Maik Neumann (Bonn) Angela Oster und Karin Peters (Hg.) (2012): Jenseits der Zeichen. Roland Barthes und die Widerspenstigkeit des Realen. München: Wilhelm Fink.Kurz nach dem Unfalltod des französischen Literatur-
und Zeichentheoretikers Roland Barthes im Jahr 1980 gesteht Serge Doubrovsky in
seiner eindrucksvollen Erinnerungsschrift Eine
tragische Schreibweise ein ambivalentes Gefühlsbild ein, mit dem er sich
bei der Relektüre von Barthes' Texten konfrontiert sieht. Er habe, so hebt
Doubrovsky gleich zu Beginn hervor, "den größten Teil des Barthesschen
Werkes wiedergelesen, ohne eigentlich genau zu wissen, von welcher Seite ihm
beizukommen sei" (Doubrovsky 1988: 139). Um gleichwohl einen produktiven
Zugang mit Blick auf "diese in unaufhörlicher Bewegung begriffenen
Texte" (ebd.) zu eröffnen, vergegenwärtigt er sich die Veränderungen sowie
damit verbunden die Widerstände, die ihm bei seiner erneuten Lektüre begegnen:
Zugleich jedoch verbindet sich der hier pointierte
"Respekt", der sich beim Lesen u.a. durch "eine Art von Schwindel"
sowie "einen Zustand von Hilflosigkeit" (ebd.: 142) äußert, mit einem
elementaren Verantwortungsgefühl: "Für diese außerordentlich lebendigen Texte obliegt fortan mir die
Seelsorge." (ebd.: 140) Die wiederholte Annäherung an die Barthes'schen Werke
geht für Doubrovsky, wie er selbstreflexiv anmerkt, in diesem Sinne mit dem
Erleben eines sich zunehmend manifestierenden Sinn- und Lektürebezugs einher, der
sowohl das Empfinden von "Achtung"
(ebd.: 143) als auch von "Vergnügen" (ebd.: 180) evoziert. Doubrovsky
nimmt die wesentliche "Zerrissenheit" (ebd.) bzw. die "widersprüchliche Verwindung" (ebd.:
155) der Schreibweise Barthes' im Lesegenuss auf, um ihre Bewegungen im Rahmen
seiner weiteren Ausführungen unter verschiedenen Gesichtspunkten näher zu charakterisieren. PhiN 63/2013: 31 Das von Doubrovsky dergestalt akzentuierte
Lektüreempfinden in einer produktiven Melange aus Schwindel, Achtung und
Vergnügen markiert bereits zu Beginn der 80er Jahre ein entscheidendes
Paradigma, das die zahlreichen Analyseansätze der Barthes-Forschung bis in die
gegenwärtigen Publikationen bzw. Projekte vielgestaltig prägt.1
Die lebendigen, fragmentarischen sowie widersprüchlichen Texte Barthes'
provozieren immer wieder aufs Neue eine vielfältige Auseinandersetzung,
innovative Fragestellungen und Kontextualisierungen, die ihren Schriftkörper
aber gerade nicht letztgültig feststellen, sondern in seinem Sinnpotential und
seiner Dynamik perpetuieren. Der von Angela Oster und Karin Peters herausgegebene Tagungsband pointiert dieses Paradigma in einer doppelten Zuspitzung. Gemäß dem Tagungsprojekt, das im November 2010 anlässlich des 30. Todesjahres Barthes' an der Ludwig-Maximilians-Universität München realisiert wurde, nimmt der Band zum einen die sich seit etwa fünf bis zehn Jahren intensivierende, internationale Barthes-Diskussion – einhergehend bzw. verbunden u.a. mit der "Neuveröffentlichung zahlreicher Vorlesungen und privater Dokumente aus dem Nachlass"2 – "aus deutsch-französischer Perspektive" (9) konstruktiv auf. Zum anderen schließt der leitende Untersuchungsakzent an die gegenwärtige Forschungstendenz an, den Fokus weniger auf die "strukturalistischen und semiotischen Pionierarbeiten" Barthes' denn vermehrt