Joachim Wink (Berlin) Molière, für die Zukunft flottgemacht. Anmerkungen zu einem ParadigmenwechselWer Nietzsches Parole
"Gott ist tot" als Denkfigur oder Topos im 14. Jahrhundert
veranschlagt, wird mit dem Einwand rechnen müssen, daß eine solche Sichtweise
"anachronistisch" sei. Sie ist es nachweislich nicht (Pluta 1999),
doch scheint es in der wissenschaftlichen Praxis immer wieder Fakten zu geben,
die weniger akzeptabel sind als andere. Aber denken wir ruhig noch etwas
weiter: Wenn gängige Geschichtsbilder Konstruktionen sind, die im wesentlichen
dadurch zustandekommen, daß Vergangenheit der herrschenden Ideologie oder –
euphemistisch gesagt – dem "Zeitgeist" unterworfen wird, so müßten
sie eigentlich von "Anachronismen" geradezu überquellen. Genau das
tun sie wohl auch, wobei allerdings solche Zustände immer erst dann entdeckt
werden, wenn der Zeiger der großen Uhr ein gutes Stück weitergerückt ist. Steht
hingegen ein spezifischer "Zeitgeist" immer noch in Saft und Kraft,
so findet ein Heer gut oder schlecht bezahlter Intellektueller sein Auskommen
darin, ihm nach den Lippen zu reden und ideologisch nichtkonforme Gedanken
abzuweisen. Ein bequemes Mittel hierzu ist der stets griffbereite und scheinbar
unabweislich kluge "Anachronismus"-Einwand, wobei diejenigen, die ihn
erheben, sich nicht immer im klaren darüber sind, in was für einem Ausmaß nicht
nur andere, sondern auch sie selbst Gefühlslagen und Denkgewohnheiten ihres
eigenen Zeitalters in die Vergangenheit projizieren. Aus einer gewissen Distanz
betrachtet könnte es in der Tat so scheinen, als ob der eigentliche Sinn und
Zweck allen intellektuellen Arbeitens immer neuer Generationen darin bestünde,
dem "Zeitgeist" (hinter dem sich in Wirklichkeit maßgebliche
gesellschaftliche Kräfte verbergen) subjektive Aktualisierungen, Einfärbungen
und Umdeutungen von Vergangenheit zur Verfügung zu stellen. Mir scheint, daß
wir uns in dieser Hinsicht seit einigen Jahren in einer besonders "produktiven"
Phase befinden, was ich im folgenden anhand einiger Beispielen darlegen möchte,
die ich vor allem der aktuellen Forschungsdebatte um Molière entnommen habe. PhiN 61/2012: 37 Das "Huhn im Kochtopf" Betrachten wir ein erstes Beispiel, das bereits nicht
allzu fern von Molière liegt. Wenn Jürgen Grimm (dem ich für seine Studien zu
Molière und La Fontaine selbstverständlich alle Bewunderung zolle) in seinem
2005 erschienenen Lehrbuch Französische
Klassik im Zusammenhang mit der hohen Mitgift, die Maria de' Medici in ihre
Ehe mit Henri IV einbrachte, nicht nur behauptet, daß dadurch "die Tilgung
eines Großteils der Auslandsschulden Frankreichs" ermöglicht worden sei,
sondern auch noch den Satz "Dieser Schuldenabbau ist ein wichtiger Schritt
auf dem Weg zur wirtschaftlichen Konsolidierung des Landes" hinzufügt und
den gesamten Abschnitt mit der Überschrift "Maria von Medici – Sicherung
der Thronfolge und Schuldenabbau" versieht (Grimm 2005: 24), so wird eine
solche (übrigens von ihm durch keinerlei Literaturhinweis abgesicherte) Aussage
im Hinblick auf das 16./17. Jahrhundert sicherlich etwas fragwürdig erscheinen
müssen, so schön damit auch der Original-Ton beliebiger Presse-Erklärungen
deutscher Regierungspolitiker im 21. Jahrhundert getroffen wurde. Auch der
einige Seiten weiter auf Colbert bezogene Begriff des "Superministers"
(Grimm 2005: 37) ist insofern bezeichnend, als der im Oktober 2002 an die
Spitze eines "zusammengelegten" Wirtschafts- und Arbeitsministeriums
gestellte Reformpolitiker Wolfgang Clement landauf landab mit eben diesem Titel
benannt wurde. Zwar heißt es im Vorwort, daß sich dieses Lehrbuch "nicht
an Forscher, sondern an Studierende der französischen Literatur" richte,
weshalb "die Lesbarkeit der Darstellung [...] ein wichtiges
Kriterium" gewesen sei (Grimm 2005: VII); mir scheint jedoch, daß Sinn und
Zweck einer solchen "Lesbarkeit" nicht darin bestehen kann, mittels
modischer Begriffe und Gedankenkonzepte quasi einen Farbton vorzugeben, mit dem
wir dann die Vergangenheit anzupinseln haben. Tatsächlich ist ja die "ökonomische
Verantwortung", wie sie dem "schuldenabbauenden" Henri IV
zugeschrieben wird, nicht die einzige Pinselei, die sich Grimm erlaubt.
