Susanne Kaul (Bielefeld) Schattenrecht. Zu Wielands abderitischem EselsprozessIn Wielands novel The Abderites a traveler hires a donkey on a hot day and seeks shelter from the heat under its shadow. A legal dispute arises as the owner of the donkey claims that he let only the donkey, but not its shadow. The quarrel becomes a destructive verification of the whole state Abdera. The thesis of this paper is that Wieland exposes the traditional Latin phrase fiat iustitia et pereat mundus (which means that justice should happen even if the world decays) to be a paradigm of foolishness. ZerreißprobeIn Christoph Martin Wielands Roman Geschichte der Abderiten (1781)1 wird der Streit um das Mietrecht auf den Schatten eines Esels zur Zerreißprobe für den ganzen Staat Abdera, die nur deshalb glücklich ausgeht, weil durch einen Zufall am Ende nicht der Staat, sondern der besagte Esel zerrissen wird. Zwar zieht Wieland hier mit der antiken Rahmengebung und der erzieherischen Gesellschaftskritik einige traditionell klassizistische und aufklärungspoetische Register, aber der Shakespearesche Humor, mit dem die Geschichte erzählt und gegen den Strich der poetischen Gerechtigkeit aufgelöst wird, ist nicht zu überhören. Was leicht als harmlose Albernheit unterschätzt werden kann und sowohl Shakespeare als auch Wieland sind in dieser Hinsicht tatsächlich oft unterschätzt worden , dass hier nämlich aus einer Mücke ein Elefant gemacht wird, ist in Wahrheit eine handfeste Idealismus- und Rechtskritik in einem. Dogmen, Werte und Prinzipien erscheinen in diesem Licht als Mückenelefanten oder, in Wielands Bildlichkeit, als Schatten von einem Esel. Und je pathetischer sie überhöht werden, desto breiter grinst die Eselhaftigkeit darunter hervor. Besonders deutlich wird dies am Fall des Rechts, das pars pro toto für Moral und soziale Ordnung steht, sowie an der juristischen Haarspalterei, die ums Recht betrieben wird. Das vierte Buch des Abderitenromans ist höchst subversiv: Wieland stellt die althergebrachte Formel Fiat iustitia et pereat mundus, derzufolge Gerechtigkeit geschehen soll, auch wenn die Welt dabei zugrunde geht, als Paradigma der Dummheit dar. PhiN 51/2010: 42 VeranlassungDer Prozeß um des Esels Schatten ist die Geschichte davon, wie aus dem dünnsten Stoffe vermeintlicher Ungerechtigkeit durch einen Rechtsstreit ein verworrenes Gespinst von Unrat wird, das ganz Abdera umwickelt und in Flammen gerät. Der kleine dicke und dick betuchte Zahnarzt Struthion mietet einen Esel, um zum Jahrmarkt zu reiten, wo er seine Zahntinkturen verkauft. Die Sommersonne prallt ihm so heiß auf den Schädel, dass er, nachdem weit und breit kein Baum zu finden ist, vom Esel absteigt und sich in dessen Schatten setzt. Der Eseltreiber, der ihn begleitet, protestiert: Er habe ihm den Esel, nicht aber dessen Schatten vermietet. Da der Zahnarzt nicht gewillt ist, für des Esels Schatten extra zu bezahlen, kehren die beiden nach Abdera zurück und bringen die Sache vor den Stadtrichter. Performative AufklärungDie Veranlassung für den Prozess wird so erzählt, dass keiner der beiden Parteien Vorzug gegeben wird. Der Zahnarzt und der Eseltreiber werden als störrisch, um nicht zu sagen als eselhaft charakterisiert und der sich anbahnende Streit als ein heilloses Brimborium, das aus einer Nichtigkeit entsteht. Wieland gelingt hier ein narrativer Coup: Trotz der offenkundigen Distanz des Erzählers zu den sich streitenden Abderiten, die sich im Folgenden rasant vermehren, zieht er den Leser in Bann mit den Argumenten, die ausgetauscht werden, so dass die Verführung groß ist, sich selbst eine Meinung zu bilden und mitzustreiten. Das hieße aber: sich zum Abderiten zu machen. Während Wieland also vordergründig als klassischer Dichter der Aufklärung die Dummheit der Menschen allgemein