PhiN 42/2007: 56
Ludger Scherer (Bonn)
Uwe Schleypen (2004):
Schreiben aus dem Nichts. Gegenwartsliteratur und Mathematik –
das Ouvroir de littérature potentielle. München:
Meidenbauer. ( = Romania Viva, 1)
Ausgangspunkt von Uwe
Schleypens umfangreicher (458seitiger) Studie zum französischen
Ouvroir de littérature potentielle ist die scheinbare
Unvereinbarkeit von "Mathematik und Literatur, Berechnung und
Imagination, formale[r] und bildliche[r] Sprache" (11). Die
derart beschriebenen Gegensätze würden natürlich
Antinomien bleiben, veränderte sich ihre Zuordnung nicht im
Verlauf der Untersuchung – doch Schleypen enttäuscht die
Erwartungen der Leser nicht und resümiert am Ende seiner Arbeit:
"Und dennoch treffen sie sich – im Nichts" (411). Damit
wäre zugleich der Titel seines Buches angesprochen, der bei
denjenigen, die sich bereits mit Oulipo beschäftigt
haben, durchaus Erstaunen auslösen kann, denn aus dem Nichts
entstehen die Werke dieser Autoren ja gerade nicht, sondern aus
selbstgewählten formalen Vorgaben, den contraintes.
Worauf sich die mißverständliche Formulierung bezieht,
wird bei der Lektüre klarer und bietet doch einen Ausgangspunkt
für die kritische Würdigung der Arbeit.
Diese gliedert sich in vier Kapitel.
Eingangs wird in einer Einleitung, wie schon angedeutet, die
angebliche Befremdlichkeit der Untersuchungsperspektive betont, und
zentrale Begriffe und Setzungen der folgenden Untersuchung kommen
bereits zur Sprache. Ausgangsthese ist, daß "die écriture
sous contrainte und die moderne Mathematik von einer direkten
Auseinandersetzung mit der Realität absehen, da sie ihre
Sicherheit im Umgang mit ihr verloren haben" (13). Das erste
Kapitel widmet sich dann unter der Überschrift "Literatur,
Mathematik und Absenz" in drei Abschnitten der Präsentation
von Oulipo, der modernen Mathematik und dem Modell der Absenz.
Die Gründung des Ouvroir de littérature potentielle
1960 durch Queneau und Le Lionnais, seine Methodik, Mitglieder und
Position in der Literaturgeschichte, all dies wird kurz angesprochen,
teilweise etwas zu verkürzend, denn die Behauptung, daß
ihre praktische Ausrichtung die Oulipiens (sinnvollerweise
übernimmt Schleypen den eingeführten französischen
Terminus für die Mitglieder der Autorengruppe) daran hindere,
"das Warum ihrer Methode zu hinterfragen, geschweige denn, sich
geistesgeschichtlich zu situieren" (18), stimmt schon im Kontext
der folgenden Analysen nicht.
PhiN 42/2007: 57
Der Umgang mit den contraintes
erfolgt ja vielmehr bewußt, reflektiert und durchaus im Bezug
auf historische Zusammenhänge und Entwicklungen. Im Anschluß
stellt Schleypen einschlägige Forschungsliteratur kritisch vor,
wie auch am Ende des folgenden Unterkapitels zur modernen Mathematik,
das die mathematische Geheimgesellschaft Bourbaki präsentiert,
die 1934 als Rebellion gegen die verkrustete französische
Mathematik begann und nach dem Krieg zum dominierenden Paradigma auch
der universitären Lehre aufstieg. Ihr Kennzeichen ist der
Versuch, in einem bis heute unabgeschlossenen umfassenden Lehrwerk,
den Eléments de mathématique, den verschiedenen
mathematischen Disziplinen durch strenge Formalisierung und Axiomatik
eine sichere gemeinsame Basis zu liefern. Das 'Moderne' dieser
nicht-euklidischen Mathematik reflektiert die Problematisierung des
traditionellen Wahrheitsbegriffes, ausgedrückt in den säkularen
Schwierigkeiten der Mathematiker mit Euklids Parallelenaxiom, die zu
einer Abkoppelung von der empirischen Wirklichkeit führte. Das
arbiträr gesetzte Axiomensystem, das an die Stelle von
unsicherer Anschauung und Intuition tritt, hat nur einen relativen
Wahrheitswert und auch die formalistischen Kriterien der
Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit sind prinzipiell
unbeweisbar – so bleibe der Glaube an die Richtigkeit der Theorie
als einziger Ausweg aus dem erkenntnistheoretischen
"Münchhausen-Trilemma" (41). Das letzte Unterkapitel
des ersten Teils nimmt nun die Setzung vor, "Absenz als Modell
zeitgenössischer Weltbetrachtung" zur
"erkenntnistheoretische[n] Grundlage des oulipotischen
Schreibens" (44) zu erklären, wozu postmoderne Ansätze
der Philosophie und Kunst angerissen werden. Derridas und Lyotards
einschlägige Werke werden dabei auf die Kategorie der radikalen
Absenz von Transzendenz hin referiert, die europäische Kunst
seit dem 19. Jahrhundert auf die Behandlung der Leere hin abgeklopft,
wobei der von Hugo Friedrich postulierten "leeren Transzendenz"
(59) der Symbolisten die postmoderne Absenz folge. Die "Literatur
unter den Bedingungen von Absenz" soll nun im folgenden auf
Spuren dieses Weltbildes untersucht werden.
