Markus Messling (Paris) Bury him? Zum Umgang mit Edward W. Saids theoretischem ErbeThirty years ago, in 1978, Edward W. Said published his most influential magnum opus Orientalism. Western Conceptions of the Orient. The debate about his book is still going on. Recent publications reveal the range of critical suggestions on how to deal with Saids theoretical und cultural legacy. Thus the francophobe renegade Ibn Warraq claims Orientalism to be a leftist masterpiece which is supposedly in line with a despised French postmodernist tradition he wants buried. Daniel Martin Varisco, on the contrary, affirms the paramount importance of Saids thesis for Western self-understanding. Meaning to strengthen Saids central enjeu the critique of (post)colonial power he states that Saids analyses has to be revised regarding the cultural essentialization it produces against its own objectives. Hence Varisco underlines the necessity to rediscover those Western traditions that do not go hand in glove with the eurocentric discourse described by Said. Affirming Variscos statement this paper argues for a critical rereading of the history of humanities in the 19th century. This applies in particular to philology as one of the humanities most prestigious disciplines up into the second half of the century. 1 Orientalism eine nicht endende DebatteDreißig Jahre ist es jetzt her, seit Edward W. Saids Buch Orientalism. Western Conceptions of the Orient auf dem Buchmarkt erschienen ist.1 Gerade einmal dreißig Jahre, muss man wohl sagen, wenn man bedenkt, welche wissenschaftlichen und politischen Grundsatzdebatten seither stattgefunden und welche Berge an Literatur seither produziert worden sind, die sich mit Saids These(n) auseinandergesetzt haben.2 Bereits 1995, im Nachwort zu einer neuen Auflage im Taschenbuchverlag Penguin Books,3 der das Buch für den weltweiten Vertrieb mitsamt florierenden Übersetzungsrechten inzwischen unter seine Fittiche genommen hatte, kann Said ein Panorama der Diskussionen vornehmen, die sein Buch ausgelöst hatte. Das war nicht nur Teil einer Selbstvermarktungsstrategie, sondern auch dem Versuch geschuldet, das Buch, das sich in zahlreichen Lesarten emanzipiert hatte, zurückzurufen und sein gedankliches Erbe zu ordnen: Was war die vom Autor intendierte Stoßrichtung von Orientalism, in welchen vom Autor nicht voraussehbaren gedanklichen Kontexten ist das Buch rezipiert, diskutiert, attackiert, heilig gesprochen worden? PhiN 48/2009: 62 Heute, 13 Jahre nach Saids Versuch einer Ordnung der Diskurse, hat sich die Lage durchaus nicht beruhigt. Auch wenn es mittlerweile so etwas wie einen "postcolonial mainstream" gibt, in dem Edward Saids Buch unkritisch zur Grundlage der unterschiedlichsten Fachstudien gemacht wird, unterliegt die Deutungshoheit über die Orientalismus-These noch immer heftigen Polemiken, tragen noch immer entzürnte Stimmen ihre Gegenrede vor. Dies galt bisher vor allem für die Orientalistik, die ihr Image stärker beschädigt und ihre fachliche Legitimität stärker in Frage gestellt sah, vielleicht sehen musste, als alle anderen angesprochenen Disziplinen. Ein letztes schillerndes Beispiel hierfür ist die beißende Polemik des großen englischen Orientalisten Robert Irwin gegen die "Feinde" der Orientalistik (gemeint sind alle, die sich in die Saidschen Tradition stellen).4 Dass Saids These noch immer zur grundsätzlichen Positionierung herausfordert und dass die mehr oder weniger sachlichen Diskussionen um Saids Buch und dessen Erbe weitergehen zeigen zwei englischsprachige Publikationen neueren Datums, deren Sinn und Form verschiedener nicht sein könnten: Ibn Warraqs Defending the West: A Critique of Edward Saids "Orientalism" und Daniel Martin Variscos Reading Orientalism: Said and the Unsaid. Beide Autoren sind dem orientalistischen Betrieb zuzuordnen Warraq als freier Publizist und Übersetzer aus dem Arabischen; Varisco als Anthropologe mit Fokus auf der arabischen Welt an der Hofstra University in New York. Ihre Bücher sind aufgrund der geistesgeschichtlichen und philosophischen Argumentation von erheblicher Bedeutung für die theoretische Reflexion der Orientalismus-Problematik in den Philologien. Vor allem aber markieren sie grundsätzliche politische Standpunkte in der fortgeführten Debatte. 