auf "die Frage nach den Real-Referenzen, die ihn im Laufe seiner Arbeiten immer häufiger beschäftigte" (ebd.), zu richten.3 Die versammelten Beiträge gruppieren sich davon ausgehend um eine innovative Perspektivik, die eine der zentralen Motive im Barthes'schen Schreiben vielfältig zu fokussieren intendiert: "Barthes' lebenslange Sehnsucht nach dem Realen" (17). Mit "dem Realen", le réel, verbindet sich jedoch keine konzeptionell zu erfassende oder letztgültig abzubildende 'Wirklichkeit', vielmehr weiß Barthes, wie Karin Peters in ihrer Einleitung hervorhebt, um die "Abgründe" (ebd.) eines sich den Zeichen hartnäckig entziehenden Realen: die Vehemenz, mit der es sich einer zeichentheoretischen sowie -praktischen Einordnung und Darstellung nachhaltig entzieht.4 Gleichwohl bildet die immer wieder neu einsetzende, methodisch und motivisch äußerst heterogene Annäherung an das Reale, das allein ephemer als Effekt im Prozess des Schreibens zu erfahren ist, einen wesentlichen Topos der Schreibweise Barthes'.5 PhiN 63/2013: 32 Die in dieser Konstellation aufscheinenden sowie im
Rahmen des Tagungsbandes näher zu untersuchenden "Phänomene des
Realen" resümiert Peters treffend als eine "neue Art", das
flüchtige Reale "als Heimsuchung oder 'Rauschen' des Sinns" (19) zu
vermessen:
An die Stelle eines generellen 'Back to Barthes'
tritt in Jenseits der Zeichen die
konkretisierte Perspektive eines "Zurück zum Text"6 :
"Das Reale stellt sich aus, und der TEXT, der nicht ŒUVRE sein will, wird
zur Schrift, die notiert, zur Schau stellt und momenthaft enthüllt." (ebd.) Das 'Zur-Schau-Stellen' des Realen sowie dessen 'momenthafte
Enthüllung' in den Texten Barthes’ bilden davon ausgehend das zentrale
Untersuchungsinteresse und damit einen durchgängigen Bezugspunkt der von Oster
und Peters aufgenommenen Beiträge. In ihren individuellen Prämissen, Methoden sowie
Systematiken – u.a. mit lebens- (Ottmar Ette), musik- (Gesine Hindemith) und
literaturwissenschaftlicher (Daniela Kirschstein) Ausrichtung – eröffnen diese ein
breit angelegtes, unter dem leitenden Themenakzent jedoch ebenso kohärentes
Spektrum, mit dem es gelingt, die Phänomene des Realen primär mit Blick auf die
späten Schriften Barthes'7
als eine zentrale Motivik seines fragmentarisch-dynamischen Schreibens
detailreich herauszuarbeiten. Entlang der 'Abgründe', die Barthes von einem
"Jenseits der Zeichen" trennen und zugleich ein wiederholtes,
fasziniert-obsessives Kreisen um eben einen solchen 'Hauch des Realen' (in
Diskursen der Trauer, der Liebe, der Lust und des Todes) als Fluchtpunkt der eigenen
Schreibdynamik provozieren, gliedert sich der Sammelband in fünf Abschnitte
auf. Den ersten Schwerpunkt bilden drei Abhandlungen
namhafter Barthes-Kenner (Ottmar Ette, Éric Marty und Claude Coste), die als
"Einführungen" fungieren und zentrale Aspekte der gegenwärtigen Forschung
in Deutschland sowie Frankreich aufrufen. Zudem lassen sie bereits wesentliche Kernakzente
des um ein Nachzeichnen von Evidenzen des Realen – die zwar vielfältig,
allerdings allein ephemer im Schreibfluss aufscheinen – bemühten Ansatzes
erkennen. PhiN 63/2013: 33 So fokussiert Ottmar Ette in seinem Beitrag "Auf
der Suche nach dem (sich verlierenden) Leben. Wissenschaft und Schreiben bei Roland