Paradebeispiel dafür ist Georges
Perecs Roman La Disparition (1969), dem sich das zweite
Kapitel von Schleypens Arbeit unter der Überschrift "Die
symbolische Absenz eines Vokals" widmet. Das erste Unterkapitel
begibt sich darin auf die "Suche nach dem Vokal der Weisen"
(67), analysiert dazu detailliert den Aufbau des Romans, seine
Genese, die Figuren und ihre Charakterisierung (der Protagonist Anton
Voyl wird zur "Personifikation des ungestillten
Erkenntnisstrebens", 81) und die aktive Rolle des Lesers bei der
Lösung des kriminologischen Rätsels und der Identifizierung
der zugrundeliegenden contrainte. Der fehlende Buchstabe e des
Romans wird als "Symbol für die verschwundene Wahrheit"
(104) interpretiert, das Lipogramm gerät zu einem "Gleichnis
für das menschliche Erkenntnisstreben" (105). Nach diesem
ersten Analyseschritt unternimmt es das zweite Unterkapitel ("Der
epistemologische Rückgriff auf die ästhetische Moderne"),
das Erkenntnisproblem der literarischen Instanzen mit der
Kulturgeschichte der Moderne zu verknüpfen.
PhiN 42/2007: 58
Die zahlreichen
intertextuellen Verweise in Perecs Roman werden entsprechend auf ihre
Beziehung zur "Erkenntnissuche des modernen Subjekts" (107)
hin untersucht. Besonderes Gewicht erhalten dabei die sechs
lipogrammatisch nachgedichteten Klassiker der französischen
Lyrik von Hugo, Baudelaire, Mallarmé und Rimbaud. Diese werden
überzeugend als Rekonstruktion der "Biographie des modernen
Subjekts" (115) interpretiert, ausgehend vom Ungenügen an
der Realität über den gescheiterten romantischen Versuch
der intuitiven Vision bis zum Ennui und der zitierten leeren
Transzendenz der Symbolisten. Auch die weiteren Intertexte des
Romans (u.a. Thomas Manns Der Erwählte) verweisen auf die
Zufallsbedingtheit menschlicher Tätigkeiten und die
Unmöglichkeit absoluten Wissens. Die "Nachforschungen der
anderen Romanfiguren" (143) unterliegen denselben Bedingungen,
die fortwährende Suche nach Erkenntnis führt wiederum
lediglich zur "leeren Transzendenz" (154). Das dritte
Unterkapitel bindet diese Befunde an die postmoderne Kondition der
Absenz an. Letztere ist nicht mehr symbolistisch-modern "leer",
sondern "abwesend", paradoxe Anwesenheit der Abwesenheit
des Absoluten. La Disparition als "exemplarisches Werk
der Absenz" (162) weise deren charakteristische ästhetische
Erscheinungsformen auf, "die motivliche Darstellung von Leere,
die Konstruktion aufgrund autonomer Regelsysteme, die differentielle
Sinnkonstruktion, Prozesshaftigkeit und Momente der Dekonstruktion"
(162). Nachdem Schleypen alle diese Elemente, teilweise in
abgemilderter Form im Vergleich zur Radikalität der
zugrundeliegenden philosophischen Ansätze, in Perecs Roman
aufgespürt hat, kann er abschließend resümieren: "Der
mutmaßliche Vokal der Weisen ist ein Waise" (197), Symbol
der Relativität jeder Erkenntnis und des unabgeschlossenen und
unabschließbaren Prozesses diskursiver vorläufiger
Sinnkonstruktion.
