Paola Quadrelli (Turin) Kristin Felsner (2010): Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung: Christa Wolf und Uwe Johnson. Göttingen: V&R Unipress (=Johnson-Studien 10)Auf thematisch-inhaltliche Ähnlichkeiten und strukturelle Parallelen zwischen der Erzählkunst Uwe Johnsons und der Christa Wolfs hat die Kritik mehrmals verwiesen.1 Schon die Lebensläufe der beiden Autoren weisen bedeutende Parallelen auf: Sowohl Wolf (geb. 1929) als auch Johnson (geb. 1934) erlebten den Nationalsozialismus in der Schule, lernten später den Sozialismus in der DDR kennen, studierten Germanistik in Leipzig (Johnson zuerst in Rostock) und fingen dann ihre Karriere als Schriftsteller am Ende der fünfziger Jahre an. Ab 1959 trennten sich allerdings ihre Wege: Johnson siedelte, zur Zeit der Publikation seines ersten Romans bei Suhrkamp, nach West-Berlin um, während Christa Wolf im Osten blieb, wo sie bald zu einer anerkannten, obgleich nicht immer Partei-konformen DDR-Autorin avancierte. In einem Aufsatz über die produktive Rezeption von Uwe Johnson in der deutschsprachigen Literatur, resümierte Uwe Neumann die direkten Bezüge zwischen Wolfs und Johnsons Werk, die sogar einige Kritiker veranlasst hatten, (ungerechte) Nachahmungs- oder "Plagiats" Vorwürfe gegen Christa Wolf zu erheben. (Neumann 2001) Der geteilte Himmel (1963), bemerkte Neumann, "setzt just dort ein, wo die Mutmassungen über Jacob (1959) aufhören", und zwar auf den Gleisen, wo Jacob stirbt und wo Rita nach einem Selbstmordversuch gefunden wird; in Nachdenken über Christa T. (1968) setzt Wolf eine reflektierende und retrospektive Annäherung an die Figur der verstorbenen Freundin fort, die schon im ersten Roman Johnsons in Bezug auf den verstorbenen Jacob Abs angesetzt wurde; Kindheitsmuster (1976) stehe schließlich – laut Neumann – "in der Nachfolge der Jahrestage" (deren erste drei Bände zwischen 1970 und 1973 erschienen), sowohl was die "Vergangenheitsbewältigung" (Neumann 2001: 22) als auch die Erzählperspektive und die kompositorische Anlage betrifft. In der Einleitung ihrer umfangreichen (über 600 Seiten) an der Universität Erlangen beim Uwe Johnson-Forscher Holger Helbig verfassten Dissertation bewertet Kristin Felsner zuerst die vorliegende Sekundärliteratur. PhiN 55/2011: 72 Durch eine systematische Analyse der Werke von Johnson und Wolf, die auch die neuesten Ergebnisse des deutsch-deutschen Literaturdiskurses berücksichtigt, beabsichtigt Kristin Felsner, nicht nur das Erzählwerk der beiden Autoren besser zu beleuchten, sondern auch einen Beitrag zu einer "Beziehungsgeschichte von BDR-und DDR-Literatur" zu leisten, wie sie von Helmut Peitsch in einem Aufsatz aus dem Jahr 2007 gefordert wurde.2 Eine wohlbegründete Ambition der von Felsner unternommenen Arbeit ist es gerade, ein Instrumentarium zu erproben, das sich auch "für weitere Gegenüberstellungen ost- und westdeutscher Autoren und Werke nutzen und variieren" lässt (Felsner 2010: 647). Die Autorin gliedert ihre großangelegte Arbeit in sechs Kapiteln, in denen jeweils ein Aspekt im Werk beider Autoren fokussiert wird: die Poetik, das Erzählen, die Beziehung zwischen Staat und Individuum, die Heimatthematik und schließlich die Geschichtsmodelle. Im Zentrum von Felsners Analysen stehen immer zwei Werke von Johnson und Wolf gegenüber, die Ansätze für einen fruchtbaren Vergleich hinsichtlich des ausgewählten Themas bieten. So wird nicht das gesamte Werk von Johnson und Wolf in Betracht gezogen, sondern nur diejenigen Werke, die "für einen Vergleich aufgrund struktureller und inhaltlicher Ähnlichkeiten besonders geeignet sind" (21); daher sind der Roman Zwei Ansichten von Johnson, der mit Wolfs Geteiltem Himmel inhaltlich aber nicht strukturell vergleichbar wäre, sowie die in einem mythischen oder historischen Kontext angesiedelten Werke von Wolf (wie Kassandra und Medea) aus der Analyse ausgeschlossen. Wichtig ist es eher für Felsner, einen "Ausgangspunkt zu schaffen" und Kriterien für den Vergleich zu entwickeln. Den originellsten Beitrag zu der vergleichenden Analyse des Werks Johnsons und Wolfs bietet die Autorin gerade im zweiten Kapitel ihrer Arbeit an (25-81), wo sie auf die Poetik der beiden Schriftsteller eingeht und jeweils zwei poetologische Texte von Johnson und Wolf gegenüberstellt. PhiN 55/2011: 73 Die Auseinandersetzung mit Lukács und die Ablehnung des allwissenden Erzählers betreffen bei Johnson auch seine Ablehnung der Thesen, die Lukács in seinem berühmten Aufsatz "Erzählen oder beschreiben?" (1936) vertrat, wo der ungarische Kritiker dem Modus des Erzählens den Vorrang einräumte, gerade weil Autoren, die sich der erzählenden Methode bedienen, im Vergleich mit "beschreibenden" Autoren, über eine Weltanschauung verfügen. Sie arbeiten mit dem Einsatz eines allwissenden Erzählers, der für den Leser die Themen auswählt, und sie im Sinne der sozialistischen