Mindestens ebenso zeittypisch auch seine folgende Behauptung:
Natürlich hat "frühaufklärerisches Geschichtsdenken" – wie jedes Geschichtsdenken überhaupt – feste Bezugspunkte gebraucht: Aber warum sollen diese nun unbedingt "utopisch" gewesen sein? Natürlich wurde das Edikt von Nantes von den Frühaufklärern zu propagandistischen Zwecken "stilisiert": Aber war es deswegen kein Toleranzedikt? Natürlich hat Voltaire seine Vorstellungen von Frieden, Toleranz, Menschlichkeit und gerechter Herrschaft auf Henri IV "projiziert": Aber heißt dies nun unbedingt, daß Henri IV mit solchen Idealen nichts zu tun hatte? PhiN 61/2012: 38 Es kann in der Tat schon etwas nachdenklich stimmen:
Während Grimm in dem oben angeführten Zitat die Ideen frühaufklärerischer
Geschichtsphilosophen so musterhaft mit "Stilisierung" und
"Projektion", mit "Utopie" und "Legendenbildung"
in Verbindung bringt, scheint er nicht zu ahnen, in welch bedrückendem Ausmaß
er selbst an einer aktuellen Zurechtdeutung von Vergangenheit mitwirkt. Diese
äußert sich nicht zuletzt in dem seltsamen Epitheton
"sozialpathetisch", als welcher von ihm der legendär gewordene
königliche Wunsch "Je veux que le dimanche chaque paysan de mon royaume
ait sa poule au pot" bezeichnet wird (Grimm 2005: 26). Ist damit nicht ein
Stichwort geliefert, mit dem sich letztlich sämtliche Ideale der Aufklärung mit
einem überlegenen Lächeln liquidieren lassen? Molière im SchützengrabenDas Etikett eines anderen, immer wieder neu
nachgefragten Farbtopfes lautet "Überlebenskampf". In Claude Bourquis
1992 veröffentlichten Untersuchung Polémique
et stratégies dans le Dom Juan de
Molière finden sich in den vorangestellten Zwischentiteln des ersten
Kapitels dicht gedrängt eine Reihe überlebenskämpferischer Bestimmungen:
PhiN 61/2012: 39 Nach dreizehnjährigem Durchstreifen der Provinz (so
heißt es weiter) habe Molière in Paris wieder Fuß gefaßt und von nun an
unablässig seine zwar immer beneidenswertere aber nie wirklich sichere Position
gegen Rivalen und Gegner aller möglichen Couleur mit größter Zähigkeit
verteidigen müssen. Es ist sogar von Schützengräben die Rede:
Neben einen "Molière penseur et philosophe",
"Molière artiste" und "Molière homme de théâtre" sei daher
auch ein "Molière combattant" zu stellen, ein "homme de luttes
et de polémiques", ein "belligérant d'une guerre théatrâle [...] qu'il
ne cherche guère à apaiser" (Bourqui 1992: 13). – Man kann nur dankbar
sein, daß dieser aufdringliche Topos des "Überlebenskampfes" schon
nach wenigen Seiten wieder in den Hintergrund tritt. Bourqui scheint damit
seine Leser vor allem an den Gedanken gewöhnen zu wollen, daß Molière nicht
immer nur die verfolgte Unschuld gewesen ist. Dies mag in der Tat ein
nützlicher Gedanke sein, mit dem sich manche Polemik gegen seine Stücke besser
verstehen läßt. Dennoch: Auch Bourqui hat die Vergangenheit willkürlich in
einem bestimmten Farbton angepinselt, und es scheint die neoliberale Wirtschaftsideologie
mit ihren Hochwertbegriffen „Wettbewerb“, "Konkurrenz",
"Durchsetzung" usw. gewesen zu sein, von der er die Farbtöpfe bezogen
hat. "Zirkumstanzialismus"Im Jahre 2010 veröffentlichen Georges Forestier und
derselbe Claude Bourqui, von dem gerade die Rede gewesen ist, im Rahmen der
neuen Pléiade-Ausgabe zu Molière eine
Notice über den Dom Juan, die in weiten Teilen nichts anderes als die Verteidigung
einer neuen und überaus fragwürdigen These ist. Der Zeiger der großen Uhr hat
sich ein gutes Stück weiterbewegt: Das Konzept des
"Überlebenskampfes" ist mittlerweile institutionalisiert und
gesamtgesellschaftlich verinnerlicht, so daß an der "Ideenfront"
dieser Farbton momentan etwas weniger nachgefragt wird. Was als neues Konzept
heraufdämmert, läßt sich vielleicht als "Zirkumstanzialismus"
bezeichnen. Ich meine damit ein gewisses Bemühen, das literarische Kunstwerk –
wie überhaupt jedes menschliche und soziale Phänomen – einem Bündel angeblich
alternativloser Sach- und Umweltzwänge zu unterwerfen, die plausibel machen
sollen, warum es genau zu dem werden mußte, was es dann auch tatsächlich
geworden ist. PhiN 61/2012: 40
Dann aber ist zunehmend von
"contraintes scénographiques" die Rede, und es folgt eine Flut an
spitzfindigen Deduktionen, wie und warum Molière sein Stück aus
bühnentechnischen Gründen so und nicht anders habe schreiben müssen. Mit Hilfe
technisch bedingter Kausalitäten werden dabei Erscheinungen gedeutet, die sich
ebenso auf andere Kausalitäten
zurückführen lassen, von denen man nun aber plötzlich nichts mehr wissen will.