Das dritte Kapitel "Die écriture
sous contrainte und Absenz in oulipotischen Texten"
unternimmt es nun, nach demselben Schema Spuren der Absenz in anderen
Texten von Oulipiens nachzuweisen. Diese Einteilung erweist
sich nicht immer als stringent, so stellt die Erzählung Banlieu
von Paul Fornel zugegebenermaßen (vgl. 202) keine bloß
"motivliche Darstellung von Leere" (162) dar, ebenso wie
Perecs Voyage d'hiver dort fehl am Platze ist. Abgesehen von
dieser Detailkritik liegt die Gefahr der gewählten
Darstellungsform darin, der deutlicheren Präsentation
oulipotischer Meisterwerke zuliebe schiefe und verkürzende
Gegenüberstellungen vorzunehmen. Das beginnt bereits mit dem
apodiktisch zu "dem zeitgenössischen Weltbild" (199)
stilisierten Absenzmodell, zu dessen Verdiensten dann ästhetische
und philosophische Konzepte erklärt werden, die durchaus älter
sind (Kunstautonomie, Areferentialität, Intertextualität).
Manche zu beanstandende Formulierung nimmt der Autor an späterer
Stelle implizit zurück, etwa wenn er zunächst behauptet,
die Erfahrungswelt und "literarisch-kulturelle Sinnmuster"
(199) seien außersprachliche Größen, um dann zu
schreiben, daß "auch die Lebenswirklichkeit des Autors
bereits kulturell geprägt ist" (210).
PhiN 42/2007: 59
Ebenso ist die
écriture sous contrainte kein Wundermittel, auch ohne
sie entstünde "das Werk erst während des Schreibens"
(241). Schleypens Analyse oulipotischer Texte ist jedoch durchweg
gelungen, insbesondere die Darstellung der Bedeutung Mallarmés
für Oulipo, die (auch bereits an anderer Stelle
vorgelegte) Lektüre von François Le Lionnais' L'unique
sonnet de treize vers et pourquoi (243-245) und die präzise
Analyse von Jacques Roubauds vertracktem dekonstruktivistischen
Kriminalroman L'Enlèvement d'Hortense (246-255). In der
Zusammenfassung nennt er das oulipotische Korpus ein "zeitgemäßes
Schreiben" (256), wobei wiederum im Bemühen, dieses vom
Geruch bloßer artifizieller Sprachspielerei zu befreien, das
"Gewebe realer, historischer, kultureller, literarischer,
biographischer und gruppeninterner Bedeutungsangebote" (256),
das zu seiner Stabilisierung herbeizitiert wird, zu Unrecht der
Sprache entgegengestellt wird.
Im vierten Kapitel "Die écriture
sous contrainte und die moderne Mathematik" kommt Schleypen
dann auf die Ausgangslage zurück und untersucht mögliche
Parallelen zwischen Oulipo und Bourbaki, angefangen von
der ähnlichen Organisationsstruktur der Gruppen, ihrer
Arbeitsweise und Geselligkeit, über den Vergleich der Methoden
Axiom und contrainte, die Eigenarten der jeweils produzierten
Texte und die Art der Kreativität bis hin zum fundamentalen
mathematischen Erkenntnismodell. Dies geschieht ausführlich und
nachvollziehbar, die Schlußfolgerung, daß von Oulipos
"Ziel, Mathematik und Literatur zu vereinen [...] kaum etwas
übrig geblieben zu sein [scheint]" (12), findet sich in
dieser vergröberten Form jedoch bereits in der Einleitung. Aller
Vergleichbarkeiten der beiden Gruppen zum Trotz läßt sich
nicht nachweisen, daß Oulipo nach dem Vorbild der
Mathematikergruppe gebildet wurde (vgl. 296), obwohl Schleypen dies
eine Druckseite später behauptet. Auch sind mathematische Axiome
und literarische contraintes nicht nur "in ihrer
Anwendung" (305) unterschiedlich, sondern von verschiedener
Natur. Daran ändert auch Queneaus Versuch einer axiomatischen
Poetik in Les Fondements de la Littérature d'après
David Hilbert nichts, den Schleypen dann als "Parodie"
(312) liest, und der gleichwohl "die Axiomatik als literarisches
Verfahren gerechtfertigt" (314) habe. Mathematische Strukturen
eignen sich jedoch schlecht für direkte Übertragungen in
Literatur, davor steht bereits die mangelnde logische Strenge der
Sprache.
Auch ein Exkurs zu möglichen Beziehungen Oulipos
zum französischen Strukturalismus erbrachte als Ergebnis, daß
diese "ähnlich oberflächlich und akzidentiell wie die
Beziehungen des Strukturalismus zu Bourbaki" (343) sind. Strenge
und Nachvollziehbarkeit sind bei oulipotischen Texten
begreiflicherweise nicht in mathematisch befriedigendem Ausmaß
anzutreffen. Einen interessanten Vergleichspunkt stellt hingegen die
"kreative Seite" (362) der Mathematik dar, deren
Bildlichkeit, Unregelmäßigkeit und Assoziativität
Verbindungen zur literarischen Textproduktion erlauben, auch wenn die
Dialektik von Freiheit und Form in beiden Domänen
unterschiedlich funktioniert.