Ideologie filtert und deutet. Die große und unüberbrückbare Distanz Johnsons zu Lukács und auch zu Christa Wolf besteht gerade in der ideologisch neutralen Einstellung des mecklemburgischen Autors, dessen Poetik "an den Inhalten und an der Wirklichkeit orientiert" ist (Felsner 2010: 41) und jede ideologische Grundlage prinzipiell ablehnt. Während der Wolfschen "subjektiven Wahrnehmung" (wie sie in "Lesen und Schreiben" dargelegt wird) ein engagierter Literaturbegriff zugrunde liegt, der die ideologische Färbung der Autorin nicht verbirgt, ja diese offen zugibt, lehnt Johnson jegliches Engagement ab und bemüht sich in seinen Texten, den Leser in einen Prozess der Wahrheitsfindung einzubeziehen, der auf jede vorgeprägte Meinung verzichten soll. Gemäß den verschiedenen ideologischen Grundhaltungen entwickeln beide Autoren auch verschiedene erzählerische Modalitäten, auf die Felsner im dritten Kapitel eingeht (Felsner 2010: 83-217), wo sie Mutmassungen über Jacob von Johnson jeweils mit dem Geteilten Himmel und mit Nachdenken über Christa T. von Christa Wolf vergleich. PhiN 55/2011: 74 PhiN 55/2011: 75 PhiN 55/2011: 76 Eine bedeutende Ähnlichkeit in der Erzählsituation der beiden Romane ist die durch den Dialog der Erzählerin Wolfs bzw. Gesines mit der Tochter angesetzte Generationenperspektive, wobei für beide Frauen persönliche Traumata, ideologische Vorbehalte oder (im Falle der Erzählerin von Kindheitsmuster) Verbote von außen dafür sorgen, die Erzählung einiger historischen Ereignisse oder Abschnitte der eigenen Biografie zu behindern oder sogar zu verwehren (so zögert Gesine beispielsweise, Marie über die Verbrechen der Sowjets zu berichten und Wolfs Erzählerin kann nicht über den Stalinismus und die Geheimrede Chruschtschow sprechen). Die ausgewogene Analyse Felsners zeigt, dass die Romane Johnsons komplexer als die Werke von Christa Wolf sind, gerade weil das Fehlen einer ideologischen Verankerung dazu beiträgt, die Wirklichkeit differenzierter und komplizierter darzustellen. Dass Johnson schon 1961 (im Aufsatz "Berliner Stadtbahn") erkannte, dass die Ausrichtung des Erzählens auf eine bestimmte Weltanschauung eine Erzählung der Gefahr des Veraltens aussetzt (eben weil ideologische Deutungsmuster zeitgebunden sind, vgl. Felsner 2010: 41) zeugt von der Größe und Modernität des mecklenburgischen Schriftstellers, dessen Werk nicht umsonst nach der Wende, d.h. in einer "post-ideologischen" Epoche, eine regelrechte Renaissance in der Öffentlichkeit und in der germanistischen Forschung erfahren hat. Es bleibt nur zu wünschen übrig, dass die hervorragende Arbeit Felsners weitere vergleichende Studien über das Werk deutscher Autoren aus dem westlichen und östlichen Teil Deutschlands anregen kann. BibliografieFranz, Heidrun Marlene (2000 [1999]): "Uwe Johnson und Christa Wolf. Vergangenheits- und Gegenwartsaufarbeitung in ihren literarischen Werken". Dissertation. Georgetown University, Deptpartment of German. Greverus, Ina-Maria (1972): Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag. PhiN 55/2011: 77 Greverus, Ina-Maria (1979): Auf der Suche nach Heimat. München: Beck. Lukács, Georg (1971 [1936]): "Erzählen oder beschreiben?" in: Werke 4. Probleme des Realismus I, Essays über Realismus. Neuwied / Berlin: Luchterhand, 197-242. Mead, George Herbert (1968): Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Neumann, Uwe (2001): "Spurensuche. Zur produktiven Rezeption von Uwe Johnson in der deutschsprachigen Literatur", in: Text + Kritik, Uwe Johnson. Heft 65/66, 20-49. Peitsch, Helmut (2007): "Warum moralische Fallgeschichten, ästhetische Rettung von Werken und Regionalisierung kein Ersatz für eine Geschichte der Beziehungen zwischen BRD- und DDR-Literatur sind", in: Helbig, Holger (Hg.): Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR. Berlin: Akademie-Verlag, 285-300. Shirer, Robert K. (1988): Difficulties of Saying "I". The Narrator as Protagonist in Christa Wolf’s Kindheitsmuster and Uwe Johnsons’s Jahrestage. Bern / New York / Frankfurt am Main: Peter Lang. Anmerkungen1 Siehe die in der Bibliographie angegebenen Monographien von Heidrun Franz und Robert K. Shirer, sowie die zahlreichen Aufsatze, auf die Felsner in der Einleitung ihrer Studie verweist (Felsner 2010: 15-24).3 Vgl. Mead (1968: 219); darüber hinaus Felsner (2010: 220-222). Mit dem Begriff des 'Me' versteht George Mead die gesellschaftliche Instanz des Ichs, die sich bemüht, den Anforderungen von außen entgegenzukommen. Der Mensch – so resümiert Felsner das sozialpsychologische Deutungsmuster Meads – "bündelt im 'me' die Haltungen der anderen (…) Konventionen und Gewohnheiten machen demnach das 'me' aus. Mit seinem ' I ' reagiert der Mensch individuell auf diese von ihm selbst verinnerlichten Haltungen der anderen. Die Identität entwickelt sich in steter Wechselwirkung von 'me' und I" (Felsner 220). |