstrukt der Linguisten: PhiN 7/1999: 12 In der Literatur zur Grammatikalisierung und zur Reanalyse werden Beispiele aus deutlich unterschiedlichen Sprachsystemen miteinander verglichen, z.B. Konstruktionen des klassischen Lateins mit ihren vermeintlich grammatikalisierten Entsprechungen im modernen Standarditalienisch. Man vergleiche das folgende Beispiel aus der Grammatikalisierungsliteratur (Lehmann 1982/95, 20):
In a. wird das italienische (romanische) Adverb auf ein lateinisches Syntagma etymologisch rückprojiziert: Die Adverbialendung geht auf ein Substantiv ('Art, Weise') im Ablativ zurück; es liegt also eine Form von Reanalyse1 vor. Die neue Adverbialbildung steht anstelle der lateinischen (b.), man spricht von "Renovation" (symbolisiert durch: /r). Natürlich ist die Beziehung zwischen den Ausdrucksmitteln dieser beiden Sprachen für empirisch arbeitende Romanisten nicht so unmittelbar. Zunächst einmal läßt sich das heutige Standarditalienische nicht direkt aus dem Lateinischen ableiten, aber selbst wenn dies so wäre, zeigt ein Blick in die schriftliche Überlieferung ein wesentlich differenziertes Bild. Es zeigt sich für das konkrete Beispiel, daß keineswegs von einer Verdrängung der einen Bildung durch die andere geredet werden kann. Außerdem müssen für die älteren Handschriften Abbreviaturen berücksichtigt werden, die sicher einen Einfluß auf die weitere Entwicklung gehabt haben, während in der gesprochenen Sprache der Ersatz von Adverbien durch Adjektive zu verzeichnen ist. Die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit kommt in der Grammatikalisierungsdiskussion ohnehin zu kurz. PhiN 7/1999: 13 Gegenstand der folgenden Erörterungen ist die ländlich-kleinstädtisch geprägte sprachliche Situation im umbrischen Apenninenraum (Foligno-Spoleto). Wie auch sonst in Italien (und anderen romanischen Arealen) ist von einer Dialekt-Standard-Dynamik auszugehen. Dialekt-Standard-DynamikDefinition 1: Als Dialekt (Vernakulardialekt) wird dasjenige Sprachsystem bezeichnet, das in einer Diglossiesituation zur vertrauten, informellen mündlichen Kommunikation innerhalb der lokalen (bäuerlichen) Sprachgemeinschaft benutzt wird. Anders als mit dem Dialekt verhält es sich mit der Standardsprache: Definition 2: Die Standardsprache ist ein Modell, das in Grammatiken und Wörterbüchern kodifiziert ist und dem sich Sprecher und Schreiber mehr oder weniger annähern. Für die historische Dimension benötigt man noch das Konzept der Koiné: Definition 3: Vorform des Standards: Koiné – überregionale Schreibtradition (scripta) Es handelt sich gewissermaßen um einen besonderen Fall der Standardsprache. Bei der Dialekt-Standard-Dynamik entsteht eine Ausgleichssprache als Übergang zwischen Dialekt und Standard, die als Regionalsprache bezeichnet wird. Man kann sie wie folgt definieren: Definition 4: Als Regionalsprache ("Regiolekt", Ausgleichssprache) wird dasjenige Sprachsystem bezeichnet, das in einer Diglossiesituation zur mündlichen Kommunikation außerhalb der lokalen (bäuerlichen) Sprachgemeinschaft benutzt wird. Allerdings sind zwei Formen der Regionalsprache deutlich unterscheidbar:
PhiN 7/1999: 14 Abbildung 1: Modell der D-S-DynamikDie als Zweitsprache verwendete Regionalsprache weist zahlreiche Besonderheiten auf. Zum einen zeigen sich Kompromißformen, wie die folgende: PhiN 7/1999: 15 Die Regionalsprache der Dialektsprecher (R/L2) weicht somit insbesondere durch ihre Hyperkorrekturen nicht nur vom Dialekt, sondern auch vom Standard ab. Die Bezeichnung "standardisierter Dialekt" oder dialetto italianizzato ist also eigentlich unzutreffend. Der Dialekt dient als negatives Modell, während der Standard als positives Modell wirkt. Da das positive Modell aber den Dialektsprechern nicht sehr leicht zugänglich ist, kommt es zu Kompromißformen und hyperkorrekten, also vermeintlich standardgemäßen Bildungen. Das sich daraus ergebende Modell der Dialekt-Standard-Dynamik ist in Abbildung 2 veranschaulicht. Interessanterweise identifizieren diejenigen Sprecher, die den Dialekt nicht mehr als Erstsprache erworben haben, die Regionalsprache/L2 mit dem Dialekt und nehmen sie als negatives Modell für ihre Sprachform (R/L1). Somit werden Hyperkorrektismen und Kompromißformen in ihrer Sprache völlig unterdrückt.