So sei es z.B. allein den bühnentechnischen Zwängen geschuldet, daß Molière die
Statue des Kommandanten nicht einfach nur – wie dies seine Vorgänger taten – im
letzten Akt, sondern in den letzten drei
Akten auftreten läßt:
Vielleicht sollten wir uns
(wenn wir für einen Moment die Annahme akzeptieren wollen, daß die dichterische
Produktion erst nach dem „marché de
décors“ begonnen habe)1 an dieser Stelle einfach einmal fragen, was aus dem
Stück geworden wäre, wenn Molière nach der Auftragserteilung der Bühnenbilder plötzlich
gestorben und ein anderer Autor für ihn eingesprungen wäre. Hätten Forestier
und Bourqui mit ihrer These Recht, so würde dies bedeuten, daß jener andere
Autor das gleiche Stück verfaßt hätte: Auch
er hätte die Statue nicht nur im letzten Akt, sondern in den letzten drei
Akten auftreten lassen. Auch er wäre
gezwungen gewesen, die Szene des Festmahls aus Schlangen und Skorpionen zu
streichen. Auch er hätte sich, um das
Publikum dafür zu entschädigen, eine neue Gruselszene mit einem Gespenst
ausgedacht, welche auch er –
"invité par son décor à immobiliser dans une rue durant tout un acte un
Dom Juan en attente de son châtiment" (Forestier/ Bourqui 2010: 1628) –
dazu verwendet hätte, den fünften Akt zu füllen usw. usf. Dies alles glaube,
wer wolle. Offenbar wird hier mit allen Mitteln versucht, Molières originelle
Bearbeitung des Stoffes auf möglichst ideologieferne Zusammenhänge
zurückzuführen – aus welchen Gründen auch immer. PhiN 61/2012: 41 Rückzug aus der gesellschaftskritischen PerspektiveWorum es in Wirklichkeit
geht, wird meines Erachtens gegen Ende der Notice
deutlich, wo sich die beiden Autoren überraschend gegen die bislang unstrittige
Forschungsmeinung stellen, daß der Dom
Juan ein Skandalstück gewesen und wenn nicht offiziell verboten, so doch
aus opportunen politischen Gründen ab dem 20. März 1665 nicht mehr aufgeführt
wurde. "Rien ne vient corrober cette interprétation traditionelle"
(Forestier/ Bourqui 2010: 1642) heißt es nun plötzlich kühn, ja man behauptet
sogar, daß sich eine solche Meinung "exclusivement" auf das Pamphlet
von Rochemont stütze. Dem ist natürlich nicht so, und Bourqui, dessen 1992
erschienene Monographie über den Dom Juan
hierzu sehr lesenswerte Ausführungen enthält, hätte dies eigentlich selbst
am besten wissen müssen. Nun aber ist er sich seltsamerweise nicht zu schade,
die Frage, warum es keine weiteren Aufführungen gab, mittels Spekulationen um
einen "dispositif scénique assez lourd [...] qu'il devait être difficile
de manœuvrer dans un Palais-Royal encore en mauvais état et mal équipé pour les
machines" (Forestier/ Bourqui 2010: 1643) erneut auf das Bühnentechnische
zu reduzieren, oder die Frage, warum Molière von seinem Druckprivileg keinen
Gebrauch machte, mit der seltsamen Gegenfrage "avait-il même des raisons
de publier la brillante rhapsodie qu'il avait composée?" (Forestier/
Bourqui 2010: 1643) vom Tisch zu wischen. Der gemeinsame Nenner solcher
Neubestimmungen aber ist, daß gegenüber den unverändert offenen Fragen nicht
mehr soziale und politische Gründe in Erwägung gezogen werden, sondern nur noch
beliebige andere Gründe, die in
möglichst komplizierter, spitzfindiger, ja überschlauer Weise aus sachlichen
Zwängen abzuleiten sind. Wie man die Katze aus dem Sack läßt...Dieser bewußt oder unbewußt
vollzogene Rückzug aus der gesellschaftskritischen Perspektive (von dem mir
scheint, daß er das zeitgemäße dieses
wissenschaftlichen Textes aus dem Jahre 2010 ausmacht) zeigt sich besonders
deutlich in der Neubewertung der Observations
des Sieur de Rochemont (ich meine die Observations
sur une comédie de Molière intitulée Le Festin de Pierre des bis heute
nicht näher identifizierten Sieur de Rochemont, welche nur wenige Wochen nach
der Aufführung des Stücks erschienen sind und in denen Molière vorgeworfen
wird, den christlichen Glauben zu zerstören), die Forestier und Bourqui am Ende
ihrer Notice überraschend vornehmen.
