Martina Stemberger (Wien) Romantische Kontingenzbewältigung. Mme de Krüdeners Briefroman Valérie1 A Romantic Challenge to Contingency: Mme de Krüdener's Epistolary Novel Valérie
1. Einleitung Der junge schwedische Aristokrat Gustave de Linar reist in Begleitung seines väterlichen Freundes bzw. 'Adoptivvaters' und dessen sehr junger Ehefrau Valérie nach Italien. Gustave, überaus 'romantisch' veranlagt, verliebt sich in Valérie – weniger in die reale Frau denn in das Produkt seiner eigenen Phantasie: Valérie erscheint ihm als perfekte Inkarnation des idealen, reinen weiblichen Wesens, von dem er seit seiner Kindheit träumt. Unfähig, ihren Ehemann, seinen 'Vater' zu betrügen, wohl auch nicht gewillt, das Bild seines weiblichen Ideals durch reale Annäherung zu zerstören, geht Gustave – bewusst, fast 'strategisch' – an dieser 'verbotenen Liebe' zugrunde, erlebt eine romantische Ekstase der Selbstvernichtung: sein Tod wird nachträglich bewiesen haben, dass diese Liebe, ihr Objekt und vor allem der Liebende selbst in seiner Seelengröße tatsächlich einzigartig waren; dass dieses Leben nicht irgendeines war. Gustave stirbt mit der Hoffnung, dass seine Geschichte Spuren hinterlassen, er selbst in der Erinnerung der Anderen weiterleben wird. PhiN 43/2008: 29 Die konventionellen romanesken Seiten dieses romantischen 'Werther-Sujets' sind offensichtlich und wurden auch von den Zeitgenossen sogleich erkannt; Mme de Staël, literarische und mondäne Rivalin der Autorin, äußerte sich spöttisch über Valérie als (unfreiwillige) Karikatur eines romanesken Genres: "Si vous avez lu Valérie, il y a là une telle caricature de ce genre qu'on est tout honteux de s'en servir encore." (zit. bei Mercier 1974a: 332). In Puškins Versroman Evgenij Onegin (1833) wird Valérie bereits ironisch als stereotype Chiffre des sentimentalen Liebesromans zitiert (Puškin 1993: 163), gemeinsam mit Rousseaus Julie ou La nouvelle Héloïse, Mme Cottins Mathilde und Goethes Die Leiden des jungen Werthers (vgl. auch Mercier 1974a: 448f.). Auf den zweiten Blick eröffnet dieser Text jedoch auch andere Perspektiven: Valérie ist nicht zuletzt auch eine Reflexion über das Problem menschlicher Subjektivität, menschlicher 'Individualität'; über die Frage, was die 'Einzigartigkeit' eines Menschen ausmacht; eine Reflexion über die Spuren, die Menschen und Geschichten hinterlassen, über Erinnerung(en) als eigentliche Bedingung der Menschlichkeit; eine Reflexion schließlich auch über das Problem der Kontingenz, über die Strategien, mit denen Menschen der Welt 'Bedeutung' verleihen, mit denen sie die 'Einzigartigkeit' ihrer eigenen Geschichte in einer kontingenten Welt zu behaupten und der Erinnerung einzuprägen versuchen. Dieser Text – auch und gerade in seiner eigenen romanesken Konventionalität – wirft die Frage nach dem Verhältnis zwischen Konvention und 'Einzigartigkeit' auf. Die 'einzigartige' Geschichte entfaltet sich hier immer schon vorgeschriebenen literarischen Spuren entlang; Individualität bestünde in der Möglichkeit ihrer Vervielfältigung, das Einzigartige in der Wiederholbarkeit – dies wäre das grundlegende Paradoxon des Romans. Der Protagonist führt einen erbitterten Kampf gegen die Kontingenz, gegen die 'Bedeutungslosigkeit' der Welt; einen Kampf gegen das Vergessen, das die eigene Geschichte in ihrer Einmaligkeit nachträglich zu vernichten droht; einen Kampf für die 'Einzigartigkeit' eines Individuums, das das eigene Leben zum Ereignis machen und dessen Spuren in der Erinnerung der anderen 'ewig' bewahrt wissen will; einen Kampf für die Erinnerung als das eigentliche Medium der Menschlichkeit. Der maximal 'bedeutungsvolle' Tod, die strategische Selbstvernichtung um einer Idee, eines Ideals willen erscheint als stärkste Waffe in diesem Kampf um die paradoxe 'Einzigartigkeit' der eigenen Geschichte. Im Folgenden sollen einige Reflexionen darüber angestellt werden, wie 'Individualität' in diesem Text konstituiert wird – wobei letzterer quasi seinen eigenen Spuren entlang gelesen werden soll: "la lecture de Valérie impose ainsi à son lecteur sa propre grille de déchiffrement", bemerkt auch Mercier (1974a: 326). PhiN 43/2008: 30 2. (res)semblances oder Auf der Suche nach dem 'Original' 'Einzigartigkeit' entfaltet sich in diesem Text paradoxerweise aus der Ähnlichkeit, aus dem permanenten Vergleich, der als unfassbaren 'Rest' schließlich eben die 'Individualität' einer Figur hervortreten lässt. Valérie entfaltet ein komplexes metaphorisches und metonymisches Spiel der 'Ähnlichkeiten' und 'Verwandtschaften' – das narrative Subjekt wird unaufhörlich verglichen, mit anderen Figuren, denen es – teilweise geradezu unheimlich – ähnlich, mit denen es aber niemals ident ist. Unaufhörlich werden die Konturen des 'einzigartigen' Individuums nachgezeichnet (Gustave zeichnet für Valérie, um sie zu amüsieren, allerlei ressemblances V 43).2 Gerade Valérie, das in einem Akt der Auflehnung gegen die drohende Beliebigkeit noch der 'Liebe' zum 'einzigartigen' erklärte Liebes-Objekt, wird andauernd mit anderen Frauen verglichen – und geht aus diesen obsessiv wiederholten Vergleichen immer wieder als unverwechselbar und unersetzbar hervor. Die Fixierung auf das geliebte Objekt in dessen unfassbarer 'Einzigartigkeit' wirkt zurück auf den Liebenden selbst, für den nur diese einzige Liebe (un)möglich ist (es ist unmöglich, Valérie nur so zu lieben, wie man irgendeine andere Frau lieben würde: "Explique-moi, Ernest, comment on peut n'aimer Valérie que comme on aimeroit toute autre femme." V 91). Diese 'Liebe' erscheint vor allem als trotziges Bestehen auf der 'Einzigartigkeit' des Selbst und des Anderen, auf der paradoxen Originalität der eigenen Geschichte, die sich gerade in der Fixierung 'frei flottierender' romantischer Phantasien auf die 'erstbeste' Frau bestätigt. Das Spiel der Ähnlichkeiten und der (Fast)Verwechslungen funktioniert, wo es um weibliche Figuren geht, vor allem nach dem Prinzip der metaphorischen Substituierbarkeit: eine Frau kann 'vergleichsweise' an die Stelle einer anderen gesetzt werden – auch das Phantasma, die Idee einer 'Frau' kann an die Stelle einer realen Frau treten, Valérie selbst erscheint dem Protagonisten so ätherisch wie ein 'Gedanke' (V 32). In diesem Text finden sich selten Frauen neben- und miteinander – und wenn doch, so sind sie durch eine große soziale Distanz getrennt und einander schon deshalb selbstverständlich nicht ähnlich (die junge Valérie und die armen Bauernmädchen, die ihre Eltern wohltätig betreuten; Valérie und ihr Dienstmädchen Marie). Jene Frauen, von denen in den Briefen der männlichen Figuren ständig die Rede ist, mit deren Ähnlichkeit, mit deren immer wieder (sich) versagender Identität die männliche Imagination spielt, kennen einander nicht und werden einander nie begegnen. Die männlichen Figuren dagegen können einander zwar auch bis zu einem gewissen Grad metaphorisch ersetzen; im Wesentlichen koexistieren sie jedoch in friedlicher Metonymie. Dieser Text beschwört einigermaßen pathetisch die freundschaftliche Liebe zwischen Männern (Gustave und sein (Brief)Freund Ernest, Gustave und sein 'Vater'): männliche Individualität konstituiert und bewährt sich in der Begegnung mit anderen Männern; weibliche Individualität wird dagegen vor allem in absentia der betreffenden Frau(en) zwischen Männern ausgehandelt. Schon in seiner ersten Schilderung Valéries in einem Brief an den abwesenden Freund vergleicht der Protagonist sie ausführlich mit einer anderen, diesem Freund bekannten Frau (dessen Cousine Ida); die Ähnlichkeit beider sei sehr stark, Valérie habe aber 'etwas Besonderes' an sich: PhiN 43/2008: 31