Barthes" gleich zu Beginn den spezifischen Konnex, den Wissen, Literatur,
Schreiben, Text, Wirklichkeit und Leben in den Schriften Barthes' ausbilden,
und greift dabei seine Programmatik einer "Literaturwissenschaft als
Lebenswissenschaft" (vgl. Ette 2007) produktiv auf. Ausgehend von dem
äußerst eindringlichen Sprachbild, mit dem Barthes in Le Plaisir du Texte den Text als ein Netz, ein Gewebe, definiert,
in dem sich die Spinne, und damit das Subjekt, selbst auflöst,8
schlägt Ette einen Deutungsansatz vor, der die "Bedeutsamkeit" der in
dieser Spinnenmetaphorik entfalteten Texttheorie "für aktuelle
Herausforderungen und Problemstellungen" (37) aufzeigt:
Die pointiert charakterisierte "lebendige Strukturierung" geht in
ihren Implikationen und Anschlusspunkten elementar über das poststrukturalistische
Theorem einer Ablösung subjekt- und autorzentrierter Werk-Konzeptionen durch
eine "Produktivität namens Text" (36) hinaus, wie Ette in der Folge mit
Blick auf verschiedene Schriften Barthes' luzide veranschaulicht. In der
"Entfaltung einer lebendigen Netzmetaphorik" (37) zeichne sich
vielmehr die "Lebendigkeit" eines Textes bzw. Netzes ab, "die
durch ein lebendiges Wesen animiert wird, das seine Vitalität, aber auch – so
ließe sich hinzufügen – sein gesamtes Lebenswissen, kraft der eigenen Auflösung
ins Netz einzuspeisen vermag" (ebd.). Eine solche Auflösung in der eigenen
Text- bzw. Netzproduktion sieht Ette im Barthes'schen Schreiben sowohl
grundlegend konzipiert als auch kunstvoll realisiert: "Der Text führt vor,
was er darstellt, realisiert, was er repräsentiert." (47)
Unter Aufnahme
und Ausstellung der Fähigkeit, und damit der Lebenskraft, von Literatur,
"durch die Vervielfachung des Sinns den Sinn […] niemals zur Ruhe kommen
zu lassen" (38), gehe es Barthes "um die Inszenierung jenes
lebendigen, ja lebhaften LebensTextes,
dessen Ziel nicht eine bestimmte außersprachliche Realität, sondern eine mit
Leben gesättigte textuelle (wie intertextuelle) Relationalität ist." (46)
Barthes' LebensTexte folgen darin, wie Ette resümiert, einer "Ästhetik der
Lust" (64), die eine Vielzahl von Diskursen, Wissensformen und Stimmen –
mithin Leben, Erleben, Wissen und Text – ineinanderflicht, um als
"Miniaturen des Lebens" auf ein "Lebenswissen" zu zielen,
das er "diesseits wie jenseits des Strukturalismus erlebbar machen
will" (49). Ein kritisches Aufgreifen sowie Fortentwickeln der von Barthes
dergestalt reflektierten und zugleich inszenierten Ästhetik lässt sich, so Ette
abschließend, "nur dann entscheidend weitertreiben […], wenn es gelingt
die Literaturwissenschaft als eine Lebenswissenschaft zu verstehen, die das
Lebenswissen der Literatur als deren eigentliche Lebenskraft begreift" (64). PhiN 63/2013: 34 Während Ottmar Ette somit den überaus fruchtbaren
Impuls hervorhebt, den die Barthes'schen Schreib-, Theorie- und Textreflexionen
für die gegenwärtige Literaturwissenschaft zu entfalten vermögen, initiiert
Éric Marty in seinem Beitrag "Roland Barthes, le réel photographique"
eine differenzierte Perspektive auf das Reale als "une catégorie
problématique non seulement pour Barthes mais pour une grande partie de sa
génération intellectuelle" (65). Er unterscheidet wesentlich zwei –
politische, historische, ideologische und künstlerische – Erscheinungs- bzw.