Nachdem sie ihre editorische Entscheidung für die unzensierte Amsterdamer
Fassung begründet haben, schließen sie ihren Forschungsbericht – in cauda venenum – mit folgenden Worten:
PhiN 61/2012: 42 Daß in der 1682 erschienenen
Pariser Fassung die gleichen Stellen zensiert wurden, an denen bereits
Rochemont 1665 Anstoß genommen hatte, wurde von der bisherigen Forschung immer
als Bestätigung gewertet, daß diese Stellen tatsächlich "Sprengstoff"
enthielten. Nun wird die Sache plötzlich so hingedreht, daß jene zensorischen
Übereinstimmungen doch eigentlich nur beweisen würden, wie sehr sich Rochemonts
künstliches Alarmgeschrei in den Köpfen der Menschen – darunter auch denen der
polizeilichen Zensoren – festgesetzt habe. Als ob es nie eine Cabale des dévots gegeben und Molières
Freidenkertum nie im Widerspruch zum katholischen Glauben gestanden hätte!
Damit aber wird eben rasch einmal ein jahrzehntealter Forschungskonsens
aufgekündigt, zu dessen Illustration ich keine unverdächtigere Stimme zu
zitieren wüßte als die des Autors der Morales
du grand siècle:
Nicht, daß sich seit Paul
Bénichou an den zur Beurteilung dieser Frage relevanten Wissensgrundlagen etwas
geändert hätte; oder daß sich Forestier und Bourqui auch nur die Mühe gemacht
hätten, ihre neue Sichtweise auf Rochemont und dessen Pamphlet näher zu
begründen. Wie immer zu Beginn einer Revisionismus-Bewegung kommt es vielmehr
darauf an, in möglichst beiläufiger Weise implizite
Behauptungen zu verbreiten.2 Offenbar rechnet man damit, daß es an neuen und
"unvoreingenommenen" Köpfen, die sich im Laufe der nächsten
Jahrzehnte um "wissenschaftliche" Nachbesserung bemühen werden, schon
keinen Mangel haben wird. ... und wo der Hund begraben liegtDer Zug, auf den Claude Bourqui und Georges Forestier in ihrem oben zitierten Schlußsatz noch eben
rasch aufgesprungen sind, befindet sich seit 2007 in voller Fahrt. Damit meine
ich die von François Rey in Molière et le
Roi. L'affaire Tartuffe veröffentlichten Thesen. Das über vierhundert
Seiten dicke Buch ist in Dialogform verfaßt, wobei dem 1921 geborenen
Journalisten und Autoren Jean Lacouture – dessen Leben emblematisch für den
Wandel vom kommunistischen Revolutionär zum Träger des Ordens der Ehrenlegion
stehen könnte – meist nur die Rolle des staunenden Skeptikers, geistreichen
Witzemachers oder heimlichen Stichwortgebers zufällt. Auf mehr als siebzig
Seiten (Rey/Lacouture 2007: 147‒220) geht Rey auf die Debatte um den Dom Juan ein, den er als wichtige
Station im Kampf Molières um die königliche Gunst wertet. Dabei hat auch er mit
dem üblichen Mangel an historischen Zeugnissen zu kämpfen, der von der
Molière-Forschung seit jeher beklagt wird.3 Gerade
über die Rezeption des Tartuffe und
des Dom Juan ist aus der Feder von
Molières eigenen Zeitgenossen wenig zu erfahren – einmal abgesehen von den
allseits bekannten Polemiken, Gegenpolemiken und Bittschriften, wie sie jede
kritische Edition in ihrem Anhang mitliefert. Während aber einst ein Georges
Mongrédien das Schweigen um Molière mit dessen sozialer Situation begründete,4 gelangt
man hier – speziell in Bezug auf den Dom
Juan – zu einer völlig anderen Sichtweise: PhiN 61/2012: 43
Aus dem Negativum (Mangel an Quellen zu einem wichtigen Ereignis) wird durch Zauberhand ein Positivum: Eben weil es so wenig schriftliche Zeugnisse
gebe, könne auch nichts Wichtiges passiert sein! Eine solche "These"
zieht natürlich eine unabsehbare Reihe weiterer Umdeutungen nach sich. Immerhin