2 Der Eifer des Falken"Ibn Warraq" ist ein Pseudonym, das in der arabischen Welt traditionell von kritischen Denkern angenommen wurde. Der Publizist, der unter diesem Namen schreibt, hat es sich aus Angst vor persönlicher Bedrohung zugelegt, nachdem er sein Buch Why I am not a Muslim (1995) veröffentlich hatte. PhiN 48/2009: 63 Um es gleich vorweg zu sagen: Die Kern-These von Ibn Warraqs jüngstem Buch ist kaum weniger militant und man versteht sie besser, wenn man diese Vorgeschichte einer latent manichäischen Weltsicht kennt: Nur der Westen habe eine Tradition der Selbstkritik ausgeprägt, die es gegen den Kolonialismus- und Imperialismus-Vorwurf zu verteidigen gelte. Diese Tradition der Selbstkritik sei bei Said völlig ausgespart, was Generationen von jungen, gebildeten Muslimen Argumente für ihren Hass auf den Westen geliefert habe. Die Auslassung der selbstkritischen, alternativen Positionen in Saids Fokussierung ist in der Tat ein Problem, das theoretischer Natur ist und kulturelle Konsequenzen hat, worauf später noch einzugehen sein wird. Ibn Warraqs Anliegen ist es, diese historischen Gegenpositionen innerhalb des europäischen Orientdiskurses aufzuzeigen, und zwar in einem Parforceritt von der klassischen Antike bis in die europäische Kolonialgeschichte. Im zweiten Teil des Buches, der "The Three Golden Threads and the Misapprehensions of Edward Said" überschrieben ist, liefert er hierzu durchaus interessante Quellen und Überlegungen: So zeigt etwa das Kapitel zur positiven Wahrnehmung der Sanskritstudien und frühen Indologie durch indische Philologen, dass die "Orientalistik" durchaus nicht nur als hegemoniales Unternehmen aufgenommen worden ist, und will damit den Saidschen Blick auf europäische wissenschaftliche Positionen relativieren. Der dritte und letzte Teil "Orientalism in Painting and Sculpture, Music and Literature", in dem Ibn Warraq vor allem eine europäische orientalisierende Kunsttradition verteidigen möchte, bleibt dagegen eher ornamental. Man merkt jedoch ohnehin schnell, dass dies keine sachliche wissenschaftliche Aufarbeitung von Saids These sein soll. Vor uns liegt vielmehr eine zornige Abrechnung. Auf deren Tonalität wird man bereits bei der Lektüre des Vorworts eingestimmt, in dem Ibn Warraq darauf hinweist, dass er den Ton des ersten Teils zu "Said and the Saidists" in gewisser Weise bedauere, dieser Teil aber auf einem älteren Aufsatz basiere, den er in der Hitze des Gefechts als Antwort auf Orientalism verfasst habe:
PhiN 48/2009: 64 Die Entscheidung gegen die Überarbeitung ist also keine Faulheit, sondern die gedankliche Marschroute, deren Etappen die Unterüberschriften im ersten Teil gut markieren, von denen hier nur einige genannt seien: "From Pretentiousness to Meaninglessness", "Contradictions", "Historical and Other Howlers", "Intellectual Dishonesty and Tendentious Reinterpretations", "Self-pity, Postimperialist Victimhood, and Imperialism", "Saids Anti-Westernism","Misunderstanding of Western Civilization" und, schließlich, "Orientalists Fight Back". Wenn dieser Teil bereits eine Kampfansage ist, die weit über historisch-philologische Belange hinausgeht, so entpuppt sich die wahre Natur der politischen Attacke in dem methodisch-theoretischen Kapitel über "Edward Said and His Methodology". In diesem in jeder Hinsicht aufschlussreichen und zentralen Kapitel will Ibn Warraq nun zeigen, dass Edward Saids These schlicht ideologisch sei "Generally speaking, Saids thinking can be characterized as 'ideological'" (Ibn Warraq 2007: 246) , weil sie die Gegenstandpunkte einer europäischen Tradition der wissenschaftlichen und politischen Selbstkritik ignoriere. Dies aber habe fatale politische Folgen für die Selbst-Wahrnehmung der Menschen in Ländern der Dritten Welt gehabt:
Der Weg von hier für eine zumindest ideologische Haftungszuschreibung für den politischen Islamismus und seine Folgen ist nicht weit und durchaus intendiert. Dass Ibn Warraq genau an dieser politischen Verurteilung interessiert ist und nicht an einer klaren methodischen Argumentationsführung die vor dem Hintergrund seiner durchaus nicht unberechtigten Annahme über die Saidsche Fokussierung angebracht wäre , zeigen die bitteren methodischen Mängel, die Ibn Warraqs Analyse dann kennzeichnen. Dieser ist nämlich im Folgenden gar nicht daran interessiert, gegen die Saidsche Hegemonieanalyse die Heterogenität des westlichen Orient-Diskurses argumentativ darzulegen, sondern er beschränkt sich darauf, in zahlreichen Unterkapiteln die Gräuel der arabischen und asiatischen Kulturwelt aufzuzählen: Die mit "White Slavery" (ebd.: 250 f.), "Islamic Racism" (251-253), "Islamic Anti-Semitism" (253-260), "Asian Racism" (260-267) überschriebenen Ausführungen sollen belegen, dass der 'Orient' ja auch böse war. Das ist nicht nur letztlich historischer Revisionismus "die anderen waren genauso grausam, das relativiert unsere eigenen Verbrechen" , sondern gerade in dem methodologischen Kapitel ein gedankliches Armutszeugnis. Denn Ibn Warraq schreibt damit fröhlich jene Ontologisierung der Dichotomie 'Orient-Okzident' fort, die von der Forschung längst substantiell kritisiert worden ist. Die Tradition westlicher Selbstkritik, sie rückt hier in unerreichbare Ferne. Die Argumentation in den einzelnen Unterkapiteln ist dabei zum Teil, mit Verlaub, schlicht zum Haareausraufen. Da wird der ideologische, (pseudo-)wissenschaftlich basierte Rassenwahn des nationalsozialistischen Volksstaats nicht nur mit dem politischen Judenhass des Mufti von Jerusalem, Haj Amin al-Husseini, in eins gesetzt, der Adolf Hitler persönlich um militärische Unterstützung gegen die jüdische Besiedlung Palästinas bat. PhiN 48/2009: 65 Fragwürdig ist auch die philologisch begründeter daherkommende Konstruktion einer anti-semitischen Tradition im Islam, die schon im Koran selbst angelegt sei (vgl. ebda.: 256-260). Ibn Warraq neigt in diesem Zusammenhang dazu, die Koran-Zitate und Hadithe vollkommen losgelöst von ihrem historischen Kontext der Entstehungszeit der Religionsbegründung in Medina zu interpretieren. Das aber entspricht wohl kaum einer hermeneutisch-entmythologisierten Schriftexegese. Nicht dass Mohammed nicht Gewaltsames gegen Juden geäußert hätte. Bei vielen "Zitaten" aus dem Koran stellt sich aber die Frage nach dem im weiteren Sinne politischen Hintergrund der Aussagen, etwa nach den Auseinandersetzungen der jungen islamischen Gemeinde mit einer einflussreichen jüdischen Schicht in Medina. Deswegen wird aus solchen Aussagen noch kein systematischer "Anti-Semitismus". Und wenn der Autor zurecht einen absoluten Wahrheitsanspruch des Korans und damit verbunden auch ein letztlich anti-jüdisches und anti-christliches Wesensmerkmal der islamischen Kultur ausmacht, so ist dies natürlich kein Charakteristikum des Islam allein, sondern, wie Jan Assmann (Assmann 2003; Assmann 2006) gezeigt hat, der Ausschlusscharakter, der den monotheistischen Religionen gemein ist. Was die ins Feld geführten Argumente nicht stützen können, müssen sie letztlich aber auch gar nicht tragen, denn die Positionierung des Autors liegt ohnehin jenseits der Methode und Theorie der Philologie. Sie sind nur die Unterparagrafen eines dogmatischen Urteilsspruchs über Said als "intellectual and leftist" (Ibn Warraq 2007: 252). Die drei Probleme, die der Autor mit Said hat, benennt er gleich zu Beginn des Kapitels: 1. Saids Buch sei Ausdruck eines unempirischen Intellektualismus: "Saids Orientalism displays all the laziness and arrogance of the man of letters who does not have much time for empirical research, or, above all, for making sense of its results" (Ibn Warraq 2007: 245). Diese nicht-empirische Tradition gehe dabei zurück auf Claude Lévi-Strauss' strukturale Anthropologie:
PhiN 48/2009: 66 Und wenig weiter: "This tradition was carried on by Michel Foucault, surely one of the great charlatans of modern times" (Ibn Warraq 2007: 245). Hier bahnt sich bereits eine Filiation an. 2. Saids Studie sei Ausdruck postmoderner Methoden-Moden, die, man ahnt es schon, von französischen Intellektuellen erfundene, aber gefährliche Spielereien seien:
Womit die Schleife natürlich einerseits zu 1. zurückläuft, andererseits aber zum nächsten Paukenschlag führt: 3. Saids Denken sei intellektueller "lefticism", der zwar auf Karl Marx zurückgehe, aber seine einflussreichen Vertreter in der (Post)Moderne mit Jean-Paul Sartre und Michel Foucault natürlich! in Frankreich gehabt habe. Damit ist die Trias des Urteilsspruchs nun vollständig: "Said, influenced by Foucault, Marx, and the French intellectual tradition, refuses to acknowledge evidence that does not fit into his already prepared Procrustean bed [ ]" (Ibn Warraq 2007: 245). Dieses Argument innerhalb des Kapitels zur Methode entbehrt nicht einer gewissen Lächerlichkeit, da ja ausgerechnet die marxistische Geschichtswissenschaft entschieden Kritik an der durch Gramscis Kulturmarxismus gefärbten Saidschen Theorie geübt hat.6 Aber diese kleinen Nuancen (zwischen einem ökonomistischen Marxismus und Gramscis kulturellem Hegemonie-Modell) spielen eben im großen ideologischen Schachspiel keine Rolle. Damit hat der Autor vor allem seinen eigenen Standpunkt unumwunden beschrieben. Es ist der eines anti-intellektualistischen, anti-postmodernistischen und anti-linken "Kalten Kriegers". Von dem feinen Ansinnen einer sachlichen Kritik bleibt nicht viel. Doch leider geht der politische Stoß noch weiter, entpuppt sich das Buch allzu klar als das Werk eines neokonservativen amerikanischen Falken, dessen Jagdeifer der des geläuterten Renegaten ist. Denn Anti-Empirismus, Postmoderne und "Lefticism" sind ja in seinen Augen vor allem eines: französisch. "French theory" lautet das Schimpfwort, das alle Abscheu bündelt. Wenn man sich überlegt, in welchen Zeiten das Buch erschien, und dass die verächtliche Rede von den "french fries" kaum vorüber ist, so kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass dieses Buch eine intellektuelle Mobilmachung für eine unschöne Art US-amerikanischer Politik ist. Hier zeigt der Autor seine ätzendste Seite, wenn er Said nicht nur die Schuld für die Verführung mehrer Generationen junger Muslime zuschreibt, sondern ihm auch noch die moralische Zersetzung der westlichen Wehrhaftigkeit vorwirft. Das Wort geht vom Vaterlandsverrat: "In effect Said played on each of these confidence tricks to create a master fraud that bound American academics and Middle East tyrants in unstated bonds of anti-American complicity" (ebd.: 247). PhiN 48/2009: 67 Was kann es für Neokonservative Schöneres geben, als eine derart fundamentale Abrechnung mit dem ganzen verhassten ideologie-kritischen Denken einer französisch beeinflussten Postmoderne? Aus dem entsprechenden politischen Milieu hat Ibn Warraq dann auch Akklamationen erhalten, mit denen das Buch zum Verkauf geziert wird. Dazu gehört jene des Journalisten und ehemals liberalen Konvertiten Paul Berman, welcher der gemäßigten Position in der Iraq-Kriegs-Frage eine naive Appeasement-Haltung vorwarf (vgl. Berman 2004), ebenso wie jene des neokonservativen britischen Publizisten Douglas Murray, der triumphiert:
Wie hat es Ibn Warraq so schön selbst formuliert: "An ideologue is immune to argument" (Ibn Warraq 2007: 246). So ists. 3 Der ruhige BlickJemand, der Saids Erbe nicht begraben möchte, ist Daniel Martin Varisco, dessen Buch Reading Orientalism. Said and the Unsaid zum Glück ebenfalls 2007 erschienen ist. Seine Studie ist eine würdigende Kritik des Saidschen uvres, die zugleich kluge Ausblicke auf die Frage erlaubt, welche Aufarbeitung noch zu leisten ist. Es geht ihm wie sein kleines Wortspiel im Titel schon andeutet um das Gesagte und das Ungesagte, sowohl in Saids Buch als auch in der Debatte. Tenor und Ton von Variscos Buch kommen dabei in den programmatischen Worten "To the reader" (Varisco 2007: XI-XVI) zum Ausdruck:
Ausgangspunkt aller Kritik ist also zunächst einmal die Würdigung der grundsätzlichen Bedeutung von Saids Buch für ebenjene Kultur der Selbstkritik des Westens, von der Ibn Warraq so viel redet und die er doch mit Füßen tritt, in Anbetracht des beschriebenen ideologischen Gegenwindes ist damit allein schon diese Positionierung ein politisches Statement. Dabei ist Variscos Buch alles andere als die Lobhudelei eines Jüngers. Kern seiner Studie ist eine klare Kritik an theoretischen Prämissen der Saidschen Analyse. Sie ist zugleich eine beinahe enzyklopädische Darstellung der sich an Orientalism anschließenden Debatte in der anglophonen Welt, die sich dankbarer Weise auch in einer äußerst umfassenden und aktuellen Bibliographie dieser Debatte widergespiegelt findet. Dass diese allerdings in der Tat fast ganz ausschließlich englischsprachige Literatur enthält, ist natürlich seinerseits ein (ungewollter) Kommentar zu Peripherie-Zentrums-Relationen, ein schmerzhaftes Abbild der Nicht-Repräsentation der anderen Wissenskulturen im Kerngebiet der Macht, man könnte auch sagen: einer anglophonen 'Blindheit' was aber kaum wirklich optimistischer stimmt. Die Geschichte der Debatte um Said und sein Buch kann hier ob ihres seitenfüllenden Charakters nicht sinnvoll skizziert werden.7 Wie schon bei Ibn Warraq wird es aber auch bei Varisco am spannendsten in der theoretischen Diskussion von Saids Erbe, die sich in dem Kapitel "Defin[ess]ing Orientalism" verbirgt. Varisco weist hier noch einmal auf die in der Kritik immer wieder betonten Auslassungen in dem von Said konstruierten europäischen Diskurs über den Orient hin. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um zwei Gruppen von Autoren und Denkern, die Said vernachlässigt: die arabische Tradition der Kolonial-Kritik sowie die europäische Tradition der Selbstkritik. Insbesondere diese letzte interessiert Varisco, und er wirft die Frage auf, warum Said die Position auch von Wissenschaftlern wie Louis Massignon, die er selbst als Abweichler von klassischen arabistischen Positionen der Zeit betrachtet, nicht als solche würdigt: "If Southern and Daniel, as well as Schwab and Massignon, are exceptions, why does Saids polemicized rhetoric leave no room for such individual positivities?" (Varisco 2007: 46). Anhand des Beispiels von Massignon zeigt Varisco sehr überzeugend, wie Said, der in den theoretischen Vorüberlegungen zu Orientalism eine hermeneutische Position im Sinne Antonio Gramscis gegen Michel Foucaults Entmächtigung des individualistischen Autorkonzepts stark macht, sich in der Analyse selbst dann doch ganz klar gegen die von Gramsci betonte Fülle des Materials und für Foucaults Diskursanalyse entscheidet. Aufgrund der Zentralität dieses Einwandes, sei er ausführlich zitiert: PhiN 48/2009: 69
Mit anderen Worten: Es gibt für Said am Ende keine Autoren, seien sie Philologen oder Schriftsteller, die bei der Beschreibung "orientalischer" (außereuropäischer) Kulturen aus der epistemologischen Falle Ihrer Zeit, dem Eurozentrismus und Rassismus, entkommen können. Ihre Kritik kann programmatisch noch so deutlich ausfallen, in ihren erkenntnistheoretischen Prämissen können sie dem Orientalismus nicht entgehen. In der Analyse der ideologischen Hegemonie folgt Said damit klar der Idee von Foucaults Machtanalyse, die, da es Said um die Repräsentation der Anderen und ihrer kulturellen Produktionen im 'Westen' geht, eine homogenisierende gesamtkulturelle Dimension erhält: Die westliche Kultur insgesamt wird hegemonial. Varisco arbeitet im Folgenden klar heraus, wie aus dieser theoretischen Positionierung eine Ontologisierung von 'Orient' und 'Okzident' entsteht, die