Rezeptionsweisen des Realen, von denen Barthes die eine (das entfremdete Reale,
"un réel entièrement dominé par l'idéologique", ebd.) in seinen
Schriften beständig mythen- und ideologiekritisch hinterfrage sowie die andere
(das nicht zu entfremdende Reale, "un réel inaliénable", 67) als
Fluchtpunkt des eigenen Schreibens zu konturieren bzw. zu inszenieren
intendiere. Vor allem in La chambre
claire zeichnet Marty eine intensive Auseinandersetzung mit dem nicht zu
entfremdenden Realen nach, das dort in der Photographie ein entscheidendes
Formprinzip findet und mit dem nicht einzuholenden Wahnsinn (la "folie de
la photographie", 69) elementar in Verbindung steht. Die generellen
Ausführungen Claude Costes unter dem Titel "Actualité française de Barthes
(1980‒2011)" schließen den Einführungsabschnitt mit einer produktiven
Rekonstruktion der französischen Barthes-Rezeption bis hin zu jüngeren Aktualisierungstendenzen
ab. Im Anschluss folgen drei Abschnitte, die den drei
Analyseakzenten nachgehen, deren jeweilige Einsatzpunkte sich aus der im
Untertitel des Sammelbandes aufgerufenen "Widerspenstigkeit des
Realen" ableiten. Im ersten Untersuchungsfeld (Widerspruch gegen die Mythologie des Wissens) zeigt sich die
Widerspenstigkeit dabei als Widerspruch, den die Barthes'schen Schriften
entgegen den über Stereotypen und Mythenbildung zur Doxa erstarrten
Wissensdiskursen artikulieren. Anselm Haverkamp führt diesen Widerspruch in
seinem Beitrag "Die vergessene Pointe. Roland Barthes' Anagrammatik des
Obtusen" äußerst prägnant vor Augen, indem er die paradigmatische
Bedeutung der von Barthes in Le troisième
sens markierten Unterscheidung zwischen einem sens obvie und einem sens
obtus mit Blick auf dessen Theorie- und Schreibarbeit pointiert. Barthes
verfolge Theorie immer als "Theorie von Supplementärem" und
widerspreche darin "oft behutsam, aber hartnäckig" der "phänomenologischen
Unterstellung der Transparenz aller lebensweltlichen Bezüge" (91). Das
Obtuse bilde "das Paradigma, die erste exemplarische Form des Supplementären bei Barthes" und stelle sich damit der
"ordinären Aura des obvie
entgegen" (ebd.). Wie Haverkamp hervorhebt, stört Barthes daher auch die
phänomenale, ja mathematische Unfaßbarkeit der Latenz nicht", deren
"vitale Wirkungsmächtigkeit" lasse ihn vielmehr "zu einer
dezidiert nicht-phänomenalen Ästhetik des Obtusen tendieren" (99). Andreas
Mahler und Jörg Dünne illustrieren in ihren Beiträgen zudem weitere Varianten
des Barthes'schen Widerspruchs gegen ein zur Doxa ausgehärtetes Wissen, der
sich zum einen in einer schubweisen Annäherung an das "Wissensfeld der
Liebe" (102) sowie zum anderen durch das "enge Verhältnis von
Alphabet und Dummheit" (116) in spezifischen Schreibarrangements
realisiert, und unterstreichen damit zugleich dessen durchgängigen Stellenwert
sowie grundlegende Heterogenität. PhiN 63/2013: 35 In einer zweiten Blickrichtung (Widerspenstigkeit des Realen) rückt Barthes' immer wieder neu
einsetzendes, aporetisches Bemühen, die widerspenstige Flüchtigkeit des Realen
"semiologisch oder semiotisch fassbar zu machen" (21), ins Zentrum
der Beobachtung. Gabriele Schabacher veranschaulicht diese wiederholte
Annäherung an das nicht letztgültig einzuholende Reale in ihrem Aufsatz "Das
'Projekt RB'. Praxen des Autobiographischen und die Medien des Realen bei
Roland Barthes" äußerst eindrücklich, indem sie mit Blick auf Barthes'
fiktive Autobiographie Roland Barthes par
Roland Barthes untersucht, "wie die spezifische Medialität des
Autobiographischen Momente des Referentiellen (und Realen) produziert, die im
Sinne einer Rhetorik der Evidenz verstanden werden können" (136). Sie
knüpft dabei grundlegend an die in ihrer Monographie Topik der Referenz (Schabacher 2007) eröffnete Perspektive an, um
in der Barthes'schen Schreibpraxis ein inszenierendes Aufgreifen rhetorischer
Figurationen sowie spezifischer Medialisierungen, die das Autobiographische
kennzeichnen, aufzuzeigen.