gibt es ja drei bedeutende Quellentexte (die Observations des Sieur de Rochemont, die Réponse aux Observations und die Lettre sur les Observations), welche über die Rezeption des Dom Juan Auskunft geben und noch im Jahr
der Aufführung als Broschüre gedruckt und gehandelt wurden, sowie einige
weitere Zeugnisse aus dem 17. Jahrhundert (sie werden im folgenden Zitat
aufgezählt werden), welche samt und sonders den Eindruck eines Skandalstücks
belegen. Reys Kunstgriff zur Entkräftigung dieses Eindrucks besteht nun darin,
dem Sieur de Rochemont bzw. dem unbekannten Autor, der sich hinter diesem
Pseudonym verbirgt, bewußte Falschaussagen zu unterstellen. Er bleibt dabei
durchaus im Vagen und vermeidet es, die Argumentation Rochemonts, welche er
pauschal als "pas claire", "peu rectiligne" und
"caotique" bezeichnet (Rey/ Lacouture 2007: 189), in irgendeiner
Weise nachzuzeichnen. Zugleich versucht
er als plausibel zu verkaufen, daß diese Falschaussagen von anderen übernommen
und sich unter stetigem Rückgriff auf die Observations
bis auf den heutigen Tag perpetuiert hätten. Die Observations seien ein "texte fondateur"...
PhiN 61/2012: 44 Kurz: Es habe in Wirklichkeit nie einen Skandal um den Dom Juan
gegeben. Alle, die sich jemals zu diesem Stück geäußert hätten – von Molières
eigenen Zeitgenossen über sämtliche Experten des 19. und 20. Jahrhunderts bis
hin zum heute lebenden Französischlehrer oder Theaterregisseur – hätten sich
von dem zu propagandistischen Zwecken erkünstelten Unsinn, den Rochemont einst
verzapft habe, in die Irre führen lassen! Molière als FalschmünzerUnd um dem Ganzen noch die
Krone aufzusetzen: Die Observations
seien eine regelrechte Fälschung ("un faux"), die von niemand anders
als Molière selbst zur Erreichung seiner strategischen Ziele in Umlauf gebracht
worden sei. Welcher "auteur impossible", welcher "monstre"
könne denn auch im Frankreich Ludwigs XIV. einen solch "bizarren",
"widersprüchlichen" und "unhaltbaren" Text wie die Observations verfaßt haben? (Rey/ Lacouture
2007: 194f.) Und weiter:
Damit wird so getan, als ob Molière von der Kirche und den "dévots" wenig
zu befürchten hatte. So wenig, daß er ohne Risiko für sein eigenes Wohlergehen
und das seiner Truppe böse Brandschriften gegen sich selbst verfassen und mit
besonderem Fleiß – allein im Jahr 1665 erfuhren die Observations ganze fünf Auflagen (Mongrédien 1986: 69) – in Umlauf
bringen konnte. Wüßte man nicht mit Bestimmtheit, daß ein berühmter deutscher
Diktator sein über siebenhundertseitiges Pamphlet gegen das
"Weltjudentum" eigenhändig niederschrieb, so hätten wir – wenn wir
dieser Logik einmal folgen wollen – allen Grund zu der Annahme, daß auch hier
eine "Fälschung" vorliege. Damit möchte ich nur sagen: Wer
potentiellen Opfern der Verfolgung ein Interesse zuspricht, sich durch
absichtlich in Umlauf gebrachte Fälschungen selbst zu stigmatisieren, der
sollte zunächst einmal sehr sorgfältig die Täterseite analysieren. Genau dies
aber scheint Rey nicht getan zu haben: Die cabale
des dévots ist für ihn schlicht inexistent, wie z.B. deutlich wird, wenn er
von einer "interdiction qui frappait, pour des raisons encore peu claires,
une pièce que tout Paris attendait" (Rey/ Lacouture 2007: 200) spricht und
damit das Tartuffe-Verbot meint. PhiN 61/2012: 45 Man darf wohl vermuten, daß
ein Georges Mongrédien, ein Antoine Adam oder auch ein Georges Couton (der die 1971 erschienene Vorgänger-Ausgabe der Œuvres
complètes de Molière in der "Pléiade" besorgte) über Reys Thesen
nicht wenig gestaunt hätten. Vielleicht wären sie ihnen in dieser Form – der
dramaturgisch zurechtmontierter Dialoge – auch gar nicht der Rede wert gewesen.