Abbildung 2: Zweidimensionales Modell der D-S-Dynamik
Definiter ArtikelIm folgenden soll das Modell, das ich als "Alteritätsmodell" bezeichne, anhand der Formenvariation des definiten Artikels exemplifiziert werden, zunächst in der Synchronie und dann – um auf das eigentliche Thema des Beitrags zurückzukommen – in der Diachronie. PhiN 7/1999: 16
Bekanntlich lauten die Artikelformen des Standarditalienischen wie folgt:
Der deutliche Unterschied im Maskulinum schlägt sich auch terminologisch nieder (mit germanistisch anmutender Terminologie):
Heutige VerwendungsweisenDie folgende Übersicht zeigt die Verwendung des definiten Artikels:
PhiN 7/1999: 17 Im Gegenzug verwenden Dialektdichter zur Abgrenzung vom Standard die starke Form des Artikels. Da besonders lu charakteristisch für den Dialekt ist, findet diese Form – sozusagen hyperdialektal – selbst da Verwendung, wo eigentlich der formal mit einer Standardform identische Neutrumsartikel lo:
DiachronieFür die mittelitalienische Sprachgeschichte2 läßt sich für die Verwendung des definiten Artikels folgendes festhalten (Haase Ms., §4.2.3):
Wie für andere romanische Sprachen (Raible 1985) und das Spätlatein (Selig 1992) sind für das mittelitalienische Dialektareal in der frühen Überlieferungsperiode A. und insbesondere in der mittleren Periode B. alternative Determinatoren ("Artikel") charakteristisch:
Diese Determinatoren finden besonders in juristischen Texten (Urkunden, Statuten, Gerichts- und Versammlungsprotokolle, Testamente)4 Verwendung. PhiN 7/1999: 18
Die Funktion dieser Determinatoren entspricht der des Artikels, nämlich die Konstanz der Referenz anzuzeigen. Da die genaue Referenzfestlegung in juristischen Texten besonders wichtig ist, erklärt sich die häufige Verwendung in dieser Textsorte. Dabei ist die Bedeutung der DICTUS-Formen noch durchsichtig, denn im Kontext einer Redewiedergabe wird das anaphorische IPSE verwendet:
DICTUS kann mit und ohne Artikel verwendet werden (die unterschiedliche Wortstellung des folgenden Beispiels spielt dabei wahrscheinlich keine Rolle):
Im diachronen Vergleich ergibt sich jedoch eine charakteristische Verteilung:
PhiN 7/1999: 19 Im folgenden soll die Verwendung der Determinatoren noch einmal schematisch (anhand des Maskulinums Singular bzw. des Neutrums) in den drei Überlieferungsperioden dargestellt werden – beginnend mit der frühen Periode A.: Hier steht neben dem starken Artikel schon der schwache Artikel (als Alternative, angedeutet durch den Doppelpfeil) besonders in Verbindung mit ditto (oder dem Relativpronomen quale, möglicherweise als feste Fügung – in der graphischen Darstellung als Linie angedeutet) und die alternativen Determinatoren des DICTUS und des IPSE-Typs, letztere besonders in juristischen Texten. Eine darüber hinausgehende Festlegung einer Alternative auf eine bestimmte Sprachform läßt sich nicht ausmachen. Das ändert sich in der mittleren Periode (B.). Hier entsteht die mittelitalienische Koiné, für die der schwache Artikel und die alternativen Determinatoren charakteristisch sind. Der starke Artikel gilt als dialektal, wie ein frühes Beispiel der Dialektdichtung zeigt. PhiN 7/1999: 20 Formen des DICTUS-Typs werden überwiegend