Schon hier, wie bei allen späteren Vergleichen, bleibt ein unfassbares 'Etwas' zurück, das den individuellen 'Mehrwert' Valéries ausmacht. Die imaginäre Relation Valérie – Ida zieht sich leitmotivisch durch den ganzen Text: immer wieder 'antworten' einander die Gesten dieser beiden einander unbekannten Frauen (vgl. etwa Idas Finger auf den roten Wangen der Bäuerinnen: "Ida […] passoit quelquefois ses doigts délicats sur les joues vermeilles des jeunes paysannes." V 61; bald darauf Valéries Finger, die das verbotene Rouge wieder entfernen: "[…] elle ôtoit son rouge, en passant ses jolies […] doigts sur ses joues." V 64; das Motiv der (verbotenen) 'Schminke' stiftet auch eine motivische Verbindungslinie zwischen Valérie und ihrer 'Doppelgängerin' Bianca). Indem er sie unaufhörlich mit anderen, verwandten, bekannten und unbekannten Frauen vergleicht, bestätigt (sich) der Protagonist immer wieder Valéries 'Einzigartigkeit'; jeder Vergleich muss zugunsten Valéries ausfallen. Während eines gemeinsamen Spaziergangs macht der Graf Gustave auf eine besonders attraktive Frau aufmerksam, die den Protagonisten sogleich an Valérie erinnert; ihr eigener Ehemann erklärt freilich, er könne keine Ähnlichkeit erkennen, die Unbekannte sei viel hübscher als Valérie (V 91). Schockiert stellt Gustave fest, dass der glückliche 'Besitzer' Valéries ihre 'Einzigartigkeit' überhaupt nicht zu schätzen weiß. Während er selbst auf der zeitlosen und absoluten Perfektion Valéries besteht ("qu'elle ne change jamais […] qu'elle soit toujours cet être charmant", V 38) – ebenso wenig wie er selbst das imaginäre Reich seiner Kindheit gegen die zugleich banale und bedrohliche Erwachsenenwelt eintauschen möchte (Mercier bezeichnet Valérie als "roman d'éducation à rebours", Mercier 1974a: 339), soll das Liebesobjekt sich verändern und entwickeln –, hält der Graf sie für noch etwas unreif und 'entwicklungsfähig'; seine Liebe ist also trivial und relativ, nicht einzigartig und absolut wie die des Protagonisten ("Quoi! Valérie, tu as besoin de plus de développement pour être extrêmement aimable! […] Comment peux-tu devenir meilleure […] Moi seul, serois-je donc destiné à te comprendre, à t'apprécier […]" V 91f.). Valérie erinnert den Protagonisten an seine Schwester und damit seine Kindheit (V 39); sie hat aber auch eine eigene – namentlich nicht genannte – Schwester, die ihr sehr ähnlich ist und die dem verliebten Protagonisten von Valéries Ehemann als möglicher Ersatz für diese angeboten wird (V 190).3 Das 'einzigartige' Liebesobjekt Valérie scheint ohne weiteres austauschbar; der Respekt vor 'idealer' Weiblichkeit ist in diesem Text so groß, dass Frauen als Individuen völlig irrelevant scheinen. Männer dagegen sind nicht ohne weiteres ersetzbar – hier geht es sehr wohl um die individuellen Qualitäten des jeweils Anderen. In Valérie 'liebt' Gustave sein eigenes Bild eines 'idealen' weiblichen Wesens; in seinem Freund Ernest schätzt er einen konkreten Menschen, den er um seiner Persönlichkeit willen zum Begleiter und Zeugen seines Lebens gewählt hat. PhiN 43/2008: 32 Die Briefe, aus denen dieser Roman besteht, zirkulieren so gut wie ausschließlich unter den männlichen Figuren. Ein einziger Brief von Valérie wird zitiert – allerdings bereits in einer Abschrift des Protagonisten, die dieser seinerseits an seinen Brieffreund schickt. Ein einziger Brief wird an Valérie gerichtet – und auch dieser Brief wird nicht 'direkt' adressiert, da Valérie ihn erst nach dem Tod des Verfassers erhalten soll und wird. Valérie ist auch, vielleicht vor allem, ein Roman über 'Männerfreundschaften', über männliche Solidaritäten, die sich am weiblichen Objekt des Begehrens bewähren, die auf die Beziehungen der betreffenden Männer zu Frauen abfärben, ihnen erst ihre Intensität verleihen. Gustaves Empfindungen für den Grafen strahlen auf Valérie aus, 'reflektieren' sich an ihr ("Que j'aimois cet homme si bon qui sait connoître ainsi l'amitié! […] Comme mon cœur éprouvoit alors ce sentiment pour le comte! […] Il me sembloit que mon cœur épuré ne contenoit plus que ces heureuses affections, qui se réfléchissoient doucement sur Valérie." V 42). Gustave bewundert und 'liebt' anfangs nur den Grafen selbst, während Valérie ihm eher unbedeutend erscheint; erst allmählich überträgt er seine Zuneigung auf Valérie – bezeichnenderweise in Abwesenheit des ursprünglichen männlichen Liebesobjekts ("[…] j'étais hors de moi. L'état de Valérie, l'absence du comte, un trouble inexprimable que je n'avois jamais senti, tout me faisoit perdre la tête." V 35). Möglichweise geht es in dieser ganzen 'Liebesgeschichte' viel weniger um Valérie selbst als um die Loyalität und Liebe ihrem Ehemann, dem (Ersatz- bzw. Adoptiv-)Vater gegenüber. Der Roman reflektiert ausführlich die Problematik dieser Vater-Sohn-Beziehung; Valérie, die keine eigene narrative Perspektive hat, deren Gefühle und Gedanken weitgehend irrelevant scheinen, ist lediglich der Anlass, an dem diese männliche Solidarität sich bewährt. Seine 'Dramatik' gewinnt das Sujet nicht aus der Relation zwischen Gustave und Valérie, sondern aus der Relation zwischen Gustave und seinem 'Vater'. Valéries wesentlicher Reiz besteht darin, dass sie die Frau dieses 'Vaters' und damit eine 'verbotene' Frau ist; Gustaves 'Liebe' zu Valérie ist gleich mehrfach 'inzestuös': Valérie, die Frau des 'Vaters' und also Gustaves 'Mutter', wird, selbst viel jünger als der 'Vater', dem Protagonisten als seine neue 'Schwester' vorgestellt (V 26, 119) – und damit implizit auch die Beziehung zwischen Valérie und dem Grafen, der sowohl ihr Ehemann als auch ihr 'Vater' wäre, für inzestuös erklärt. Das Spiel der Ähnlichkeiten wird ergänzt und weiter kompliziert durch das Spiel der Verwandtschaften, das dieser Text entfaltet. Hinter einer vermeintlich einfachen Figurenkonstellation tut sich ein Chaos von – biologischen, imaginären – Verwandtschaften, von stets mehrdeutigen und verwirrenden Verwandtschaftsbeziehungen auf. PhiN 43/2008: 33
Valérie antwortet Gustave gleichfalls als andere, nämlich als er selbst, indem sie erklärt, sie würde an Stelle Gustaves lieber mit dem Grafen als mit ihr selbst sprechen (V 47). Die Qui-pro-quo-Szenen zwischen Valérie und Gustave beruhen sämtlich darauf, dass Valérie nicht weiß und nicht wissen will, dass sie selbst das Objekt dieser 'Passion' ist (V 171) und mit Gustave über das Objekt seiner Liebe wie / als eine andere Frau spricht; spiegelverkehrt wiederholt sich dieses Missverständnis zwischen Gustave und Bianca, der – seelisch freilich 'minderwertigen', weit weniger 'idealen' – Doppelgängerin Valéries, die fälschlich glaubt, Gustave sei in sie verliebt (V 123). In einem immer komplizierteren Verwechslungsspiel, das die Wahrheit schließlich zu enthüllen droht, hält Gustave zwar weiterhin die Illusion aufrecht, er liebe eine andere Frau; er bittet jedoch Valérie, sich für einen Augenblick vorzustellen, sie selbst sei diese andere Frau, deren Name er erst nach seinem Tod nennen wird:
PhiN 43/2008: 34 All diese narrativen 'Experimente' mit Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, (Fast)Identitäten stellen immer wieder die gleiche Frage nach jenem undefinierbaren 'Etwas', das die paradoxe Einzigartigkeit eines Individuums ausmacht. Dieses 'Etwas' wird in Krüdeners Text mit der Chiffre 'Seele' bezeichnet; es wäre die 'Seele', die ein narratives / menschliches Subjekt – ansonsten Montage aus mehr oder weniger austauschbaren körperlichen und geistigen Versatzstücken, die ihm mit anderen gemeinsam sind, es anderen ähnlich sein lassen – einzigartig macht. Diese 'Seele' wird vor allem ex negativo definiert als irreduzibler 'Rest'; als das, was übrig bleibt, nachdem alle zufälligen und austauschbaren Attribute eliminiert wurden. Die 'Seele' wird immer erst nachträglich fassbar als jenes surplus, das eigentlich keine unabhängige Existenz besitzt – und doch zugleich das Subjekt überhaupt erst zum Leben erweckt. Die 'Seele' benennt jene paradoxe Negativität, jene Differenz des Subjekts gegenüber sich selbst, die doch allein 'Menschlichkeit' begründet: "Aber selbst die Abwesenheit ist in der Anwesenheit verwurzelt, durch ihren Leib ist die Seele des Anderen in meinen Augen Seele. Die 'Negativitäten' zählen auch zu der Welt des Sinnlichen, die also das wirklich Universelle ist." (Merleau-Ponty 2003: 261). Der verliebte Gustave trifft schließlich zufällig eine fast perfekte 'Doppelgängerin' Valéries: im Vergleich mit dieser Doppelgängerin, die mit Valérie fast alles – alles außer der 'Seele' – gemeinsam hat, beweist sich endgültig Valéries 'Einzigartigkeit'. Als Gustave der Doppelgängerin zum ersten Mal begegnet, erliegt er zumindest für einige Augenblicke der Illusion der totalen Identität: es scheint tatsächlich Valérie selbst zu sein, die er vor sich hat, auch wenn sie es den Umständen nach nicht sein kann – seine eigene Intuition, jene emotionale Reaktion, die vermeintlich nur das Original Valérie auszulösen vermag, bestätigen diese trügerische Wahrheit:
Die in Wahrheit nur ähnliche – wenn auch extrem ähnliche – Kopie Valéries weckt verstörender Weise die gleichen intensiven, 'authentischen' Empfindungen wie das Original. Wie in Trance folgt der Protagonist der Pseudo-Valérie (V 97). Eine Serie von sorgfältig inszenierten 'Schlägen' und 'Brüchen', die mit dem 'falschen' Namen endet, reißt ihn aus diesem Trancezustand ("Elle a frappé un grand coup de marteau; le jour étoit entièrement tombé. Qui est là? cria une voix cassée. Ah! c'est toi Bianca […]" V 97f.). Der verwirrte und faszinierte Protagonist nimmt sich sogleich vor, die Unbekannte kennenzulernen und ihre Ähnlichkeit mit Valérie für allerlei amouröse Experimente zu nützen: Wenn er das Original nicht haben kann, so wird er wenigstens mit der Kopie spielen. Die 'falsche' Valérie soll die Erinnerungen an die 'echte' lebendiger machen; sie soll ihr Bild nachzeichnen, als ihr Schatten die Illusion einer Präsenz verschaffen: PhiN 43/2008: 35
Der Protagonist mit all seinem Respekt vor 'idealer' Weiblichkeit behandelt die Doppelgängerin dabei von Anfang an als weitgehend 'seelenloses' Objekt ("quelque chose"), das er ohne jegliche Skrupel für seine 'Experimente' nützen kann. Bianca wird als 'Marionette' ohne relevante eigene Gefühle und Gedanken geschildert – und zwar, in einer durchaus misogynen Unterstellung, nicht weil Gustave sie als solche behandelt, sondern weil sie an sich ein leeres, unbedeutendes, eitles Wesen ohne 'authentische' Emotionen ist, das nichts anderes verdient, als dass man mit ihm 'kalte Komödie' spielt:
Hier spielt – neben jener männlichen Arroganz, die dort, wo die 'Liebe' einer Frau nicht der eigenen Person gilt, dieser Frau die Liebesfähigkeit überhaupt abspricht (V 123) – eine gewisse soziale Überheblichkeit des aristokratischen Protagonisten gegenüber der einer inferioren Klasse angehörenden Bianca eine Rolle (vgl. etwa V 121). Andererseits gehorcht die fast religiöse Verehrung Gustaves für die ebenfalls adlige Valérie im Grunde der gleichen Logik: Valérie wird zwar respektvoller behandelt als Bianca; sie wird nicht als 'Marionette', sondern als 'Ideal', als 'Gedanke', als 'Engel' imaginiert, doch auch ihre Gefühle und Gedanken sind irrelevant – Gustave betet sie zwar an, aber er interessiert sich nicht besonders für sie. Die Frau verdankt ihre 'Seele' – oder auch ihre 'Seelenlosigkeit' – also ohnedies nur und immer schon dem / einem Mann, ob sie nun als 'Ideal' auf ein Podest verbannt oder als 'Marionette' zum Objekt sinnlicher Experimente wird. Die zweite Begegnung mit der Doppelgängerin bestätigt die ressemblance prodigieuse und bestärkt diese noch (V 120ff.); diese zweite Begegnung ist im Übrigen perfekt komplementär zur ersten angelegt (während Gustave Bianca beim ersten Mal nur gesehen hat, hört er jetzt zunächst eine weibliche Stimme, die ihn unwillkürlich an Valéries erinnert; erst nachträglich wird ihm klar, dass die visuelle und die akustische Doppelgängerin Valéries ein und dieselbe Person sind:
PhiN 43/2008: 36 Die Fast-Identität Biancas mit Valérie, die Intensität und Wahrhaftigkeit der ressemblance, die alle Sinne gleichermaßen erfasst, wird durch dieses doppelte Experiment bestätigt. Gerade ihre Ähnlichkeit mit Valérie macht die ansonsten als äußerst trivial geschilderte Bianca nun ihrerseits zum 'einzigartigen' Wesen. Hier wird deutlich, wie sehr 'Einzigartigkeit' in Valérie immer schon paradox vermittelt ist und zwischen den Figuren gleichsam 'weitergereicht' wird (Valérie ist 'einzigartig', weil sie dem Ideal des Protagonisten ähnelt; Bianca ist 'einzigartig', weil sie Valérie ähnelt etc.). Biancas Funktion besteht aus der Sicht des Protagonisten darin, Valérie zu repräsentieren – im mehrfachen Sinn: darin, Valérie wieder gegenwärtig machen, und darin, sie zu vertreten. Die weiblichen Figuren sind hier uneingeschränkt der Logik der männlichen Repräsentation unterworfen: Frauen sind, mit all ihrer 'Seele' und bei all dem Respekt, der ihnen entgegengebracht wird, noch in ihrer 'Einzigartigkeit' prinzipiell und immer schon austauschbar.
3. ces leçons que donne l'âme oder Die 'Seele' als Wunderblock Zwischen Valérie und Bianca besteht also eine fast vollkommene Identität; nur die 'Seele' – oder ihr Fehlen – macht den Unterschied ("Elle a, de Valérie, presque tout ce qu'on peut séparer de son âme; il ne lui manque que ses grâces, que cette expression qui trahit sans cesse cette âme profonde et élevée […]" V 120f.). Trotz ihres Mangels an seelischer expression macht freilich auch Bianca eine vive impression (V 121) auf den Protagonisten; ihre Gegenwart wird zum Vorwand, zum Ausgangspunkt der Erinnerung. Bianca ist – auch nachdem der Protagonist sie persönlich kennengelernt hat – nur als Medium der Repräsentation, der "Erzeugung von Gedächtnis-Räuschen" (Pabst 1964: 149) von Interesse; sie selbst muss selbst vergessen werden, um die Erinnerung an Valérie zu intensivieren, "das Phantom Valérie" (ibid.) zu beschwören ("Il m'arrive quelquefois de regarder long-temps Bianca; et quand un de ses traits ou quelque chose de sa taille m'a rappelé Valérie, je cherche alors à l'oublier elle-même, et à écarter tout ce qui pourroit troubler mon illusion." V 121f.). Der Name der unfassbaren Differenz zwischen dem Original und der Kopie lautet 'Seele' ("II en est de la voix de Bianca comme de ses traits; elle a des sons de Valérie, mais aucune de ses inflexions: et où les auroit-elle prises ces inflexions, ces leçons que donne l'âme, qu'on reçoit sans s'en appercevoir [sic], et qui prouvent l'excellence du maître?" V 122). Diese 'Seele' prägt dem Körper immer wieder ihre Spuren ein – der Körper wird hier als eine Art 'Wunderblock' der Seele imaginiert. PhiN 43/2008: 37 Valérie ist das – erste und einzige – weibliche Objekt, an dem der Protagonist die 'Seele', dieses surplus der Menschlichkeit, bewusst wahrnimmt; seine obsessive 'Liebe' richtet sich vielleicht vor allem auf dieses unfassbare 'Etwas', auf diese faszinierende Differenz des Menschlichen gegenüber sich selbst. Die 'Seele' ist das, was vom Körper übrig bleibt; dieser Körper erhält seine 'Bedeutung' erst dadurch, dass er auf die 'Seele' als sein eigenes Jenseits verweist, dadurch, dass er diese Negativität namens 'Seele', diese Abwesenheit, die in seinem Innersten haust, repräsentiert. Die 'wahre Schönheit' lebt davon, dass sie immer schon auf etwas Anderes verweist, die 'Seele' als das Andere des Körpers enthüllt ("[…] la beauté n'est vraiment irrésistible qu'en nous expliquant quelque chose de moins passager qu'elle, qu'en nous faisant rêver à ce qui fait le charme de la vie au-delà du moment fugitif où nous sommes séduits par elle; il faut que l'âme la retrouve quand les sens l'ont assez aperçue." V 76). Der Körper entfaltet die 'Seele' – in diesem Akt der Repräsentation vollzieht sich eine Inversion, eine 'Umstülpung' von Innen und Außen; die 'Seele' wird plötzlich zur Oberfläche, die ihrerseits den Körper umhüllt. PhiN 43/2008: 38