Neben eine Praxis des Schreibens trete zudem eine "Praxis
des Seminars" (153), über die das "Projekt RB" wesentlich aus
einer dem Theater verwandten "Praxis- und Ausbildungsgemeinschaft" (157)
hervorgehe. Mit der Unheimlichkeit Barthes' (sowohl in seinem Schreiben selbst
als auch im Sinne einer in seinen Schriften spezifisch aufscheinenden Rhetorik
des Unheimlichen) sowie einer von ihm in seinen späten Schriften aufgerufenen
"Musikalität der Sprache" (173) stellen Christoph Leitgeb und Gesine
Hindemith in ihren Beiträgen darüber hinaus zwei weitere Motive zeichentheoretischen
sowie -praktischen Kreisens um die Widerspenstigkeit des Realen eindringlich heraus. Durch eine dritte Akzentsetzung (Widerständigkeit der Zeichen) zeichnet der Band das vielfältige Engagement der Barthes'schen Schreibweise, die ephemeren Phänomene bzw. Evidenzen des Realen im eigenen Schreiben (punktuell) zu realisieren bzw. "das Reale am Signifikanten zu 'kristallisieren'" (21) und damit erfahrbar zu machen, nach. Wie Bettina Lindorfer in ihrem Beitrag "Un troisième tour d'écrou: Die Leitfunktion des Realen für das Schreiben beim späten Barthes" illustriert, verbinden sich Barthes' sprachtheoretische Prämissen mit spezifischen Strategien, über die er beständig versuche, das Reale im Text sprachlich einzuholen: dem Notieren, dem (beim Namen) Nennen sowie dem Zeigen. Vor allem im Haiku erkenne er für ein dementsprechend angelegtes Schreibbemühen die ideale "Ausdrucksform zwischen Zeigen und Sprechen", als "Schnittstelle zwischen Referent und Zeichen" im "reflektierten Umgang mit der Sprache" (198). PhiN 63/2013: 36 Zum Abschluss versammelt der Tagungsband vier
Beiträge (Lektüren des widerspenstigen
Realen), die die bei Roland Barthes beobachtete Auseinandersetzung mit der
bzw. um die Widerspenstigkeit des Realen hin zu einer Lektüreheuristik
verlängern, um zentrale Paradigmen in anderen Texten, Diskursen und Medien zu
erproben. So greift Karin Peters in ihrem Aufsatz "'Die Sprache des
Zwerchfells': Semiologie des Körpers und barockes Lachen bei Molière"
"Barthes' Semiologie des Körpers als Ausgangspunkt" auf, "um die
Frage zu stellen, wie das 'Sprechen des Körpers' in der barocken Komödie
gestisch ausagiert wird" (249). Im Anschluss an eine ausführliche
anthropologische Erörterung des Lachens nimmt sie dabei Molières letztes Stück comédie-ballet Le malade imaginaire als
"Praktik mit einer ihr eigenen Pragmatik" in den Blick, die beim
Zuschauer "die 'unordentliche', ja barocke Erfahrung eines
katastrophischen, lachenden Leibes" (268) produziere. Wenn Daniela
Kirschstein daraufhin die "Produktion von Wirklichkeits- und
Präsenzeffekten" (318) in Jonathan Littells Les Bienvéillantes fokussiert, zeichnet sich die breit gefächerte
Eindringlichkeit und kreative Produktivität der Barthes'schen Konzeptionen
sowie Schreibweisen ab, die sich auch in gegenwärtigen Analysen und Lektüren in
anderen Texten, Kontexten sowie Epochen innovativ fort- und neuschreiben – wie
Fabienne Imlinger in ihrer Untersuchung zur Darstellung des Hermaphroditen in
der Encyclopédie und Simona Oberto in
ihrer Charakterisierung der Barthes-Rezeption Italo Calvinos darüber hinaus überzeugend
illustrieren. PhiN 63/2013: 37 Mit 'Schwindel, Achtung und Vergnügen' eröffnen die
von Oster und Peters in Jenseits der
Zeichen arrangierten Aufsätze eine ungemein detail- und kenntnisreiche
Perspektive auf die Prämissen, Figurationen, Lektüren sowie Anknüpfungspunkte der
beständig neu einsetzenden Annäherungen Roland Barthes' an Evidenzen und
Phänomene des Realen sowie deren Inszenierung im eigenen Schreiben. Sie knüpfen
dabei an aktuelle Debatten der Barthes-Forschung an, die sie unter der
leitenden Themenstellung einer "Widerspenstigkeit des Realen"
konstruktiv weiterentwickeln. Auch kleinere, kritisch zu diskutierende
Format-Einrichtungen (etwa das fehlende Sach- und/oder Werkregister zur
leichteren Orientierung; die Absetzung der ersten drei Beiträge als
"Einführungen", die sich inhaltlich und strukturell allerdings durchaus
mit den übrigen Abschnitten überschneiden; das Nebeneinander von alter – bei
den Arbeiten von Ette und Haverkamp – und neuer – bei den übrigen Artikeln –
Rechtschreibung) können den Eindruck eines in Kohärenz und Vielfalt gelungenen
Bandes in keiner Weise trüben. BibliographieBarthes, Roland
(2002): Œuvres complètes. Nouvelle
édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty. Bd.