und nur thematisch schilt, stellt er in Wahrheit die Klugheit und Besonnenheit des Lesers performativ auf die Probe und macht sich damit unauffällig zum Dichter einer aufgeklärteren Aufklärung. Philippides GüteDer Stadtrichter Philippides sagt das Klügste, was zu diesem Vorfall gesagt werden kann. Man solle sich in Güte miteinander abfinden, der Zahnarzt soll eine Kleinigkeit zahlen und der Eseltreiber ihm erlauben, sich in den Schatten des Tieres zu setzen. Möglicherweise deutet der Name des Stadtrichters auf seine Liebe für das Reittier, so als hätte er geahnt, dass es am Ende zum unschuldigen Opfer der Streitenden gemacht wird. PhiN 51/2010: 43 Shakespearesche StilmittelSie treten mit einer ähnlich pathetischen und feindseligen Rhetorik auf wie Shakespeares Shylock, der sein Recht fordert und behauptet, dass das Rechtssystem in Venedig hinfällig sei, wenn er sein Recht nicht bekommt. Möglicherweise wollte der Shakespeare-Übersetzer Wieland hier die so genannten Sykophanten mit ähnlichen Sympathien ausstatten. Shylock missbraucht bei Shakespeare das Recht, um seinen Konkurrenten, den reichen Kaufmann Antonio, auszuschalten. Die Sykophanten sind im Athen der Antike Rechtsstreiter, die durch falsche Anklagen andere Bürger verleumden; bei Wieland sind sie die in verunglimpfender Absicht so benannten Advokaten: die "Sachwalter" (Wieland 2003: 288) der Parteien. Sprachliche Anleihen bei Shakespeare finden sich auch in den Malapropismen, die dazu gebraucht werden, Figuren zu karikieren, die sich gewählt ausdrücken möchten und knapp daneben liegen. Der Zunftmeister Pfriem, der für den Zahnarzt Struthion das Wort ergreift, ist Schustermeister die Zahn- und Schuhflicker hat man in Abdera zu einer Zunft zusammengefügt und möchte wie ein gelehrter Anwalt sprechen, indem er "Saxfation" (Wieland 2003: 225) für seinen Schützling verlangt. Wie bei Shakespeare dient dieses Mittel der Sympathielenkung. Dem Leser wird klar gemacht, wie es um den Geisteszustand der einflussreichen Männer von Abdera bestellt ist. PhiN 51/2010: 44 Sprachliche KomikDie sprachliche Komik erzeugt zwar nur den impliziten, aber dennoch wesentlichen Teil des spöttischen Erzählerkommentars, da diese bissiger ist und auf subtilere Weise Kritik übt als die explizite Schelte des Unverstands obwohl auch diese häufig köstlich spöttisch formuliert ist wie in der folgenden Auskunft über die ältesten Ratsherrn Abderas:
Meistens steht die Gelehrsamkeit vorspiegelnde Sprache der Rechtsvertreter in einem komisch wirkenden Gegensatz zur Nichtigkeit des Inhalts. Da der Gegenstand der Verhandlungen der Schatten eines Esels ist, wird zumeist auch mit der Konnotation des Eselhaften gespielt, so dass Rechtsgelehrsamkeit und Blödigkeit Hand in Hand gehen. Es beginnt harmlos mit dem gemäßigten Gerichtsreferenten Miltias, der versucht, den Fall in aller Sachlichkeit darzulegen und abzuwägen:
PhiN 51/2010: 45 Der Kanzleistil mit langen Schachtelsätzen (es sind nur zwei in diesem Zitat), labyrinthischen Rückbezügen auf "letzteres", "dieses" und "jenes", mehrfach in dem gerichtlichen Gutachten verwendeten lateinischen Phrasen und juristischen Termini steht im Missverhältnis zur Sache, die trivial und lächerlich ist. (Zudem behauptet der Erzähler ironisch, dass er dem Leser sogar eine Menge scharfsinniger Induktionen erlassen habe.) Diese Diskrepanz erzeugt eine Komik, durch die der hohle Chauvinismus einer selbstzweckhaften Juristerei entlarvt wird. Dabei ist das hier noch harmlos gegen die pathetische Rhetorik der Schlussplädoyers. Es wird leeres Stroh gedroschen. Und genau das ist es, was Wieland mit der ganzen Geschichte enthüllt. Aus dem Schatten als Akzessorium des Esels kann, so will es der Abderitenstreich, etwas Wesenhaftes gezaubert werden: ein Schattenesel. Vom Schattenesel