Valéries Gesicht ist für den Protagonisten im Allgemeinen hervorragend lesbar; dieses Gesicht ist konkret und metaphorisch 'ungeschminkt' und lässt die 'Seele' sichtbar hervortreten. Ihr Ehemann verbietet Valérie, sich zu schminken; ein einziges Mal möchte sie sich über dieses Verbot hinwegsetzen und bittet Gustave, ihr dabei zu helfen und heimlich Make-up für sie zu besorgen. Valérie – extrem naiv und unschuldig wie immer – errötet freilich schon vor lauter Aufregung und Schuldbewusstsein so sehr, dass sie das gewünschte Rouge eigentlich gar nicht mehr braucht; Gustave wiederum wird angesichts dieser errötenden Unschuld blass, weil er an sein eigenes, weit größeres 'Verbrechen' denkt; Valérie erschrickt und nimmt die Schminke wieder ab (V 64). Sie fährt ungeschminkt zum Ball, wo ihr der Graf in Gesellschaft einer anderen Frau, die von Diamanten und Schminke bedeckt ist, entgegenkommt (V 65) und sie so nachträglich noch einmal an das geplante 'Vergehen' erinnert. Bianca, die 'minderwertige' Doppelgängerin Valéries, ist im Gegensatz zu dieser ständig geschminkt; auf ihrem Gesicht ist die – womöglich ohnedies nicht vorhandene – 'Seele' übermalt. Der Protagonist, der Valérie geholfen hat, sich heimlich zu schminken, wechselt jetzt selbst in die Position des kritischen 'väterlichen Ehemannes' und fordert Bianca auf, in Zukunft auf Make-up zu verzichten (V 124f.). PhiN 43/2008: 39
4. cette voix intérieure qui ne nous trompe pas oder Stimmenimitationen Doch auch wo das Gesicht geschminkt ist und die 'Seele' also nur unvollkommen repräsentiert, bleibt die imaginäre Funktion der Stimme als Medium der 'Seele' intakt. Die Stimme wird in Valérie zum Instrument der Verwirrung von Innen und Außen; immer wieder ist es die Stimme, die das Subjekt zu sich selbst (zurück)ruft. Valéries Stimme insbesondere besitzt die 'magische' Fähigkeit, Gustave zu sich selbst, in sich selbst zurückzuholen (vgl. etwa V 45f., 77, 109). Valérie ist jener 'Engel', der Gustave mit sich selbst versöhnt (V 46). Dieser 'Engel' spricht von außen und von innen zugleich; Valérie ruft Gustave von außen an, doch aus ihr spricht auch die innere Stimme Gustaves: Valérie ist jene innere Stimme, die niemals trügt ("cette voix intérieure qui ne nous trompe pas", V 62) und Gustaves Geheimnis bewahren wird, bis er selbst ihr zu sprechen erlaubt oder sogar befiehlt (V 47). Diese äußere / innere Stimme entfaltet in manchen Augenblicken eine unheimliche Eigendynamik; aus der schlafenden Valérie spricht, während Gustave sie betrachtet, plötzlich eine Stimme, die Gustave den Tod vorhersagt (V 149). Es ist die Stimme, die die 'Seele' im doppelten Sinn verraten kann: Valérie – von gesellschaftlichen Konventionen kaum 'verdorben', 'rein' und 'natürlich' geblieben – hat eine Stimme, die ihre 'Seele' fast unverändert nach außen trägt ("O! Valérie! lui disois-je, si vous êtes si aimable, c'est que vous avez été élevée loin de ce monde qui dénature tout […] je sentois que si je l'aimois ainsi, c'était parce qu'elle étoit restée près de la nature; j'entendais sa voix qui ne déguise jamais rien […]" V 82). Die Stimme beschreibt die Seele, sie schreibt sich der 'Seele' und dem 'Herzen' ein (V 159); sie selbst kann sogar in der Schrift aufgehoben werden. Die 'magische' Stimme Valéries spricht auch aus ihrem Brief zu Gustave (V 62). Vor seinem Tod richtet Gustave einen Brief an Valérie, in dem seine Stimme endlich völlig unverfälscht zu ihr sprechen und das fatale amouröse Qui-pro-quo auflösen darf ("Est-ce en quittant la vie, est-ce blessé d'un trait mortel qu'on peut songer à altérer la vérité, à faire mentir le dernier accent de la voix? Cette voix vous dit enfin que c'est vous que j'aimai... " V 165). Noch die 'falsche' Stimme erweckt die 'echte' Seele zum Leben. Biancas sirenenhafte Stimme dringt gleichsam in den Protagonisten ein; während sie singt, 'halluziniert' dieser Valérie:
PhiN 43/2008: 40 Im Medium der Stimme werden Liebende für Augenblicke eins (V 162); über die Stimme(n) vollzieht sich die Verschmelzung der 'Seelen'. Die Stimme 'trägt' über große räumliche und zeitliche Distanzen hinweg; nachträglich noch hört Gustave aus den Tagebüchern seiner Mutter ihre prophetische Stimme (V 189). 'Wahnsinn' bezeichnet in Valérie vor allem jenen Zustand, in dem die Stimme nicht mehr aus der und für die 'Seele' spricht, sondern dieser fremd scheint, wie bei jenem aus unglücklicher Liebe wahnsinnig Gewordenen, der Gustave im Kloster als sein eigener unheimlicher Doppelgänger begegnet. ("[…] sa voix, qui paroissoit étrangère à son âme, et qui sembloit s'être séparée de sa douleur." V 155). Auch die äußere Natur spricht in Valérie in Stimmen, denen ein inneres Echo antwortet (V 100); diese 'natürlichen' Stimmen übernehmen die Aufgabe der 'Beschwörung', wo die menschliche Stimme sich als zu schwach erwiesen hat und nicht gehört wurde: zu dem Matrosen, der gegen den Willen seiner Mutter zu einer großen Reise aufgebrochen ist, spricht die klagende Stimme der Mutter jetzt aus den Wellen des Meeres (V 159). Die 'Natur' wird hier mit Stimmen, mit Bewusstsein, mit Bedeutung ausgestattet; sie reagiert aktiv auf menschliches Denken, Fühlen und Handeln, sie spricht und widerspricht. Das Subjekt wird – in permanenter kommunikativer 'Interaktion' mit dieser Natur – zur Echokammer; es bringt die 'Natur' dazu, aus dem eigenen Inneren zu sprechen. Der Protagonist ist beherrscht von einer regelrechten Obsession der Bedeutung; die Außenwelt scheint vor allem dazu da, 'Leseanleitungen', (Be)Deutungen für das eigene Selbst zu liefern. Banale alltägliche Vorkommnisse sollen, ja müssen Ereignisse sein, etwas bedeuten, an etwas erinnern, sie müssen Spuren hinterlassen. Die Funktion der Imagination – die Mercier als das 'Siegel' des Textes bezeichnet (Mercier 1974a: 266) – besteht wesentlich darin, unablässig derartige Netze von Bedeutung(en) zu knüpfen und über die Welt zu werfen, Zusammenhänge zu stiften; darin, Kontigenz zu eliminieren oder zumindest so weit wie möglich zu reduzieren. Nichts soll, nichts darf mehr zufällig, beliebig, austauschbar sein; hier geht es um die eine, große schicksalhafte Liebe, die eine, große, bedeutungsvolle Lebensgeschichte. Auch die 'Natur' wird diesem Regime der unbedingten Bedeutung unterworfen. Der Protagonist 'beseelt' und 'bestimmt' die Natur und ist verzweifelt, wenn ihm im Zustand der Melancholie die 'Stimmen' der Natur ausnahmsweise nicht antworten (V 100). Der 'Natur' wird hier eine / die / ihre Bedeutung abgerungen; sie füllt sich mit Spuren und Zeichen. Der Protagonist besteht auf der 'Zeichenhaftigkeit' der Natur,4 auch dort noch, wo diese Zeichen für ihn negativ ausfallen – wie in seinem Spiel mit den Blumen, die ihm die Frage, ob er Valérie und Valérie ihn liebt, beantworten sollen (V 40). Kontingenz erscheint als das absolut Unerträgliche, das um jeden Preis verdrängt und geleugnet werden muss; sie wird also (re)imaginiert als nur noch nicht durchschaute Bedeutung. Der Protagonist will ein 'Schicksal', und sei es ein tragisches; er ist obsessiv damit beschäftigt, dem noch vermeintlich Zufälligen, Beliebigen einen Sinn zu geben. Valérie erscheint als 'ideale' Komplizin des auf Bedeutungen und (res)semblances fixierten Gustave; auch sie neigt dazu, sich von ihrer Imagination hinreißen zu lassen und Geschehnisse des Alltags als bedeutungsschwere Ereignisse zu interpretieren (V 54f.). Valérie wird auch die Phantasie einer Welt in den Mund gelegt, in der alles etwas bedeutet, in der man den Anderen die eigenen Erinnerungen vollständig mitteilen, sie in die eigene Vergangenheit als Gegenwart eintreten lassen und sie so zu Zeugen einer Geschichte, in der nichts mehr bedeutungslos ist, machen könnte; eine Welt, in der alle Spuren bewahrt werden (V 56). PhiN 43/2008: 41