ohne Artikel verwendet (also als Artikelersatz). In der Verwendung mit Artikel kann eine Fortsetzung der älteren Schrifttradition gesehen werden (insbesondere bei den fortgeschriebenen Statuten der Gilden liegt diese Annahme nahe), während der innovative artikellose Gebrauch sich am lateinischen Modell orientiert. Dieser Gebrauch könnte – wenn man von den zeitlichen Gegebenheiten und den unterschiedlichen Modellen absieht – als Grammatikalisierung oder Reanalyse eines Adjektivattributs zu einem Artikel aufgefaßt werden. Die Unterscheidung von dialektal – nicht-dialektal bleibt in der weiteren Entwicklung erhalten. Besonders für die Dialektdichtung des 19. und 20. Jahrhunderts erklärt sie das Aufkommen von Hyperdialektalismen. In der Regionalsprache wird hingegen der starke Artikel vermieden. PhiN 7/1999: 21
Man spricht dabei gelegentlich von der "Extension" des definiten Artikels auf partitive Verwendungsweisen. Allerdings ist der Partitiv eine schriftsprachliche Innovation, die eine Funktion übernimmt, die dem definiten Artikel mindestens schon seit der frühen Überlieferungsperiode A. eigen ist:
GrammatikalisierungFolgender Grammatikalisierungspfad wird für den definiten Artikel in der Grammatikalisierungsforschung angenommen (Lehmann 1982/95, 55): Heute befindet sich der definite Artikel an Position 3 mit deutlicher Tendenz zu Position 4 (Klitisierung). Im Lateinischen entspricht ihm ein Demonstrativpronomen, so daß sich achronisch der Grammatikalisierungspfad bestätigt.5 Die Entwicklung des definiten Artikels ist aber ungleich komplexer als hier angedeutet; im folgenden steht die Form des Maskulinums Singular (bzw. des Neutrums) stellvertretend für das Artikelparadigma:
PhiN 7/1999: 22
Hier noch einmal eine schematische Darstellung, in der für die konkreten (in den Texten meist abbreviierten) Ausprägungen zum Teil der lateinische Typ eingesetzt ist (| zeigt freie Variation an, || eine funktionale, insbesondere textsortenunterscheidende Variation):
Das achronische Grammatikalisierungsmodell sieht von solchen Einzelheiten in der Diachronie ab, wie z.B. der zeitweise Ersatz des Artikels durch einen anderen Determinierer in der mittleren Überlieferungsperiode B.. Andererseits sagt es richtig voraus, daß die Definitheit des Artikels weiter reduziert werden kann (>"extensive" Verwendung des Artikels). Achronisch ist diese Reduktion an der vierten Position des Grammatikalisierungspfades zu erwarten (Lehmann 1982/95, 39). Es zeigen sich jedoch einzelne Beispiele für die extensive Verwendung des Artikels bereits in der frühen Überlieferungsperiode A. Es ist offensichtlich nicht möglich, aus dem Grammatikalisierungsmodell auf Zeitpunkte in der Diachronie zu schließen, was nicht überrascht, sieht das Modell doch vom Zeitfaktor ab. Lehmann sieht in der Entstehung des romanischen Artikelsystems einen Fall von "Innovation". Sie erfolgt nach dem Schema 'x /r y', wobei y für die romanischen Artikel steht, aber im Lateinischen x nicht existiert (Lehmann 1982/95, 21): "Innovation is revolutionary; it creates grammatical categories that had not been in the language before. Renovation is conservative; it only introduces new forms for old categories."