Anders die Herausgeber der neuen Pléiade-Ausgabe,
welche Rey nicht nur in zwei Fußnoten hofieren,5 sondern
auch – wie im vorletzten Abschnitt gezeigt – seine Beurteilung der Observations zumindest in soweit
übernehmen, als auch sie jenem Text eine Irreführung unterstellen, die sich in
bestimmender Weise auf die zeitgenössische Rezeption und die zeitgenössische
Zensur ausgewirkt habe. In etwas seltsamem Licht erscheint dabei vor allem
Bourqui, der ja in jüngeren Jahren explizit die Wichtigkeit der Observations für eine historisch
einfühlsame Interpretation des Stückes hervorgehoben und für seine eigene
Untersuchung in Rechnung gestellt hat (Bourqui 1992: 9). War er damals
schlauer? Oder hat er in der Zwischenzeit dazugelernt? Oder ist einfach nur der
Zeiger der großen Uhr ein Stück weitergerückt? Molière MachiavelWer sich nun fragen sollte,
was Rey dazu motiviert haben mag, die aus dem katholisch-gegenreformatorischen
Milieu Molière mit aller Macht entgegenschlagende Feinschaft zu verharmlosen
und die seltsame These aufzustellen, daß die Observations eine von Molière selbst lancierte Fälschung gewesen
seien, mit der es ihm in schlauer Berechnung gelungen sei, die Protektion
Ludwigs XIV. zu gewinnen, der findet zumindest auf diese Frage eine klare
Antwort. Es gibt nämlich in jenen gelehrten "Dialogen" (bei denen man
wie üblich nicht weiß, wieviel davon im Nachhinein zurechtmanipuliert wurde)
eine Stelle, an der Rey ein längeres Zitat einbringt, das ihn besonders zu
ärgern scheint. Wir erfahren, daß irgendein Autor in irgendeiner neueren
Pocket-Ausgabe des Dom Juan sich die
Freiheit genommen habe, über Rochemont und die hinter ihm stehende kirchliche
Macht ein paar höhnische Sätze zu äußern. Obwohl diese Sätze durchaus nicht
dumm sind,6 oder jedenfalls nicht dümmer als das meiste von dem,
was Jean Lacouture und François Rey in ihren „Dialogen“ gemeinsam zum besten
geben, beeilt sich ersterer, den Text als "ridicule" und dessen
namentlich nicht genannten Autor als einen "imbécile" zu
klassifizieren. Dann wieder Rey:
PhiN 61/2012: 46 Hier fällt tatsächlich eine
Maske. Es ist nicht mehr religiöser Glaube (zumal katholisch-dogmatischer Art),
der in der Tradition der Aufklärung als "obstacle à la connaissance"
betrachtet wird; vielmehr sei es der kirchenfeindliche Diskurs, der sich
heutzutage als ein Hindernis für die wissenschaftliche Erkenntnis erweise. So
habe aus Molière, der in Wirklichkeit den Skandal um sein Stück frei erfunden
habe ("Rochemont-Molière crée de toutes pièces le scandale que Le Festin de Pierre n'a pas
soulevé"), ein "parangon d'innocence en butte à la haine d'une meute
de cabaleurs dévots" werden können (Rey/ Lacouture 2007: 196, 205). Je
fanatischer er sich selbst in den Observations
an den Pranger zu stellen wußte, desto dankbarer habe die mit antiklerikalen
Vorurteilen aufgeladene Nachwelt in ihm ein Opfer kirchlicher Verfolgung bzw.
einen Befreier aus religiöser Finsternis erblicken wollen:
Der in diesem Satz enthaltene
Irrealis ist nicht etwa so zu verstehen, daß die Observations Molière tatsächlich hätten gefährlich werden können.