5. le temps effacera les traces oder Die Obsession der Spuren(losigkeit) Das Leitmotiv der Spuren zieht sich durch den ganzen Text. Es geht hier darum, Spuren zu hinterlassen, die eigene, einzigartige Geschichte der Welt und der Erinnerung der Anderen einzuschreiben. Der Protagonist fürchtet sich davor, dass er verschwinden könnte, ohne Spuren zu hinterlassen (V 160); davor, dass die Spuren seines Lebens verwischt, gelöscht werden, er selbst in den 'Abgrund des Vergessens' stürzen könnte (V 109). Seine schlimmste Angst ist die vor der Spurenlosigkeit, die ein Leben noch nachträglich zunichte machen kann. Immer wieder kehren die Schlüsselwörter traces, tracer, retracer, auch expression und impression wieder (vgl. auch Pabsts Auflistung von "Schlüsselwörtern" der Erinnerung in Valérie, Pabst 1964: 143). Gustave erscheint als Fanatiker der Spuren, als Philosoph der Erinnerung, der den Anderen seinerseits einen 'Erinnerungsauftrag' hinterlässt (V 195). Die Erinnerung überschreibt den Tod, sie schreibt über den Tod hinaus ihre Spuren fort; Gustave will nicht nur selbst in der Erinnerung der anderen weiterleben, sondern auch seine eigene Erinnerung an Valérie ins 'Jenseits' mitnehmen (V 138). Die Gesellschaft erscheint als Feindin nicht nur der 'Seele' (V 48, 70), sondern auch der Erinnerung: mit ihren Konventionen und kleinen Leidenschaften, die beinahe schneller vergessen als erlebt sind, verwischt sie die menschlichen Spuren, sie unterwirft die Impressionen der 'Seele' ihrem eigenen 'Despotismus' (V 82). Der Freund, an den Gustave seine Briefe richtet, ist dagegen ein privilegierte 'Zeuge', ein Garant der Spuren, mit dem Gustave bereits ein dichter gemeinsamer Text von Erinnerungen verbindet und der auch Gustaves weitere Geschichte bewahren wird. Diese Briefe erscheinen als Medium der Erinnerung, der magischen Vergegenwärtigung, der – oft direkt 'sinnlichen' (V 195) – Beschwörung einer Anwesenheit, die vom eigenen Leben zeugen wird. Wiederholt ist die Rede von den Imaginationen der Freunde, die einander zu Zeugen rufen, als Zeugen anrufen (V 61, 63). Der Protagonist in all seiner Verzweiflung ist sich in jedem Augenblick bewusst, eine Geschichte zu erleben, die nach seinem Tod erinnert und erzählt werden soll, die des Erinnerns und des Erzählens wert ist – die Antizipation dieser Erinnerung bereitet ihm bei allem Unglück größte Befriedigung. Es scheint beinahe, als seien die Erinnerungen bei Gustave vor den Erlebnissen vorhanden; als folgte das Erleben nur mehr der längst vorgezeichneten Spur der Erinnerung: Auf dem Wachrufen von Erinnerungen […] auf dem Wunsch, Erinnerung zu bewahren und durch ständiges, intensives Gedenken das Gewesene in die Zukunft zu retten, aber auch im bewußten Provozieren von Erinnerung durch intellektuelle und sinnliche Reize beruht das Geschehen im Roman; denn die wirklichen Begegnungen werden erst in der Erinnerung zu erschütternden Ereignissen: nur Trennung, Abwesenheit, Ferne führen in das Reich des echten Erlebens, in die Erinnerung. (Pabst 1964: 143) Schon in ihrem Vorwort zu Valérie betont Krüdener quasi 'programmatisch' die Überlegenheit des Erinnerns gegenüber dem Erleben: "[…] au milieu des plaisirs et de la dissipation qui absorbent la vie, les accens qui nous rendent quelque chose de notre jeunesse ou de nos souvenirs ne nous sont pas indifférens, et nous aimons à être ramenés dans des émotions qui valent mieux que ce que le monde peut nous offrir." (V 22). PhiN 43/2008: 42 Ereignisse werden bereits erfahren als das, was man einmal erlebt und empfunden haben wird; die 'Liebe' zu Valérie wird von Vornherein im Modus der Nachträglichkeit als eigentlich immer schon abgeschlossene Geschichte erlebt, als 'Gesamtkunstwerk' der Spuren inszeniert und für die Erinnerung bestimmt. Die bedingungslose Unterwerfung unter die Herrschaft der Erinnerung macht den Protagonisten freilich seinerseits zum 'Herrscher' über das eigene Erleben und die Außenwelt. Es ist die Erinnerung, die ihm erlaubt, einen quasi-demiurgischen Anspruch zu formulieren; in seiner 'idealen' Welt, bevölkert (nur) von seinen Erinnerungen, schafft er sich imaginäre Gefährten nach seinem eigenen Bild und Vorbild, ohne von 'realen' Menschen dabei gestört zu werden ("Laisse-moi donc errer avec mes chers souvenirs au milieu des forêts, au bord des eaux, où je me crée des êtres comme moi […]" V 31). Tatsächlich ist das Selbstbild des Protagonisten, der sich 'strategisch' um der großen (Liebes)Geschichte willen vernichtet, von einem überaus elitären Anspruch getragen – dem Anspruch auf ein einzigartiges, unwiederholbares Leben. Gustave wird von den anderen Figuren immer wieder seine 'Singularität' (V 48) – seine Seltsamkeit, aber damit eben auch seine Einzigartigkeit –vorgeworfen; er verspricht immer wieder, sich 'bessern', ein 'normales' Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden zu wollen, ist dabei aber sehr stolz darauf, anders – das heißt für ihn implizit: besser – zu sein (V 58). In seinen Briefen an den Freund reflektiert Gustave ausführlich über die Frage, ob er besser oder doch nur anders sei; diese Frage beantwortet er selbst denkbar deutlich mit seiner Theorie der 'auserwählten' Seelen. Während übliche menschliche Lebensgeschichten beliebig und vergänglich, ihre Spuren nur in Sand geschrieben sind, gibt es einige wenige 'vornehmere' Seelen, die sich einer einzigen Idee ausliefern, eine einzigartige Geschichte erleben. Diesen privilegierten Seelen ist und bleibt das Mittelmaß fremd; sie sind entweder die glücklichsten oder die unglücklichsten von allen. Sie tragen – im Gegensatz zu den 'gewöhnlichen' – unauslöschliche Erinnerungen, unauslöschliche Spuren in sich und hinterlassen ebensolche Spuren in der Außenwelt, auch wenn die Einschreibung dieser Spuren paradoxerweise das Verschwinden des Subjekts selbst verlangt:
PhiN 43/2008: 43 Diese 'auserwählten' Seelen können gar nicht anders, als solche Spuren zu hinterlassen, selbst in diesen Spuren zu verschwinden, ihre eigene Spur zu werden. Der Protagonist besitzt dieses fatale Privileg der Unfähigkeit zur Spurenlosigkeit: er berichtet davon, wie er die 'Liebe' zunächst nur ausprobieren wollte, wie Kinder, "sans mémoire et sans prévoyance" (V 137), was aufgrund der besonderen Beschaffenheit seiner 'Seele' nicht gelingen konnte. Mensch zu sein bedeutet, selbst Spuren zu hinterlassen und die Spuren der anderen zu lesen; je 'nobler' der Mensch, desto tiefer die Spuren, die er hinterlässt, desto feiner seine Fähigkeit, die Spuren der anderen zu lesen. Erinnerung als "Element von geradezu transzendentem Charakter" (Pabst 1964: 143) erscheint als die eigentliche Substanz, Erinnerungsfähigkeit als die eigentliche Bedingung der Menschlichkeit – und nicht zuletzt jeglichen ethischen Bewusstseins (V 94). Diese Menschlichkeit, die sich in und an den Spuren beweist, die sie zu hinterlassen und zu lesen versteht, ist in letzter Instanz auf ein religiöses Weltbild, auf 'Gott' selbst rückführbar: 'Gott' erscheint hier als oberste Instanz der Spuren, der Impressionen; er hat der Welt ihre Formen eingeprägt; 'Gott' ist auch derjenige, der – als 'Bildhauer der Seelen' – jene 'privilegierten' Seelen auserwählt und ihnen all jene Geheimnisse anvertraut hat, die die 'gewöhnlichen' Menschen nicht kennen:
Die Erinnerungen, die Spuren wären also nicht nur die eigentliche Substanz der Menschlichkeit, sondern auch das 'Göttliche' im und am Menschen. Gustave, im Bewusstsein seiner 'Auserwähltheit', agiert als der 'Protagonist' seiner Geschichte im starken Sinne des Wortes; in der Selbstvernichtung beweist er sich als 'Herrscher' über das eigene Leben (V 137), der allein die Verantwortung für sein Unglück trägt (V 139f.). Die Einzigartigkeit der eigenen (Liebes)Geschichte, die der Tod endgültig beweist und besiegelt, macht auch das Liebesobjekt noch nachträglich zum imaginären Eigentum des Protagonisten ("Adieu, ma Valérie! Tu es mienne, par la toute-puissance de ce sentiment qu'aucun être n'a pu éprouver comme moi." V 167). Er 'segnet' Valérie und ihren Ehemann, seinen – und ihren? – 'Vater'; in diesem Augenblick der edlen Selbstentsagung und des tragischen Verzichts vollendet sich seine Geschichte ("Adieu. Mon cœur bat et s'arrête tour à tour. Vivez heureux tous deux: je meurs en vous aimant." V 167). Mit seinem 'Segen' verpflichtet der Protagonist die beiden endgültig zur (ewigen!) Erinnerung an ihn; er möchte Valéries Leben zwar nicht (zer)stören, doch er legt großen Wert darauf, dass sie nachträglich von seiner 'Liebe' erfahren, seine ganze