zum SchattenrechtAnalog lässt sich sagen, dass das Recht hier zum Schattenrecht gemacht wird oder sogar, dass es sein Wesen als Schattenrecht enthüllt, insofern es etwas Aufgebauschtes ist, das eigentlich keine Substanz hat. Dies wird im Laufe der Eskalation des Streits und der argumentativen und tatsächlichen Aufrüstung der beiden Parteien zunehmend deutlicher. Recht sollte vernünftigerweise ein Hilfsmittel sein, das soziale Ordnungen unterstützt. Es provoziert aber im abderitischen Klima egoistischer und lobbyistischer Unbesonnenheit eine Lust am Streiten und Rechthabenwollen, so dass es zum Selbstzweck und zur Hauptsache gemacht wird. So gesehen wird das Recht als Schattenrecht dargestellt, also als etwas, das künstlich zum Prinzipalen gemacht wird eben wie ein eigens zu vermietender Schattenesel. Diese Analogie stimmt allerdings nur, insofern Wieland die Überhöhung und das friedenstörende Potenzial des Rechts verpönt, nicht insofern damit einer Partei Recht gegeben werden kann, denn die Emanzipation des Schattenesels, die der Eseltreiber betreibt, ist ebenso eselhaft, wie die selbstgefällige Argumentation für die Einheit von Esel und Schatten schattenhaft ist; anders gesagt: Wielands Kritik richtet sich gegen beide Parteien, die Esel und die Schatten, - denn in solche spaltet sich namentlich binnen kurzem ganz Abdera und lässt seinen Erzähler, den selbsternannten unparteiischen Geschichtsschreiber, kaum mehr zwischen Esel- und Schattenhaftigkeit unterscheiden. Die Parteien nennen sich selbst metonymisch "Esel" und "Schatten", wobei auf Anhieb gar nicht so klar ist, welcher Name für die Anhängerschaft des Zahnarztes und welcher für die des Eseltreibers steht. PhiN 51/2010: 46 Abdera ist überallOb nun Rechtskritik oder Kritik der Dummheit darüber dass es Wieland um mehr ging als eine Karikatur bestimmter historischer Personen, ist man sich in der Forschung einig. Zwar hatte die zeitgenössische Rezeption die Erzählung als satirischen Schlüsselroman gelesen, weil sich einige Biberacher darin verspottet wieder fanden (vgl. Zaremba 2007: 181), es wird aber deutlich, dass es weder um ein historisches Abdera noch um ein historisches Biberach geht, wenngleich der Erzähler sich als Historiker gibt und die Ähnlichkeit mit Zeitgenossen Wielands nicht zufällig gewesen sein mag. Die Ironisierung der Rechthaberei ist jedoch von anthropologischer Tragweite.2 In diesem Sinne kommentiert auch Wieland selbst seine Abderiten: "Man kann nicht sagen, hier ist Abdera, oder da ist Abdera! Abdera ist allenthalben, und wir sind gewissermaßen alle da zu Hause." (zitiert nach Brender 1990: 109) Auch an diesem Umstand ist zu erkennen, dass die Komik nur vordergründig vom hohen Ross daherkommt und aus dem Spott über den warmköpfigen Pöbel gewonnen wird. Natürlich besteht ein großer Teil des Humoristischen aus dem Überlegenheitsgefühl des Erzählers, mit dem sich die Leserschaft gern identifiziert und durch das sie sich bestätigt fühlt. Das entspricht sowohl der aristotelischen Komödientheorie als auch der hobbesschen Affektlehre. Indes zielt der Spott gleichzeitig auf die Ähnlichkeit des Lesers mit dem Abderiten, der prahlerisch, rechthaberisch, störrisch, heuchlerisch, pathetisch usw. daherkommt. Als Stadt "halbmythologischer Herkunft" und ohne "topographische Verbindlichkeit" bietet Abdera den abstrakten Raum für eine allgemeine gesellschaftliche Charakteristik.3 PhiN 51/2010: 47 ÄsopFür die philosophische Dimension der Darstellung und die versteckte performative Kritik des Lesers spricht auch die Herkunft des Stoffs: Eine der Äsopischen Fabeln handelt davon, dass Demosthenes seinen Mitbürgern eine wichtige Rede hält und diese mit der Anekdote über den Prozess um des Esels Schatten unterbricht, um ihnen zu zeigen, dass sie bei unwichtigen Dingen aufmerksam und neugierig sind, während sie die wichtigen Gedanken über die Wohlfahrt des Staates verschlafen:
Da wir alle ein wenig wie die Athener Demosthenes sind, wollen wir natürlich auch wissen, wie die Geschichte ausgeht. Wie die Geschichte ausgehtWieland lässt sich allerdings Zeit mit der Geschichte. Die Anekdote wird mit merklicher Lust an detaillierten Charakterisierungen und szenischen Darstellungen ausgearbeitet. So werden die Figuren ganz anschaulich und fassbar bis hin zur in Falten gelegten Miene des Priesters Strobylus, die dazu dienen soll, vom großen Haufen für einen weisen Mann gehalten zu werden (vgl. Wieland 2003: 239). Es wird von vornherein deutlich, dass die Anekdote nicht nur zur Unterhaltung ausgeschmückt wird, sondern dass die Kennzeichnung des Abderitentums das Wesentliche ist. PhiN 51/2010: 48 Pathos der GerichtsredeBevor es zur überraschenden Wendung kommt, werden noch die Gerichtsreden in größter Peinlichkeit ausgebreitet. Die Sykophanten sind mit allen trickreichen Wassern der Rhetorik gewaschen und dabei besonders auf Schwarz-Weiß-Malerei und Pathos spezialisiert. Physignatur, der Sykophant des Zahnarztes, singt zunächst ein Loblied auf die abderitische Gerechtigkeit, die mit dem Prozess um des Esels Schatten stehe und falle, diffamiert dann den Eseltreiber, der nicht zur Klasse der abderitischen Bürger gehöre, sondern aus der dicksten Hefe des Pöbels hervorgegangen sei (vgl. Wieland 2003: 292), schildert ferner das Schattensuchen Struthions als letzte Rettung aus dem glühenden Backofen, um schließlich den Eseltreiber als Unmenschen hinzustellen, der seinen Nächsten kaltblütig verdorren lässt. Ein Appell an die Menschlichkeit und das Mitgefühl gibt seiner Rede den Anstoß: "Stellet euch, ich bitte, an den Platz eures guten Mitbürgers Struthion, und - fühlet!" PhiN 51/2010: 49
Proportional zu der dramatisch übertrieben und einseitig dargestellten Not Struthions (der ja genauso der Sonne ausgesetzt gewesen ist wie der Esel und der Eseltreiber) wird die Rohheit des Anthrax dämonisiert und verurteilt: Er sei ein unglaublich felsenherziges Ungeheuer, das in schamloser Frechheit auch noch behaupte, recht daran zu tun, dem leidenden Mitmenschen den Schatten des Esels zu versagen (vgl. Wieland 2003: 293). Es werden auch allerlei juristische und beinahe philosophisch bzw. ontologisch anmutende Spitzfindigkeiten ausgebreitet, etwa der Einwand, dass der Schatten seinen Grund nicht in der "Eselheit", sondern bloß in der Körperlichkeit des Esels habe und daher der Klient nur in einem zufälligen Körperschatten, nicht in einem explizit zu mietenden Eselschatten, also einem Zubehör oder einer Verwendbarkeit des Esels, gesessen habe und wenn doch, so habe er ihn selbstverständlich mitgemietet (vgl. Wieland 2003: 295f.). Der Hauptvorwurf gegen den Eseltreiber ist jedoch die "verweigerte Menschlichkeit" (Wieland 2003: 294). Das ist sehr bemerkenswert, denn man wäre versucht zu glauben, dass ein Dichter, der wie Wieland das Recht oder zumindest eine bestimmte Rechtspraxis parodiert, auf der Seite der Menschlichkeit steht und so gewissermaßen Moral gegen Recht (oder eine höhere gegen eine barbarische Gerechtigkeit) stellt, wenn die Menschlichkeit hier nicht einem schmierigen Sykophanten mit ebenso fettigem Pathos in den Mund gelegt werden würde. Es wird mit Kanonen auf Spatzen und Spatzenhirne geschossen, denn der Sykophant macht die Zukunft des ganzen Staates Abdera von der mehrfach als gerecht beschworenen Verurteilung des Eseltreibers abhängig. Die Unmenschlichkeit müsse im Keim erstickt werden, damit der Staat gerettet und sein blühender Wohlstand auf ewige Zeiten sichergestellt werden könne (vgl. Wieland 2003: 298). Diese mit größtem Ernst dargebrachte Rede bezieht ihre selbstentlarvende Komik aus dem Kontrast