I–V. Paris: Seuil. [Zitiert unter der Sigle OC] Doubrovsky, Serge (1988): "Eine tragische
Schreibweise", übersetzt von Hans-Horst Henschen, in: ders. (Hg.): Roland Barthes. München: Boer, 139–180. Ette, Ottmar (1998): Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main:
Suhrkamp. Ette, Ottmar (2007): "Literaturwissenschaft als
Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der
Geisteswissenschaften", in: Lendemains
XXXII, 125, 7–32. Ette, Ottmar (2011): LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung. Hamburg: Junius. Jahraus, Oliver (2011): "Theorietheorie",
in: Grizelj, Mario / ders. (Hg.): Theorietheorie.
Wider die Theoriemüdigkeit in den Geisteswissenschaften. München: Wilhelm
Fink, 9–39. Langer, Daniela (2005): Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei
Nietzsche und Barthes. München: Wilhelm Fink. Schabacher, Gabriele (2007): Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion 'Gattung'
und Roland Barthes' 'Über mich selbst'. Würzburg: Königshausen &
Neumann. PhiN 63/2013: 38 Anmerkungen1 Gabriele Schabacher charakterisiert das Bemühen der stark anwachsenden, heterogenen Forschungsliteratur zur dynamischen Schreibweise Barthes' äußerst anschaulich, indem sie deren vielfache Rekonstruktion von Mustern, Bezugssystemen, Metamorphosen, Topoi und Brüchen in den Barthes'schen Schriften durch eine Differenzierung von drei 'Rezeptionsfiguren' nachvollzieht: "Der plurale Barthes", "Der eine Barthes" und "Der doppelte Barthes" (zu dieser Figuration vgl. Schabacher 2007: insbes. 185–196). 2 Auch die Publikation der ersten Werkausgabe in den 1990er Jahren stellt in dieser Hinsicht einen zentralen Ausgangspunkt der Forschungsarbeit dar (vgl. hierzu Ette 1998 sowie Ette 2011). 3 Zur sich parallel abzeichnenden, vielfach konstatierten 'Theoriemüdigkeit' generell in den Geisteswissenschaften vgl. etwa Jahraus (2011). 4 Daniela Langer bemerkt daher treffend: "Dass das Verhältnis von Sprache zum Realen bzw. zur Realität in der barthesschen Sprachauffassung keine eindeutige Lösung erfährt, mag unbefriedigend erscheinen. Der Umgang mit dem Begriff réel verweist aber auf ein Spezifikum des barthesschen Schreibens, aufgrund dessen viele seiner Texte so merkwürdig unfassbar bleiben: [...]." (Langer 2005: 193) 5 Einen entsprechenden programmatischen Fluchtpunkt formuliert Barthes u.a. in seinem 1968 erschienenen Aufsatz L'effet de réel, der für verschiedene Beiträge des Sammelbandes einen konstitutiven Bezugspunkt darstellt: "[...] alors qu'il s'agit au contraire, aujourd'hui, de vider le signe et de reculer infiniment son objet jusqu'à mettre en cause, d'une fa?on radicale, l'esthétique séculaire de la 'représentation'." (Barthes 2002: III 32) 6 Peters spielt hier auf die 2001 an der Yale University unter dem Titel "Back to Barthes" veranstaltete Tagung an, um die eigene perspektivische Wendung bzw. Konkretisierung zu markieren. Darin folgt sie jenem in den letzten Jahren generell zu beobachtenden Forschungsimpuls, der das grundlegende Sammeln und Vermessen der Texte Barthes' durch deren Aktualisierung in immer spezifischeren Fragestellungen ablöst. So verfolgte etwa die im September 2012 an der Freien Universität Berlin organisierte Tagung des DFG-Graduiertenkollegs "Schriftbildlichkeit" mit der Themenstellung "Die Sinnlichkeit der Zeichen - Roland Barthes' Aisthetik von Schrift und Bild" eine vergleichbare Zuspitzung (vgl. http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/schriftbildlichkeit, 18.10.2012). 7 Einzelne Verweise auf frühere Arbeiten Barthes', wie sie verschiedene Beiträge des Bandes aufnehmen, verfestigen jedoch den Eindruck einer durchgängigen Auseinandersetzung mit Evidenzen des Realen, auf die noch vermehrt einzugehen wäre. 8 "[...] nous accentuons maintenant, dans le tissu, l'idée générative que le texte se fait, se travaille à travers un entrelacs perpétuel; perdu dans ce tissu – cette texture – le sujet s'y défait, telle une araignée qui se dissoudrait elle-même dans les se´crétions constructives de sa toile." (Barthes 2002: IV 259) |