Geschichte kennenlernen und sich daran erinnern soll – wobei diese Erinnerung auch die Exzellenz ihrer eigenen 'Seele' beweisen wird ("Ah! mon ami, je ne voudrois troubler ni son sommeil ni son cœur. Non, non, quelques larmes seulement, et un de ces longs souvenirs qui durent toute la vie, mais sans la déchirer, qui honorent ceux qui sont capables de les avoir." V 178). Der 'Vater' unternimmt einen letzten Versuch, Gustave ins Leben zurückzuholen, ihn zum Weiterleben zu überreden, wobei er die eigentliche Bedeutung dieses selbstgewollten Todes allerdings völlig verkennt. Der Graf verspricht dem sterbenden Helden zum einen, die Zeit werde die Spuren auch dieser 'schrecklichen Leidenschaft' verwischen; er verspricht ihm zum anderen einen 'Ersatz' für Valérie – diese habe eine Schwester, die ihr sehr ähnlich sehe; Gustave werde sie zur Frau gewinnen und mit ihr glücklich sein ("Non, non, dis-je avec la plus vive douleur, vous ne mourrez point; vous vivrez, vous guérirez; le temps effacera les traces d'une passion orageuse: Valérie a une sœur qui lui ressemble beaucoup; vous l'obtiendrez, et nous serons tous heureux." V 190). Gustave lehnt – vollkommen 'logisch' und konsequent im Sinne seiner Obsession der Spuren (er ist nicht daran interessiert, weiterzuleben und womöglich mit einer anderen Frau glücklich zu werden, womit er ja nachträglich eingestanden hätte, dass seine Liebe absolut nicht einzigartig, das Liebesobjekt austauschbar und er selbst ein ganz gewöhnlicher Mensch mit mediokren Passionen war) – beide Versprechen ab; er besteht nicht nur auf dem Unwillen, sondern sogar auf der Unfähigkeit seiner 'privilegierten' Seele, die Spuren einfach verschwinden zu lassen; er beharrt auf seiner eigenen Einzigartigkeit und auf der Unaustauschbarkeit Valéries. PhiN 43/2008: 44
6. La salle des souvenirs oder (Un)Willkürliche Erinnerung Der Protagonist weigert sich, die Macht der – die Spuren löschenden – Zeit anzuerkennen; er glaubt die Zeit überwinden zu können, wenn er sie im / als Raum magisch vergegenwärtigt; wo Erinnerung zum begehbaren, bewohnbaren Raum wird, kann der Traum von 'totaler' Kommunikation erfüllt werden, kann man die anderen tatsächlich in die eigene Vergangenheit mitnehmen. Gustave inszeniert die spielerische 'Entführung' der Geliebten in deren eigene Vergangenheit, er gibt ihr ihre Kindheit für einen Abend zurück und sich selbst gleichzeitig die Möglichkeit, sie in diese Kindheit zu begleiten – in einen Zeit-Raum also, in dem sie noch – auch für ihn – verfügbar und frei war. Valérie in ihrer 'kindlichen' Freude versetzt den Protagonisten selbst in seine Kindheit zurück (V 128). Der Roman schildert einige beinahe 'ekstatische' Momente der Verwandlung von Zeit in Raum, der Aufhebung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem 'magischen' Raum der Erinnerung. Italien – der größte Teil der Handlung spielt in Italien, aus Italien richtet Gustave seine Briefe an den Freund in Schweden – vor allem wird als quasi 'natürlicher' Raum der Erinnerung beschworen. Die Erinnerung schwebt über der italienischen Landschaft (V 115); in Italien werden Erinnerungen angehäuft ("[…] ce n'est pas le pays où il faut écrire, et j'emploie chaque minute à amasser des souvenirs." V 117); da es 'nördliche' Menschen sind,5 die sich hier auf Reisen befinden, wird Italien besonders intensiv erlebt. Innerhalb dieses 'natürlichen' mnemonischen Raumes ist Gustave unablässig damit beschäftigt, en abîme weitere, künstliche Räume der Erinnerung zu stiften. Ihren Höhepunkt erreicht diese 'Raumwerdung' der Erinnerung mit der salle des souvenirs (V 72ff.). Zu ihrem Geburtstag organisiert Gustave für Valérie ein Überraschungsfest; er richtet für sie unter anderem einen 'Saal der Erinnerungen' ein, in dem mit Hilfe von Schauspielern und Sängern, Dekorationen, Bildern, Licht- und Schattenspielen Szenen aus Valéries Kindheit und Jugend nachgestellt werden. Dieser Raum der Erinnerung ist ein 'magisches' Spiegelkabinett, in dem das Subjekt sich selbst (wieder) erkennt (V 74). Einen mit Bedeutung über und über aufgeladenen Raum der Erinnerung schafft sich der Protagonist auch in jenem 'gelben Salon', in dem sich das geliebte Portrait Valéries befindet; hier spricht Gustave zu der abwesenden Valérie und sie zu ihm; hier fühlt er sich von ihr angesehen und in seiner Existenz bestätigt ("Chaque matin je visite le tableau; je me remplis de cette douce contemplation; je retrouve Valérie: il me semble, dans ces heures d'amour et de superstition, qu'elle me voit […]" V 108); Valérie hat ihn selbst, hat zumindest eine Spur von ihm in ihr Portrait aufgenommen ("[…] et Gustave retrouvera dans le tableau, près de la place où je suis assise, un mouchoir noué d'où s'échappent des lilas, et son nom tracé sur le mouchoir." V 107). In täglichen Ritualen zelebriert der Protagonist vor diesem Portrait seine Erinnerung; das Portrait, der Brief Valéries, den er immer wieder liest und abschreibt, der Orangenbaum, den sie geliebt hat, der Tee, den sie gern getrunken hat – all dies wird zum sinnlichen Gesamtkunstwerk der paradoxen Inszenierung seiner unwillkürlichen Erinnerung: PhiN 43/2008: 45
Die Erinnerung entfaltet ihre eigene Dynamik; sie eliminiert für Augenblicke die Zeit, 'verkörpert' sie im Raum. Krüdeners Text evoziert immer wieder Phänomene, die man als Proustsche mémoire involontaire avant la lettre bezeichnen könnte. Wie später bei Proust sind es auch hier winzige, vermeintlich insignifikante Details des sinnlichen Erlebens, die den 'magischen' Mechanismus der Erinnerung plötzlich aktivieren – so die Orangenschalen, die Valéries Doppelgängerin aus dem Fenster wirft:
In diesen Momenten der mémoire involontaire werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins: der Protagonist 'erinnert' sich nicht nur an seine Vergangenheit, sondern auch schon an seine Zukunft; dieser ekstatische Zustand der Zeitlosigkeit wird als regelrechtes 'Delirium' beschrieben. Ein aufflatternder Schmetterling lässt plötzlich auch die 'schlafenden' Erinnerungen Gustaves wild durcheinander 'aufflattern' ("[…] je n'écoutois pas bien attentivement, jusqu'à ce qu'elle se baissa pour cueillir une violette: en la prenant, elle fit envoler un grand papillon qui passa près de moi. Tout à coup, une multitude d'idées, de souvenirs, qui avoient dormi long-temps, vinrent se réveiller […]" V 122). Doch der Protagonist, "dieser Pilger der mémoire involontaire" (Pabst 1964: 165), begnügt sich nicht damit, auf diese 'zufälligen' Momente zu warten, in denen die Erinnerung von allein einen Raum schafft, den er für Augenblicke bewohnen kann. Er übt sich in der paradoxen Kunst, diese 'unwillkürlichen' Momente der Erinnerung zu provozieren, sie so weit wie möglich zu kalkulieren. So in der zentralen Szene mit der Doppelgängerin, in der der Protagonist versucht, die Illusion der Erinnerung zu konstruieren und in der die komplizierte Inszenierung schließlich den gewünschten Effekt der 'unwillkürlichen' Erinnerung hervor- und die Realität zum Verschwinden bringt: PhiN 43/2008: 46
Die Vergangenheit hüllt den Protagonisten ein; die Erinnerung kann nicht nur wie ein Raum betreten, sondern sogar wie ein schützendes Kleidungsstück angelegt werden. Der Text selbst wird schließlich zum metaphorischen Raum der Erinnerung; der Brief, den er von Valérie erhält, wird zur (wieder)gefundenen 'Heimat' Gustaves. Er schreibt den Brief Valéries ab – er wiederholt ihn, er holt sich Valérie wieder zurück ("[…] j'ai lentement copié sa lettre, m'arrêtant à chaque ligne, comme on s'arrête en revoyant, après une longue absence, son lieu natal, à chaque place qui vous parle du passé." V 104). Der Brief wird zur sprechenden Landschaft der Vergangenheit; bevor er auch nur gelesen wurde, (er)löst der Brief und das 'Versprechen' von Bedeutung, das er enthält, den Protagonisten aus seiner melancholischen stupeur. Seine Imagination und seine Erinnerungen erwachen; die Welt füllt sich wieder mit Zeichen und mit Spuren (V 103).