zwischen der Nichtigkeit der Rechtsangelegenheit und dem hier skizzierten sprachlichen Aufstand. PhiN 51/2010: 50 Kritik und IdealAngesichts der Abderitengeschichte ist es zweifelhaft, ob Staat und Recht für Wieland die Aufgabe haben, den einzelnen im Sinne des Humanitätsideals der Aufklärung zur sittlichen Vervollkommnung zu führen.4 Aber die Frage muss ja dennoch sein, was bei Parodie und Kritik herauskommen soll und ob es ein positives Gegenbild zu den Abderiten gibt. In den ersten drei Büchern des Romans sind Demokrit, Hippokrates und Euripides die Gegenbilder, aber erstens wird mit diesen Figuren kein klassischer Griechenkult nach der Art Winkelmanns betrieben5 und zweitens fehlen sie im vierten Buch, das den Prozess um den Eselsschatten erzählt das heißt, sie fehlen nicht ganz, denn Demokrit taucht ganz am Ende auf und hat sogar das Schlusswort. Er gibt kein Ideal ab, aber einen Schlüssel zur Deutung der Geschichte: Demokrit, der sich von dem Erzpriester hatte bereden lassen mit in dies Schauspiel zu gehen, sagte beim Herausgehen:
Die Treuherzigkeit der Abderiten wird hier nicht ironisiert, die bisher so scharfe Kritik der Torheit erhält vielmehr eine Milde durch Demokrits Urteil. Für ein Bildungsideal ist die Substanz dieser Lebewesen zu dünn, aber die Fähigkeit, über sich selbst lachen zu können, ist eine Tugend, durch die die bisher geschilderte Dicktuerei erträglich wird, auch wenn die plötzliche Wendung am Schluss psychologisch wie dramaturgisch eher komisch als überzeugend wirkt. Wielands Empfehlung ist anscheinend die, dass über sich selbst lachen zu können und sich aus düsterstem Himmel zu versöhnen besser ist als auf vermeintlichen Rechten oder sonstigen Prinzipien zu beharren oder mit vorgeblichen Idealen zu prunken. Das würde auch zu dem Bild passen, das Goethe von Wieland hat, wenn er sagt, dass er allem, "was sich in der Wirklichkeit nicht immer nachweisen läßt, den Krieg" ankündige, also allem geistigen Dogmatismus und religiösen Fanatismus, zugleich aber "einen Kampf gegen die gemeine Wirklichkeit" führe:
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In den Abderiten ist es sogar eine unheilvolle Mischung aus beidem, d.h. aus geistesarmer Spießigkeit und hochtrabendem Idealismus, die dazu führt, dass sich alle ereifern, lieber den ganzen Staat in "Feuer und Flammen" zu sehen als nur den "Schatten einer tauben Nuß" einem Mitbürger willkürlich abzusprechen (vgl. Wieland 2003: 247). Die Fiat-iustitia-Formel wird hier als Musterbeispiel der Unbesonnenheit vorgeführt ähnlich wie später bei Brecht, wo das Beharren auf Gerechtigkeit zur Folge hätte, das Kind zu zerreißen. Kluge Richter gibt es bei Wieland allerdings nicht, nur den unfreiwillig klugen Stadtrichter Philippides, der mit einem versöhnlichen Vergleich die Sache friedlich abkühlen will, bevor sie juristisch Feuer fängt. Es wäre allerdings zu defätistisch, aufgrund dieser Rechtskomödie eine Menschenfeindlichkeit oder einen gesellschaftlichen Pessimismus zu diagnostizieren.6 Wieland ist eher das, was er über Shakespeare sagt: ein Sittenlehrer aus wärmster Empfindung für seine Mitmenschen (vgl. Wieland 1939: 66). Seine Selbsteinschätzung stimmt damit ebenfalls überein. An Sophie La Roche schreibt er 1769:
Daher löst er das Rechtsproblem, ähnlich wie Shakespeare, mit menschenfreundlicher Ironie und komödienhaftem Humor.7 Das Komische ist gewissermaßen ein bodenloser Ausgang aus allen selbstverschuldeten Verstrickungen, wo es keine ideale Lösung und kein Ideal als Lösung gibt. PhiN 51/2010: 52