Rey sieht in ihnen nichts weiter als einen "texte impossible", der
nie und nimmer zu einer realen "Anklagerede" getaugt hätte. Allein
der dringende Wunsch, in Molière das Opfer religiösen Fanatismus' zu sehen,
habe bisher an die Authentizität jenes Textes glauben lassen:
Wir modernen Leser hätten also gerne, daß Molière mit
der Kirche und gewissen ihr in Sorge verbundenen Kreisen zu kämpfen gehabt
hätte, da dies unserem wunschhaften Geschichtsbild entspräche. In Wirklichkeit
aber habe es gar nichts zu kämpfen gegeben. Molière tat nur so, als ob er mit
der Kirche zu kämpfen hatte, und genau dies brachte ihm die Bewunderung einer
an laizistischen (und wer weiß was sonst noch für seltsamen) Fortschrittsideen
ausgerichteten Nachwelt ein. – So also läßt sich Gesellschaftskritik ad acta legen, ja eigentlich in den
Mülleimer kehren. Was auf dem in solch aberwitziger Weise leergeräumten Feld
übrigbleibt, ist ein Molière Machiavel,
der nicht einmal Lacouture sonderlich zu behagen scheint ("J'admire
Machiavel, mais je ne l'associais pas jusqu'ici à Molière" – Rey/
Lacouture 2007: 204), und natürlich jede Menge Raum für "zirkumstantialistische"
Konstruktionen, wie sie Bourqui und Forestier in ihrer jüngsten Notice zum Dom Juan vorgelegt haben. PhiN 61/2012: 47 FazitSämtliche der hier angeführten Beispiele aus den
Jahren 1992, 2005, 2007 und 2010 haben – wie mir scheint – etwas gemeinsam: Es wird
ein bewußt kühler und distanzierter Blick auf einen Abschnitt der Vergangenheit
geworfen, der traditionell für die ideologische Heranbildung der französischen
Aufklärung und französischen Revolution steht. Was es mit dieser Bewegung auf
sich hatte, wird teils übergangen, teils bagatellisiert oder auch zu einem
Großteil schlicht und einfach ignoriert. Zugleich scheint ein Interesse an
einem neuen Molière zu bestehen: Ein sich "gegen die Konkurrenz
durchsetzender", ein "technischen Zwängen" unterworfener, ein "die
öffentliche Meinung manipulierender" Molière. Daß solche Thesen nicht von
vornherein als anachronistisch
empfunden werden, hat wohl mit dem derzeit herrschenden "Zeitgeist"
zu tun. BibliographieBénichou, Paul (1967): Morales du grand siècle. Paris: Gallimard. Forestier, Georges / Bourqui, Claude (2010): Molière. Œuvres complètes. 2 Bde. Paris: Gallimard Forestier, Georges (1986): Langage dramatique et langage symbolique dans le Dom Juan de Molière, in: Dramaturgies, langages dramatiques: Mélanges
pour Jacques Scherer. Paris: Nizet, 193-305. Molière (1971): . Œuvres complètes. 2 Bde., hg. v. Georges Couton. Paris: Gallimard. (Bibliothèque de la Pléiade) Mongrédien, Georges (1973): Recueil des textes et des documents du XVIIe siècle relatifs à Molière, 2 Bde., Paris: Éd. du Centre National de la Recherche Scientifique. Mongrédien, Georges (1986): Comédies et pamphlets sur Molière. Paris: Nizet. Rey François/ Lacouture, Jean (2007): Molière et le Roi. L'affaire Tartuffe. Paris: Éd. du Seuil. PhiN 61/2012: 48 Anmerkungen
1 Übrigens eine Annahme, der Forestier vor etlichen Jahren vermutlich selbst als erster widersprochen hätte: "Grâce au 'Devis des ouvrages de peinture' passé par la troupe de Molière pour la représentation de Dom Juan [...], on sait qu'au 3 décembre 1664, deux mois et demi avant la première de la pièce, Molière était tellement avancé dans l'écriture de sa comédie qu'il pouvait déjà passer commande des nombreux décors nécessaires à sa représentation. On est loin du Dom Juan écrit et monté en quelques semaines au début de 1665, que nous présente la tradition. " (Forestier 1986: 303) 2 So schreiben etwa auch die beiden Autoren in ihrer Notice zum Tartuffe, daß die Tartuffe-Bittschriften und das Tartuffe-Vorwort Polemiken seien, die mit Molières ursprünglich mit diesem Stück verbundenen Absichten wenig zu tun hätten (" [des textes] d'une rare habileté polémique et qui ont conféré à l'œuvre des significations éloignées, semble-t-il, des intentions premières du dramaturge") (Forestier/ Bourqui 2010: 1358); daß Molière mit seiner ersten Bittschrift versucht habe, sich als Opfer eines Komplotts auszugeben, um im Nachhinein die Angriffe in seinem Stück zu rechtfertigen ("de se présenter comme la victime d'un véritable complot ourdi par des hypocrites et des fanatiques, ce qui légitimait a