7. ce voile de respect et de vénération oder Vom Verschwinden der 'Weiblichkeit' "Je t'ai respectée, ô Valérie!" (V 150) Krüdeners Roman wurde von den Zeitgenossen stark (auto)biographisch gelesen; die Autorin selbst kultivierte den 'Mythos Valérie' ("un mythe de Valérie", Mercier 1974a: 314), vermarktete ihren Roman sehr gekonnt – die gezielte Provokation biographistischer Lesarten war Teil dieser 'Marketing-Strategie'. Valérie wäre also auch die Selbst-Inszenierung einer biographisch weiblichen Autorin als Objekt männlicher Schwärmerei und männlichen romantischen Begehrens, ihre paradoxe Selbst-Objektivierung: das weibliche schreibende Subjekt spiegelt sich als Objekt im idealisierenden männlichen Blick. Valérie ist ein Dokument der hemmungslosen Idealisierung des 'Weiblichen' um den Preis der fast völligen Auslöschung weiblicher Individualität. Das 'weibliche' Schicksal des Lebens im Verborgenen und für die 'Liebe' wird – aus einer eigenartig 'hybriden' Gender-Perspektive: 'die Frauen' werden zunächst als 'ihr', dann als 'wir' angesprochen – idealisiert: PhiN 43/2008: 47
'Weiblichkeit' wird in Valérie über 'naturgegebene' ideale Qualitäten definiert – so besitzen Frauen angeblich von 'Natur' aus eine höhere Liebesfähigkeit als Männer ("Le ciel, pour dédommager les femmes des injustices des hommes, leur donna la faculté d'aimer mieux." V 145). Mit einem Wort: dieser Text zeigt enorm viel 'Respekt' vor Weiblichkeit – so viel Respekt vor allem für seine hyper-idealisierte Titelheldin, Kultobjekt einer fatalen Liebe, dass diese kaum mehr lebendig, menschlich substanzlos, auf jeden Fall als Individuum völlig irrelevant erscheint.
(Nicht nur) in Valérie gilt der 'Respekt' weniger der Frau selbst als dem anderen Mann, der hinter dieser Frau steht, ihrem 'Besitzer'; die Achtung des Protagonisten gegenüber seinem 'Vater', dem Ehemann Valéries, färbt auf das weibliche Objekt ab. Sein Respekt und seine Verehrung für diesen Mann werfen für Gustave einen Schleier über Valérie ("Ce n'étoit pas pour moi une femme avec l'empire que pouvoit lui donner son sexe et mon imagination […] Valérie étoit couverte de ce voile de respect et de vénération que j'ai pour le comte, et je n'osois le soulever pour ne voir qu'une femme ordinaire." V 33). Der Protagonist verschleiert Valérie sogar, wenn er von ihr spricht; ihr Name darf nicht 'profan' genannt, ihre Erinnerung nicht in 'unwürdigen' Kontexten evoziert werden (V 41). Der männliche Respekt idealisiert die Frau und erklärt sie zugleich als Individuum für irrelevant; er paralysiert die lebendige Frau, macht sie – im Doppelsinn – zur Unberührbaren und unterwirft sie – erbarmungslos gerade in der grenzenlosen Verehrung – dem normativen Terror des Ideals. Valérie muss 'ideal' (= selbstlos, naiv, keusch, unschuldig) sein; in all ihrer kindlichen 'Unschuld' ist sie dem Protagonisten freilich immer noch nicht ideal genug. Nur aus der Distanz, in Valéries Abwesenheit kann sich der Protagonist ungestört seinen Träumen von (s)einem 'idealen' Wesen hingeben; die 'reale' Valérie dagegen hält sich nicht immer auf der Höhe des Ideals. PhiN 43/2008: 48 Kurz: Die Gegenwart der 'realen' Frau bedeutet für den Protagonisten eine permanente doppelte Anstrengung der Phantasie, da einerseits das 'ideale' Bild womöglich Störendes übersehen und andererseits Fehlendes hinzugesehen werden muss. In Valéries Anwesenheit ist er ständig obsessiv damit beschäftigt, die 'reale' Frau so zu sehen, wie sie sein sollte. Er will sein 'Liebesobjekt' weniger für sich gewinnen als in sicherer – respektvoller – Distanz halten. Valérie kann 'geliebt' werden, gerade weil sie vergeben und verboten ist und keine Gefahr besteht, dass der Protagonist sich jemals mit ihr als 'realer' Frau ernsthaft wird auseinandersetzen müssen. Nur das verbotene, das 'keusche' weibliche Objekt weckt hier Begehren; Valéries Doppelgängerin dagegen, die einer Beziehung mit dem Protagonisten offenbar nicht abgeneigt wäre und sogar selbst die amouröse Initiative ergreift ("Il me sembloit qu'elle me regardoit avec intérêt, mais sans timidité. Tout à coup elle prit ma main et me dit: N'avete mai amato?" V 122f.) – was sogleich zum weiteren 'Beweis' ihres Mangels an seelischer und sozialer Noblesse wird –, wirkt dagegen abstoßend auf den Protagonisten ("[…] je me permis même quelques petites libertés, bien innocentes, qui ne furent pas repoussées, ce qui me contint au lieu de m'enhardir." V 112). Diese respektvolle männliche 'Liebe' erwartet und wünscht keine Gegenliebe ("Je n'avois pas blessé sa délicatesse; je n'avois même jamais désiré qu'elle fût à moi." V 145). Der Protagonist scheint denn auch tatsächlich am zufriedensten, wenn er mit seinen Erinnerungen an und Phantasien über Valérie allein ist. Gustave 'unterhält' sich mit Valérie am liebsten in ihrer Abwesenheit (V 48). Seine ausführlichen Briefe an den Freund dienen ihm als willkommener Vorwand, die 'geliebte' Frau als immer schon abwesendes und für den Freund – aber auch für Gustave selbst – fernes Objekt zu beschwören. Sogar in ihrer Gegenwart scheint er weniger mit der lebendigen Frau als mit seinem 'Bild' von ihr zu kommunizieren; Momente einer 'erfüllten' Liebe erlebt er vor allem in Gesellschaft von Valéries Portrait, während sie selbst abwesend ist. Dieses Portrait wäre die 'wahre' Valérie des Protagonisten (Mercier 1974a: 273) – Mercier weist darauf hin, dass Gustave allgemein unfähig scheint, anders als "par images interposées" (Mercier 1974a : 270) zu leben. Die 'reale' Frau wäre ihrerseits immer nur eine – unvollkommene – Kopie jenes 'idealen' Originalbildes, das der 'liebende' Mann in seinen Erinnerungen und Phantasien beschwört. PhiN 43/2008: 49 PhiN 43/2008: 50 Die 'geliebte' Frau ist das Objekt, an dem das männliche Schicksal sich erfüllt, die männliche Geschichte sich in ihrer Einzigartigkeit beweist. Sie ist das reflektierende Medium der männlichen Selbst(er)findung: subtil wird im Text selbst immer wieder darauf angespielt, dass Gustave in Wirklichkeit in einem 'Spiegelkabinett' lebt und liebt, dass diese seine – sehr egozentrische, 'essentiell subjektive' (Mercier 1974a: 305) – Liebe nicht der realen Frau, sondern der eigenen Geschichte, der 'einzigartigen' Liebesgeschichte als solcher gilt – der Idee einer Frau, der Idee der Liebe (Mercier 1974b: 11). Gerade das Medium des Briefs, das vermeintlich dem Austausch und der Kommunikation dient, wird dem Protagonisten zum Vorwand endloser Selbstbespiegelung; in den zusehends 'ritualisierten' brieflichen Konfessionen, die er an seinen fernen Freund richtet, kann er sich hemmungslos seinem 'sanften Egozentrismus' hingeben (Mercier 1974a: 303). In der Körper-Metaphorik des Textes wird dieser (selbst)reflexive Charakter von Gustaves 'Liebe' immer wieder plastisch sichtbar: anstatt wie beabsichtigt eine andere Person zu umarmen, schließen sich die Arme Gustaves wiederholt 'automatisch' um ihn selbst (V 51, 67). Das Liebesobjekt selbst berührt er fast nur indirekt (ein Kind wird zum 'unschuldigen' Überträger eines Kusses, V 71; Gustave 'küsst' Valérie durch eine Glasscheibe hindurch, V 67). Die 'Frau' als männlicher Gedanke, als Objekt und Stimulans männlicher Phantasie erfüllt ihre imaginäre Bestimmung schließlich auch als Medium der männlichen Erinnerung; sie gibt dieser Erinnerung einen / ihren Körper, sie gibt ihr vor allem jene 'Seele', der die Spuren der männlichen Geschichte(n) eingeschrieben werden können. Zufrieden stellt der Protagonist fest, dass sich der 'reinen', (fast) unbeschriebenen Valérie sämtliche Eindrücke sehr tief einprägen – sie also auch die Spuren seiner Geschichte und seiner 'Liebe' zu ihr verlässlich bewahren wird ("Je savois combien les impressions qu'elle recevait étoient profondes […]" V 75). Beim Abschied bittet er sie direkt darum, sie möge sich an ihn erinnern, ihn nicht verlassen, seine Spur nicht verloren gehen lassen ("Valérie, promettez-moi, si mon repos éternel vous est cher, de penser quelquefois à ce moment, et de me nommer, quand je ne serai plus […]" V 144); Valérie verspricht, nicht zu vergessen und die Spur treu zu bewahren ("je vous promets de ne jamais oublier ce moment" V 144). Valérie wird in der Imagination des Protagonisten zum 'Engel der Erinnerung' ("Vous êtes un ange! […] ne m'abandonnez jamais!" V 145) – oder auch zur "concrétion mnémonique de son enfance et de ses reves d'enfance" (Mercier 1974a: 323).