PhiN 42/2007: 60
Der Überstrapazierung
mathematischer Parallelen hätte an dieser Stelle womöglich
ein Blick in Georges Perecs Text La chose (postum 1993)
abgeholfen, in dem das Verhältnis von liberté und
contrainte ausgehend vom Free-Jazz diskutiert wird. Das
Schreiben in beiden Domänen ist jedenfalls eher unterschiedlich
denn "Ungleich gleich" (379). Entsprechend skeptisch wäre
zu bewerten, wie großen Einfluß das "erfolgreiche
mathematische Erkenntnismodell" (382) auf oulipotische Texte
hat, im Vergleich zu literarischer Tradition etwa oder
philosophischer Theorie. Das problematische Verhältnis zur
Wirklichkeit führte wohl in der modernen Mathematik und bei
Oulipo zum Versuch der Formalisierung, reiner Formalismus ist
allerdings kein Paradigma für die Literatur (vgl. 386);
Schleypen sieht gleichwohl im Umweg über formale Regeln einen
neuen indirekten Realitätsbezug ermöglicht (vgl. 410).
Bevor im umfangreichen Anhang die
erwähnten contraintes in einem Glossar erläutert
werden, eine Bibliographie und drei Indices die Arbeit er- und
beschließen, resümiert Schleypen im Kapitel "Schreiben
aus dem Nichts" die Ergebnisse seiner Arbeit. – Einige
Detailkritik daran ist im Verlauf der Darstellung bereits
angeklungen, die monierten Formulierungen, Ungenauigkeiten und
Verkürzungen entspringen allerdings häufig aus dem
ehrenwerten, aber übertriebenen Bedürfnis, die literarische
Qualität und das Reflexionspotential oulipotischer Texte
herauszustellen, die in der Tat zu oft als bloße
Sprachspielerei mißverstanden wurden. Zu diesem Zweck ist es
beispielsweise jedoch nicht nötig, ein vorsintflutliches
Gegenbild 'traditioneller' primitiv-mimetischer Kunst zu
konstruieren, vor dessen dunklem Hintergrund Oulipo heller
leuchten könnte.
Positiv zu vermerken sind auf jeden Fall die
umfassenden Werkanalysen. Das Gesamtkonzept ist etwas kritischer zu
sehen: Folgt man Schleypens Modell der Absenz und billigt ihm
ebenfalls fundamentale Bedeutung für die Geisteswissenschaften
und Künste im 20. Jahrhundert zu, so bleibt doch die Frage, ob
Absenz mit Nichts gleichzusetzen wäre, ob das postulierte Nichts
als "nackte Realität einer gebrochenen Welt" (412)
erstens erkenntnistheoretisch schlüssig beschrieben und zweitens
wirklich notwendiger und hinreichender Ausgangspunkt für die
écriture sous contrainte ist.
Die wichtige Rolle der
Mathematik für Oulipo ist nach Schleypens Untersuchung
nun genauer beschreibbar – wenn man die Bedingungen der Literatur
(stärker) berücksichtigt. Für oulipotische Texte ist
jedenfalls die Dialektik von liberté und contrainte
ausschlaggebend, deren Ausdruck nicht zuletzt das clinamen
ist, die bewußte Abweichung von der Regel, das Schleypen ja
auch anspricht (vgl. 353). Die Faszination dieser Texte gelingt es
Schleypen, etlicher Redundanzen zum Trotz, gut zu vermitteln, deren
Bezüge zur Mathematik werden erstmals umfassend analysiert,
wobei ein weniger formalistisches Vorgehen die eher
philosophisch-ästhetischen Gemeinsamkeiten womöglich
deutlicher zum Vorschein gebracht hätte.
PhiN 42/2007: 61
Direkte Übernahmen
und Parallelen sind zwischen den Bereichen Mathematik und Literatur,
gerade auch im Zuge der gewählten poststrukturalistischen
Perspektive, wohl weniger wahrscheinlich und auch weniger wichtig,
intertextuelle und 'interdisziplinäre' Beziehungen hingegen
schon. Die eingangs angesprochene mißverständliche
Formulierung des Titels hat den Blick demnach auf einige Kritikpunkte
an der Arbeit gelenkt, die deren zahlreiche Verdienste jedoch nicht
aufheben.
|