posteriori sa comédie dans laquelle il dénoncait ces même hypocrites") (Forestier/ Bourqui 2010: 1360); ja daß es diesen Komplott außer in der Phantasie antiklerikaler Historiker überhaupt nie gegeben habe ("Point n'est besoin d'invoquer, comme on le fait depuis le XIXe siècle, un complot ourdi par quelque société secrète de dévots, en particulier une 'Compagnie du Saint-Sacrement' qui, loin d'être l'hydre tentaculaire décrite par les historiens français du début du XXe siècle, influencés par le violent anticléricalisme de leur temps, était combattue depuis 1660 par le pouvoir royal et alors quasiment anéantie") (Forestier/ Bourqui 2010: 1359). Genaue wissenschaftliche Begründungen für diese Behauptungen stehen meines Wissens immer noch aus. 3 "Ils [les témoignages littéraires] sont extraordinairement peu nombreux; si l'on met de côté certains textes universellement connus de Boileau et de Racine, de Chapelle et de Dassoucy, de Perrault et de la Bruyère, de Bourdaloue et de Bossuet, le reste est presque négligeable et ne nous apprend rien sur Molière et sur son œuvre. Son nom ne revient qu'occasionellement dans les mémoires et les correspondances, à propos d'une réminiscence, d'une allusion rapide. Si l'on ajoute à cela la disparition étonnante, que certains ont voulu croire mystérieuse, des manuscrits et des lettres de Molière, on en vient à se poser le problème: comment expliquer cette rareté de témoignages contemporains sur une œuvre dramatique qui a cependant remporté un grand succès auprès du public et qui a été jugée à sa valeur par les lettrés et les amateurs de théâtre?" (Mongrédien 1973: 14f.) 4 "[...] pour les contemporains, Molière n'est qu'accessoirement un auteur; c'est d'abord un comédien et plus précisément un bouffon, – dont les adversaires soulignent à plaisir la «scurrillité» – ; pour un homme de cour, ou même pour un bourgeois, c'est un Scaramouche français, dont on admire volontiers le jeu comique, sans penser que ses œuvres dramatiques puissent mériter un examen approfondi, des études de «doctes». En somme, un amuseur aux grimaces duquel on va rire, et qu'on oublie en rentrant chez soi. Ajoutons à cela les préjugés de l'époque contre la profession de comédien – qu'on se souvienne de la malédiction de Bossuet renouvelée de celle du curé Roullé – la lutte de Moliére contre le parti dévot, la hardiesse de Tartuffe et de Dom Juan à son égard, les incidents scandaleux qui ont accompagné son enterrement, et l'on conviendra mieux qu'un honnête homme du XVIIe siècle n'ait pu mettre un Corneille, bourgeois honorable, ou un Racine, homme de cour et historiographe du Roi, sur le même pied que le badin Molière." (Mongrédien 1973: 15) 5 In der ersten Fußnote (Forestier/ Bourqui 2010: 1625) wird Reys These, daß die Observations eine von Molière lancierte Fälschung gewesen seien, kurz präsentiert und gleichsam zur Diskussion in den Raum gestellt. In der zweiten Fußnote (Forestier/ Bourqui 2010: 1642) wird als gesicherte neue Erkenntnis verkauft, daß sich La Grange in seinem "Registre" bezüglich des Datums der Übernahme der Truppe durch den König und der Auszahlung von 6000 livres um über zwei Monate geirrt habe. Wo ist die Publikation, in der Rey seine entsprechenden Behauptungen in angemessener wissenschaftlicher Form dargelegt hätte? 6 "À une époque oublieuse (la nôtre) où l'on a trop tendance à rejeter dans les ténèbres d'une sorte de honteux Moyen Âge culturel, comme obscène et anachronique, la condamnation par le tribunal informel de l'intégrisme musulman, du malencontreux Salman Rushdie et de ses inoffensifs Verses sataniques, il est bon de se remémorer un temps où l'Église chrétienne elle aussi savait être mortifère. Laissons donc la parole au bon sieur de Rochemont, qui s'abrite derrière la justice du roi très-chrétien pour assouvir sa haine contre une pièce qu'il n'a pu s''empêcher de voir', entraîné 'par la foule' tel l'agneau innocent vers le merlin du sacrificateur. Laissons à sa charité le soin de rappeler qu'autrefois on condamnait 'aux bêtes des farceurs qui tournaient en dérision nos cérémonies'. Las! soupire notre délicieux docteur de la foi, autres temps, autres mœurs! La décadence présente a produit un bien fâcheux laxisme! " (Zit. nach Rey/ Lacouture 2007: 190) |