Said ja eigentlich mit seiner Destruktion westlicher Orient-Repräsentationen zerschlagen will und aufgrund derer Said in einem binären Denken gefangen bleibt, das er eigentlich sogar unter Verweis auf Jacques Derridas Dekonstruktion (vgl. Said 1978/1995: 129/363) unterlaufen will. Die Ontologisierung von 'Ost-West' hat dabei äußerst problematische erkenntnistheoretische Konsequenzen: Einerseits verschwinden alle anderen Beschreibungs- und Erklärungskategorien wie Kultur, wissenschaftliche Tradition, Klasse, Geschlecht usw. dahinter; andererseits zählt in einem geradezu obsessiven Verhältnis jeweils nur der Andere, das heißt, die Beschreibung des 'Westens' etwa erfolgt ausschließlich über das Alter Ego 'Orient'. Das gleicht einem Prozess der Essentialisierung, in der jede (Selbst-)Relationalität verloren geht. Das Kapitel schließt mit einer Kritik an Saids Konzepts des "latent Orientalism" (Varisco 2007: 69), in dem Said ein gesamtkulturelles Abbild des "manifest Orientalism" der Spezialisten (Orientalisten, Philologen, Linguisten, Ethnografen usw.) ausmacht und das letztlich nicht die Formierung möglicher Gegenkulturen zulässt (vgl. Varisco 2007: 56-62). Saids "totalisierender Impetus des präsentierten Arguments" (Castro Varela/Dhawan 2005: 38) lässt also zu wenig Raum für das Denken von Widerständen und Heterogenitäten. PhiN 48/2009: 70 Im Zentrum einer kritischen Aufarbeitung Saids müsste daher die Frage der wissenschaftlichen, insbesondere philologischen Repräsentation stehen. Said geht es um den Eurozentrismus und Rassismus im Kern einer europäischen Wissenskultur, gewissermaßen um eine "Dialektik der Aufklärung". Während diese Erkenntnis zu breiten Diskussionszusammenhängen in den "orientalistischen" Disziplinen geführt hat, ist das Feld von den Sprach- und Textwissenschaften selbst noch immer völlig unsystematisch und unzureichend bearbeitet. Was fehlt, ist eine kritische Geschichte der Philologie, die hier ansetzt (vgl. Messling 2008). Sie würde Saids Anliegen aufgreifen und zugleich jene Analyse der Resistenzen und Heterogenitäten des wissenschaftlich-philologischen Orientdiskurses vornehmen, die der von Varisco beschriebenen Ontologisierung des 'Westens' zuwiderlaufen. BibliographieAssmann, Jan (2003): Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München, Wien: Hanser. PhiN 48/2009: 71 Assmann, Jan (2006): Monotheismus und die Sprache der Gewalt. Wien: Picus. Bartolovich, Crystal (2002): "Introduction: Marxism, modernity, and postcolonial studies", in: Bartolovich, Crystal u. Lazarus, Neil (Hg.): Marxism, Modernity and Postcolonial Studies. 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Das Buch wird dann auch auf seinem Umschlag mit martialischen Stimmen aus der englischen Presse beworben: "Like a petrol-bomb lobbed into the flame of dissent" (Indipendent); "Glows red with polemic" (ebda.); "About nine parts erudite civil charm to one part blazing napalm" (Sunday Times); und, weniger kriegerisch, aber kaum versöhnlich: "This is a refreshing and humane book, which will still be read for pleasure and instruction long after Saids work." (Sunday Telegraph). 5 Diese Angaben entnehme ich dem Interview mit Ibn Warraq in Spiegel-Online (12.8.2007), das mit "Dieser Kalte Krieg kann 100 Jahre dauern" übertitelt ist. 6 Vgl. hierzu den theoretischen Überblick von Bartolovich (2002). Eine zwischen 'dem' Marxismus im engeren Sinne und dem kulturalistischen Modell Antonio Gramscis vermittelnde Position hat Stuart Hall in den postcolonial studies einzunehmen gesucht (vgl. Hall 1992, 1997, 2002, 2004). 7 Ihre Darstellung macht das zweite ("The Said and the Unsaid in Saids Magnum Opus Orientale") sowie das dritte und letzte ("The Seductive Charms of and against Orientalism") Kapitel des Buches aus. 8 Dass die 'moderne' Philologie im 19. Jahrhundert nicht ohne einen allgemeinen hermeneutischen Anspruch auf den Plan treten konnte, hat Michael Werner (1990: 16 f.) erläutert. |