8. Schluss Diese Analyse konnte nur einige jener Spuren verfolgen, die der Roman Valérie in seinem komplizierten Wechselspiel von literarischer Individualität und romanesker Konvention selbst vorschreibt. Sie sollte zeigen, wie sich hier aus dieser Konvention, aus der etablierten literarischen Form des romantischen Briefromans und aus den Stereotypen der 'fatalen' Liebesgeschichte bis heute durchaus aktuelle und lesenswerte Reflexionen über den Status menschlicher Subjektivität und Individualität entfalten. PhiN 43/2008: 51 In mancher Hinsicht nimmt Krüdener in Valérie literarische Motive vorweg, die durch andere Autoren später berühmt werden sollten: So 'erinnern' ihre sensiblen Schilderungen von Phänomenen der 'unwillkürlichen Erinnerung' an Prousts mémoire involontaire. Der Text insgesamt stellt eine Reflexion über die Gesetze der Erinnerung dar. Erinnerung erscheint als die eigentliche Substanz, Erinnerungsfähigkeit als die eigentliche Möglichkeitsbedingung von 'Menschlichkeit' überhaupt. Valérie reflektiert und illustriert die Kunst der Erinnerung, die Kunst, Vergangenheit(en) zu beschwören und sie für Augenblicke in Gegenwart zu verwandeln, die Kunst, 'magische' Räume der Erinnerung zu stiften; die Kunst, die eigene Erinnerung zu bewohnen. Dieser Briefroman, in dem Briefe zwischen Männern zirkulieren, über den Kopf des eponymen weiblichen Liebesobjekts hinweg, ist schließlich ein faszinierendes literarisches Dokument über den Mythos der 'Weiblichkeit'; dieser Text, in dem unter dem Vorwand der 'Liebe' zu einer Frau – besser: zu der Idee einer Frau – männliche Solidaritäten getestet, männliche Individualitäten 'verhandelt', männliche Geschichten geschrieben werden, führt in aller Deutlichkeit vor, wie der hypertrophierte männliche Respekt vor einer grenzenlos idealisierten Weiblichkeit, vor der Idee der Weiblichkeit dazu dient, Frauen als Individuen auf Distanz zu halten, für irrelevant zu erklären; wie diese 'ideale' Weiblichkeit instrumentalisiert wird, um der männlichen Geschichte Gewicht, einen – ätherischen – Körper zu verleihen. Die 'ideale' Frau ist von Interesse nicht als Individuum, sondern als Trägerin männlicher Erinnerung; als jenes 'reine', fügsame und formbare Medium, dem die Spuren männlicher Geschichte(n) eingeschrieben werden. Immer wieder nähert sich der Text vorsichtig dem Punkt, an dem diese Inszenierung zu kippen, 'Weiblichkeit' als männliches Angst- und Wunschphantasma, die 'Liebe' des Protagonisten zu (s)einer Idee (von) einer Frau als suizidalen Solipsismus zu entlarven droht – ohne diesen Punkt jemals zu erreichen. Der 'Mythos Valérie' bleibt gerade noch intakt; der Tod des Protagonisten beendet den Roman und rettet auch die Idee der 'Weiblichkeit' in ein ungewisses Jenseits. Doch die vermeintlich völlig transparente Idee einer 'Frau' erweist sich schließlich als opak; die Frau verschwindet in der 'Weiblichkeit', sie ist niemals dort, wo der männliche Respekt sie vermutet, niemals dort, wo der männliche Blick sie weniger sucht denn sicher verborgen, respektvoll verschleiert wissen möchte: Valérie, das weibliche Objekt eines männlichen selbstreflexiven, zutiefst egozentrischen Begehrens, das nicht an der Frau, sondern an der eigenen Geschichte und deren Einzigartigkeit interessiert ist – und für diese Einzigartigkeit den eigenen Tod in Kauf nimmt –, verschwindet in diesem Text, der unaufhörlich männliche Phantasien um sie kreisen lässt; sie verschwindet und hinterlässt nur im Titel ihre Spur. PhiN 43/2008: 52 BibliographieKofman, Sarah (1982): Le respect des femmes. Paris: Galilée. Mme de Krüdener (1974): Valérie. Paris: Klincksieck. Ley, Francis (1961): Mme de Krüdener et son temps (1764–1824). Paris: Plon. Ley, Francis (1967): Bernardin de Saint-Pierre, Madame de Staël, Chateaubriand, Benjamin Constant et Madame de Krüdener. Paris: Aubier / Montaigne. Mercier, Michel (1974a): Valérie. Origine et destinée d'un roman (Thèse). Lille. Mercier, Michel (1974b): Introduction, in: Mme de Krüdener, Valérie. Paris: Klincksieck, 7–15. Mercier, Michel (1974c): Notes et Commentaires, in: Mme de Krüdener, Valérie. Paris: Klincksieck, 199–214. Merleau-Ponty, Maurice (2003): Der Philosoph und sein Schatten, in, ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hamburg: Felix Meiner, 243–274. Pabst, Walter (1964): "Juliane von Krüdener, Jacques Delille und die Mémoire involontaire", in: Germanisch-Romanische Monatsschrift Bd. XIV (Neue Folge) / 2, 139–170. Puškin, A. S. (1993): Evgenij Onegin, in: Izbrannoe. Moskau: Profizdat, 121–282. Robel, Léon (1994): Des romans fantômes, in: Histoire de la neige. La Russie dans la littérature française. Paris: Hatier, 85–92. Sainte-Beuve: Madame de Krüdner, in: Portraits de femmes. Paris: Gallimard (Folio), 1999, 457–488. Anmerkungen1 (Barbara) Juliane de Krüdener, geborene Vietinghoff (1764–1824), Baronin baltischer Abstammung, wurde mit ihrem auf Französisch verfassten Briefroman Valérie (1803) berühmt. Valérie löste in Paris eine regelrechte Mode aus; die Autorin selbst machte auch abseits der Literatur als Dame der Gesellschaft und später als "égérie mystique" des Zaren Alexander I. und als "inspiratrice de la Sainte-Alliance" (Robel 1994: 92) von sich reden (vgl. auch Pabst 1964: 169). Zu Mme de Krüdeners Leben und Werk allgemein vgl Ley (1961); zum gesellschaftlichen und literarischen Umfeld Krüdeners: Ley (1967), Als Standardwerk zu Valérie gilt bis heute Mercier (1974). PhiN 43/2008: 53 2 Alle Seitenangaben zu Zitaten aus Valérie (= 'V'; direkt im Text in Klammern nachgestellt) beziehen sich auf folgende Edition: Mme de Krüdener (1974): Valérie, Paris: Klincksieck. 3 Der Prince de Ligne verfasste halb im Scherz einen 'lebensbejahenden' alternativen Schluss zu Valérie (1807): der Graf lässt sich von Valérie scheiden, um Gustave die Ehe mit ihr zu ermöglichen, und heiratet seinerseits eine Jugendfreundin (vgl. Sainte-Beuve 1999: 473; Mercier 1974c: 200). Auch hier erscheint die rückhaltlos idealisierte Frau als Tauschobjekt zwischen Männern, nach dessen eigener Perspektive nicht viel gefragt wird. 4 Auch Kunst wird – durchaus konsistent im Sinne der romantischen Ideologie – als Teil dieser zeichenhaften Natur reimaginiert: auch Kunstwerke haben 'Wurzeln', Ursprünge, sie haben ihren 'natürlichen' Ort, sie sollten nicht entwurzelt werden (V 117). Mercier weist auf die politischen Implikationen dieser Reflexion über die frevelhafte 'Entwurzelung' von Kunstwerken hin, die im Kontext der Napoleonischen Eroberungskriege und des folgenden 'Transfers' diverser Kunstschätze nach Frankreich politisch sehr aktuell war (Mercier 1974a: 35). 5 Zur 'geophantasmatischen' Organisation dieses Romans, der nördliche Menschen in südlicher Umgebung vorführt, den Norden ebenso wie den Süden symbolisch auflädt und überdeterminiert, vgl. Mercier: Du Nord et du Midi, in Mercier 1974a: 341–370. Italien erscheint als Raum sehr intensiven sinnlichen Erlebens – das bei Krüdener immer auch schon antizipiertes 'Erinnern' ist –, aber auch als gerade in dieser Intensität bedrohlicher, ja unheimlicher Raum, der von Anfang an vages Unheil verspricht (zu diesem Topos des "unheimliche[n] Italien" in Valérie vgl. Pabst 1964: 163ff.). Der Protagonist empfindet die Gefahr, die von 'Italien' ausgeht, sehr deutlich: "Je suis perdu, Ernest! je n'avois pas besoin de cette Italie, si dangereuse pour moi. […] que deviendrai-je dans ce pays? […] Ernest, que faisois-tu, quand tu me laissas partir ? Il falloit me précipiter dans les flots de la Baltique, comme Mentor précipita Télémaque." (V 58). Der Freund antwortet mit dem – nicht mehr rechtzeitig eingelösten – Versprechen, Gustave von diesem unheimlichen, unheilvollen Ort in seine nördliche Heimat zurückzuholen: "J'irai t'arracher à ces funestes lieux." (V 110). 6 Anfang des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an das englische 'shawl' verbreitete Schreibweise für 'châle'. |