In Zeiten, in denen die Tendenz auch in der Klassischen Philologie dahin
geht, den Realitätsgehalt antiker Literatur gegenüber den intertextuellen
Beziehungen als von weitgehend marginaler Bedeutung zu betrachten (vgl.
meine Besprechung von N. Holzberg, Ovid, 1997, Gymnasium 105, 1998, 358-361),
wirkt ein Titel wie Sabinum. Horaz und sein Landgut im Licenzatal
fast altmodisch. Doch E.A. Schmidts Buch ist keineswegs ein Aufguß
wissenschaftsgeschichtlich überholten antiquarischen Fleißes,
sondern ein mit großem intellektuellen Vergnügen und nicht minderem
Gewinn zu lesender, wichtiger Beitrag zu Horaz und zum Verständnis
antiker Literatur überhaupt.
PhiN 6/1998: 34 Ein Musterbeispiel ist die Behandlung von sat. 2,6 (56-73). Auf eine allgemeine Bestimmung des "unsatirischen" Charakters der horazischen Satire werden die dem Sabinum gewidmeten Verse besprochen. Auf den lateinischen Text und die Voßsche Übersetzung folgt die Interpretation. In der viel traktierten Fabel von der Stadt- und der Landmaus lehnt Schmidt die Ansicht (von Seeck und Holzberg) ab, Horaz wolle damit sein Verhältnis zu Maecenas charakterisieren. Vielmehr schließt er sich D. West an: Die "Fabel gilt der Stadtmaus in uns, in Cervius, in Maecenas, in Philologen und anderen Lesern". Insgesamt werde in sat. 2,6 das Sabinum zum Symbol der Zufriedenheit, das "seinen Sinn und Lebenswert als Ort und Gelegenheit lebensphilosophischer Reflexion" erweist. Diese Zufriedenheit und die zugehörige Selbstbescheidung stimmen auch zur sozialen Realität, zur Größe von Horazens Landgut. Oder die Interpretation der Sabinumoden (77-125): Die sechs Gedichte sind gleichmäßig auf die drei Bücher der ersten Odensammlung verteilt, ja sie bilden durch ihre gemeinsame Thematik "Friedlichkeit und Gewaltlosigkeit der lyrischen Sabinumverarbeitung" (80) einen eigenen Zyklus innerhalb des Werks. Nach dieser allgemeinen Bestimmung werden die einzelnen Oden in werkchronologischer Reihe vorgestellt, nach Text und Übersetzung von Fall zu Fall entweder in kommentarartiger Einzelerklärung oder in zusammenhängender Darstellung, bisweilen auch beides zusammen, so bei der Ode 2,18 (non ebur neque aureum): S. stellt zunächst im allgemeinen heraus, wie Horaz das in der Antike verbreitete Thema der Kritik am Bauluxus (als dessen positiver Gegenpol das Sabinum erscheint) mit der Todesthematik (individuell akzentuiert durch das Prometheus-exemplum) verknüpft. Dann unterzieht er einzelne Verse und Begriffe einer genaueren Inspektion, woraus sich am Ende (gegen Nisbet-Hubbard) für ihn das harmonische Einverständnis des Armen und Leidenden selbst mit dem Tod ergibt, während der Reiche und Mächtige gewaltsam aus dem Leben gerissen wird. Es fällt weiter auf, daß das Sabinum offenbar erst in der letzten Lebens- und Schaffensperiode des Horaz – im 2. Buch der Briefe und im 4. Odenbuch – keine Rolle mehr spielt. Ob das darauf zurückzuführen ist, daß das Thema nun "poetisch verbraucht" war (54) oder nicht doch eher, daß sich bei Horaz mit fortschreitendem Alter auch die äußeren Lebensumstände änderten, darüber läßt sich mangels external evidence nur spekulieren. Der letzte große Abschnitt III. Hermeneutische Reflexionen (176-187) ist der kürzeste, zugleich aber der grundsätzlich wichtigste, denn dort geht es um die Frage, wie die Kenntnis von Horazens Landgut das Verständnis seiner Gedichte prägt, oder anders ausgedrückt: wie es möglich ist, aus archäologisch erfaßten Realien nicht nur ornamentale Illustrationen eines schon verstandenen Textes, sondern ein Medium interpretatorischer Erkenntnis zu gewinnen. Das Wissen um den archäologischen Befund erst zeigt, daß sich aus Horazens Dichtung tatsächlich ein zutreffendes Bild seines Landgutes gewinnen läßt. Damit wird in die traditionell weitgehend von der Frage nach den griechischen Vorbildern und der Fiktion bestimmten Diskussion ein realistisches, römisches (oder vielleicht eher: italisches) Korrektiv eingeführt. Doch gerät Horaz das (anders als bei Cicero oder Plinius) nicht zu einer detaillierten Architekturbeschreibung, sondern es bleibt eine "idyllische Ideallandschaft". Mit Recht betont Schmidt, daß die Gewißheit über den Realitätsgehalt für das Verständnis von Horazens Dichtung ähnlich entscheidend ist wie etwa bei Ovids Exilpoesie, daß die Entdeckung des Sabinums die Wahrnehmung in ähnlicher Weise verändert hat wie die Entdeckung Troias durch Schliemann das Verständnis der Ilias. PhiN 6/1998: 35
Und
es wäre zu wünschen, daß möglichst viele Leser diese
hermeneutische Lust mit der Lektüre von Schmidts Buch in Horazens Sabinum
selbst erleben können.
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