Äsop (1985): "Des Esels Schatten", in: Fabeln der Antike. Hg. und übersetzt Harry C. Schnur und überarbeitet von Erich Keller, 2. verb. u. erw. Aufl., München: Artemis-Verlag, 82–85. Brender, Irmela (1990): Christoph Martin Wieland. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Dreger, Johannes-Heinrich (1973): Wielands 'Geschichte der Abderiten'. Eine historisch-kritische Untersuchung. Göppingen: Kümmerle. Goethe, Johann Wolfgang (1893/1987): "Zu brüderlichem Andenken Wielands" (1813), in: Goethes Werke, Bd. 36, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimarer Ausg., fotomech. Nachdr. d. Ausg. Weimar: Böhlau/ München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 311–346. Kaul, Susanne (2008): Poetik der Gerechtigkeit. Shakespeare Kleist. München: Fink. Kaul, Susanne (2006): "Radikale Rechtskritik bei Kleist", in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 31: 1, 212–222. Klotz, Volker (1969): Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans. München: Hanser. Martini, Fritz (1963): "Wieland. Geschichte der Abderiten", in: von Wiese, Benno (Hg.): Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart. Düsseldorf: Bagel, 64–94. Sengle, Friedrich (1949): Wieland. Stuttgart: Metzler. Walter, Torsten (1999): Staat und Recht im Werk Christoph Martin Wielands, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. Wieland, Christoph Martin (2003): Geschichte der Abderiten, Stuttgart: Reclam. Wieland, Christoph Martin (1939): Gesammelte Schriften. 1. Abt. Bd. 21. Berlin: Weidmann. Wolffheim, Hans (1949): Wielands Begriff der Humanität. Hamburg: Hoffmann und Campe. Zaremba, Michael (2007): Christoph Martin Wieland: Aufklärer und Poet. Eine Biografie, Köln: Böhlau. PhiN 51/2010: 53 Anmerkungen1 Der Roman ist 1774-1780 in Fortsetzungen in der von Wieland herausgegebenen Zeitschrift Der Teutsche Merkur erschienen, 1781 als eigenständige Publikation. 2 Siehe auch Martini (1963: 69); vgl. Dreger (1973: 32): "Vielmehr hebt er die Grundzüge allgemeinmenschlichen Fehlverhaltens hervor und entlarvt Institutionen an sich, wo immer sie sich unfähig erweisen, richtig zu entscheiden oder zu handeln." Maßstab sei Selbstreflexion als Prinzip der Humanität, verkörpert in Demokrit, Hippokrates und Euripides (Dreger 1973: 33); ebenso Wolffheim (1949: 63f.); ähnlich auch Klotz (1969: 77). Er nennt den Roman sowohl eine Gesellschaftssatire als auch ein ironisches Spiel, welches das historische Material übersteigt. Wieland selbst hat mit dem "Schlüssel zur Abderitengeschichte" (Anhang am Ende des Romans) über die Ähnlichkeiten mit lebenden Personen hinwegzutäuschen versucht, aber nur zum Selbstschutz. 3 So Volker Klotz, der im Vergleich mit anderen Stadtromanen feststellt , dass es sich bei Wielands Abderitengeschichte eher um ein allgemeines "Sittenbild" als um ein historisch konkretes "Sinnenbild" handelt (Klotz 1963: 67). 4 Zu diesem Schluss kommt hingegen Torsten Walter (Walter 1999: V), allerdings bezeichnenderweise nicht am Material der Abderiten und mit der Spezifizierung, dass eine "antiabsolutistische Wendung" bei Wieland auszumachen sei (Walter 1999: 225). 5 So auch Fritz Martini: "Im Gegensatz zu dem ästhetischen und empfindsamen Griechenkultus, dem J.J. Winkelmann eine beherrschende Autorität gegeben hatte, bewahrte Wieland eine Freiheit des skeptisch-kritischen Urteils. Er las das Buch der Geschichte gleichsam von der Kehrseite und entdeckte, feind jeder Mythisierung, in den Griechen ein nicht eben zu hoch achtbares wahres luftiges Lumpengesindel. " (Martini 1963: 76) 6 Friedrich Sengles Urteil, Wieland stelle die Machtlosigkeit der Vernunft dar (Sengle 1949: 334), ist überzogen. 7 Es gibt einige Parallelen zu Shakespeares Measure for Measure, sowohl auf der Ebene der Metaphorik, beispielsweise wird das Gesetz bei beiden als Vogelscheuche oder als schlafender Löwe bezeichnet, als auch im Hinblick auf die Gesamtkomposition (zur humoristischen, aber dennoch problematischen Auflösung des Gerechtigkeitskonflikts bei Shakespeare siehe Kaul 2008: 131ff.). |