PhiN 7/1999: 23 Die Grammatikalisierungspfade modellieren in erster Linie (und darin liegt ihre Stärke) die Möglichkeiten der synchronen Variantenbildung: So bemühen sich Verfasser schriftlicher Texte (zumal sie nicht auf intonatorische Mittel zurückgreifen können und auch der situative Kontext nur bedingt zur Verfügung steht) um eine besonders explizite Ausdrucksweise: es werden ausgebaute Ausdrucksmittel als Varianten gebildet (Lehmanns "Renovation"). Ein deutliches Beispiel ist die Verwendung der Nominaldeterminanten im juristischen Latein. Häufig verwendete Ausdrucksmittel werden hingegen abbreviiert (insbesondere, wenn entsprechende Abbreviaturmodelle aus der Modellsprache vorliegen). In der Mündlichkeit entsprechen diesen Tendenzen die Bildung expressiver Varianten einerseits und die Verwendung von Allegroformen6 andererseits. Existieren die Varianten (als freie Varianten) über den beobachteten Zeitraum nebeneinander, läßt sich in der Diachronie keine Veränderung konstatieren. Ist jedoch eine Variante zu einem frühen Zeitpunkt vorhanden und zu einem späteren nicht, so liegt eine diachrone Sprachveränderung vor. Handelt es sich bei der aufgegebenen Variante selbst um eine synchrone Innovation zu einem frühen Zeitpunkt, wird sie übersehen, wenn die spätere Synchronie mit einer noch früheren verglichen wird. So hinterläßt die DICTUS-Variante, die ja bei der Nominaldetermination eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat, beim Vergleich des Lateinischen mit dem Italienischen (oder auch mit einem heutigen Dialekt Italiens) keine Spur. Die Argumentation mit positiver und negativer Modellbildung in einer Dialekt oder Kontaktdynamik ist für die sprachgeschichtlich orientierte Romanistik insofern geeigneter, als sie sprachliche Innovationen plausibel machen kann; sie berücksichtigt außersprachliche und textspezifische Faktoren und ist im besten Sinne "diachron", da dem Zeitfaktor Rechnung getragen wird. PhiN 7/1999: 24 Abkürzungen
LiteraturHaase, Martin (im Druck): Dialektdynamik in Mittelitalien (Apenninenumbrisch) [Habilitationsschrift Osnabrück 1996]. Tübingen: Stauffenburg. Lehmann, Christian (1982/95): Grammaticalization: a programmatic sketch. Köln: Institut für Sprachwissenschaft [1982]; München: Lincom Europa [1995]. (= Arbeiten des Kölner Universalienprojekts, 48). Lehmann, Christian (1985): "Grammaticalization: Synchronic Variation and Diachronic Change'', in: Lingua e Stile 20, 303-318. Lüdtke, Helmut (1980): "Sprachwandel als universales Phänomen", in: Kommunikationstheoretische Grundlagen des Sprachwandels. Hg. von Helmut Lüdtke. Berlin/New York: de Gruyter, 1-19. Raible, Wolfgang (1972): Satz und Text. Untersuchungen zu vier romanischen Sprachen. Tübingen: Niemeyer. (= Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie, 132). Raible, Wolfgang (1985): "Nominale Spezifikatoren ("Artikel") in der Tradition lateinischer Juristen oder Vom Nutzen einer ganzheitlichen Textbetrachtung für die Sprachgeschichte", in: Romanistisches Jahrbuch 36, 44-67. Selig, Maria (1992): Die Entwicklung der Nominaldeterminanten im Spätlatein. Tübingen: Narr. (= ScriptOralia, 26). PhiN 7/1999: 25 Anmerkungen* Der Autor dankt den Diskutanden der Sektion Grammatikalisierung und Reanalyse des Romanistentags Romania I in Jena, insbesondere Thomas Krefeld für das Koreferat. Anregungen wurden in dieser Fassung berücksichtigt. Anmerkungen zum mittelitalienischen Neutrum werden an anderer Stelle behandelt werden.1 Im Spanischen ist es bis heute möglich, die Endung bei der Koordination zweier Adverbien beim ersten Adverb wegzulassen (gapping-Konstruktion). 2 Für die Unterteilung der mittelitalienischen Sprach- bzw. Überlieferungsgeschichte in drei Perioden lassen sich eine Reihe von sprachlichen und außersprachlichen Kriterien finden (Haase Ms., §2.3). 3 Die Schreibweise mit p ist möglicherweise eine spezielle Abbreviaturschreibung, deren Aussprache identisch mit der der folgenden Formen ist. 4 Die Quellenangaben beziehen sich auf das von mir erhobene Manuskriptkorpus (Haase Ms.). 5 Was allerdings mit der Zwischenstufe 2 (schwach demonstrativ?) gemeint ist, bleibt letztlich unklar. 6 Während explizite/expressive Varianten aus lexikalischem Material gebildet werden, entstehen Allegroformen durch phonologische Reduktion. Hier handelt es sich um synchrone Prozesse, aus denen die diachrone Unidirektionalität der Grammatikalisierungsskalen abgeleitet wird (Lüdtke 1980). Auf synchrone Aspekte der Grammatikalisierung (Variation) wird in der Literatur hingewiesen (Lehmann 1985).
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