Dirk Padeken (Frankfurt a. M.) Welterkenntnis unter Anleitung des Gaumens. World-knowledge by virtue of the palate. On epistemological aspects in the novels of Thomas Harris Das Gute und das Böse ist gleichermaßen spektakulär. Keine moralische Kategorie ist denkbar ohne die diskursive Entfaltung des Menschen. Wer nicht vor Entscheidungen steht, kann nichts falsch machen; wer sich nicht handelnd selbst gestaltet und verändert, kann nicht irren; wer nicht unterwegs ist, der kann nicht fehlgehen. Moralische Kategorien hängen daran, daß die Menschen Raum haben und Zeit haben, um etwas anderes aus sich zu machen als das, was sie sind. Die Moral braucht eine Bühne, um sich zu zeigen. Sie ist Spektakel in dreidimensionaler Welt. Viel ist geschrieben worden über die Dominanz des Auges in allen kognitiven Belangen, viel ist gesagt worden über die Führungsrolle des optischen Sinnes in den Prozessen der Welterschließung. Vor allem die Philosophie Platons misst dem Schauen die entscheidende Position zu bei jedwedem Erkenntnisprozeß. Die Einsicht ins Ewige und Wahre ist ihr im ungetrübten Blick; durch ihn kommt uns Dignität zu. "Denn wie gesagt, jede Menschenseele hat von Natur das Seiende geschaut." (Platon, Phaidros: 64) Das Wahre erscheint in unserem Gesichtsfeld, dies ist sein Ort: das Gesicht des Menschen ist mehr als nur anthropologischer Faktor. Unser Sehen ist vorneweg im Bunde mit einer Erkenntnis, die über die Domäne der Anthropologie weit hinauslangt. "Die innige Verbindung mit diesen edelsten Sinnen dürfte wohl mit vollstem Recht als dasjenige gelten, was einem jeden Wesen sein Heil sichert." (Platon, Gesetze: 508) Das Wahre hat ein Antlitz, das zu Schauen uns möglich wird, tritt es in unseren Gesichtskreis. Der Gesichtskreis ist das vor-kantische Apriori der Vernunft. Wer zum Schauen bestellt wird, dem ist ein privilegierter Ort gewiß, dem sind besondere Ordnungskompetenzen zugesprochen.1 Woher dieses Primat des Auges rührt, dafür hat die philosophische Anthropologie plausible Begründungen gegeben. Der optische Sinn garantiert Souveränität, denn er zeigt vorneweg an, daß die Dinge separat sind von mir und meinem Leib, daß ich noch Zeit und Raum habe, mich auf sie einzustellen. Der optische Sinn zeigt Distanz und damit ein Unbeteiligt-Sein, aus dem erst nach Veränderungen und Wandlungen Beteiligung werden mag. PhiN 17/2001: 2 Alle übrigen Sinne melden dagegen immer schon höhere Dringlichkeit, bringen die Phänomene der Wahrnehmung weit intimer heran an den menschlichen Körper; Geschmack, Gehör, Geruch und das Taktile dringen unmittelbar auf ihn ein und lassen keinen oder nur unsicheren Begriff von Distanz.
Nur wer sich von der Welt so zu distanzieren vermag, der vermag auch wahrhaft moralisch zu handeln; nur der hat Optionen zur Selbstentfaltung. In eben diesem Sinne ist das Gute und das Böse gleichermaßen spektakulär; ihr Verständnis wird geprägt von Erkenntnisbegriffen, die allesamt unter dem Primat des Auges stehen. Vom Ende der spektakulären Welt, von einer Welt, die näher und dringlicher auf die Subjekte einwirkt, von Welterkenntnis unter Anleitung des Gaumens , kündet dagegen die Hannibal Lecter-Trilogie von Thomas Harris. Dr. Hannibal Lecter, Psychologe, Serienmörder und leidenschaftlicher Feinschmecker, hatte seinen ersten Auftritt im Roman Red Dragon von (Harris 1981). Wir begegnen ihm dort in Gefangenschaft, spektakulär ausgestellt in einem Glaskäfig, der Schau von Ärzten, Psychiatern und Kriminologen preisgegeben. Große Ergebnisse zeitigt diese Schau freilich nicht, trotz oder wegen Lecters bereitwilliger Kooperation. Über Ergründung und Klassifizierung des mörderischen Bewußtseins ist man sich ganz uneins. Eine Ausnahme scheint der Polizeipsychologe Will Graham zu sein, der zu Lecters Verhaftung wesentlich beigetragen hatte; in enigmatischer Wendung bestätigt ihm jedenfalls Lecter selbst: "The reason you caught me is that we're just alike." (RD: 67) Auch Grahams Vorgesetzte unterstellen ihm eine besondere Beziehung zum Objekt seiner Studien und fordern ihn auf, sie ins Bild zu setzen, sich ihnen mitzuteilen:
Solche Weigerung erscheint nicht als Unlust sondern als Unvermögen, das Verstehen auch zu reflektieren und zu vergegenständlichen, also mitzuteilen. Grahams Verstehen versteht sich zunächst einmal selbst nicht. Mit diesem Rätsel wird dann auch der Leser in die sich entfaltende Kriminalhandlung entlassen: für Graham beginnt alsdann erneut die Jagd auf einen gefährlichen Soziopathen. Weil nur Gleich und Gleich einander wahrhaft erkennen, soll ihm Lecter, gegen Haftvergünstigungen, beratend zur Seite stehen. Sukzessive kann jetzt Graham (und mit ihm der Leser) die Identität des Serienmörders Francis Dolarhyde ermitteln: Dolarhydes Gesicht ist von Geburt entstellt, sein Sprachvermögen stark eingeschränkt, sein ganzes Erscheinen monströs. PhiN 17/2001: 3
Von diesem Kind wendet alle Welt seinen Blick ab; sein Leben lebt es in Einsamkeit, unterbrochen nur von den regelmäßigen Demütigungen durch seine Mitmenschen. Im Erwachsenenalter, einige kosmetische Operationen später, die ihm zu regelmäßigen Gesichtszügen verhalfen, macht sich dann Dolarhyde daran, aus seiner Vereinzelung, seinem Unbeachtet-Sein, auszubrechen und ins Platonische Spektakel der Schau einzutreten. Dolarhyde arbeitet in einem Labor als Filmentwickler, mit Leidenschaft betrachtet er dort Familienvideos. Nachts schleicht er sich in die Häuser dieser Familien und macht sie und sich selbst zu Protagonisten eines mörderischen Spektakels. Er tötet und er zieht Blicke auf sich. Noch die Toten arrangiert er als sein Publikum, als jene, die ihn, seine Tat und sein Vorhandensein bezeugen.
Jene Selbstvergewisserung, die der Publikumsblick auf den Weg bringt, wird vollendet noch dadurch, daß Dolarhyde sogar Filmaufnahmen macht von seinen Verbrechen, die Zeugenschaft für sein Treiben also noch einmal intensiviert, sie gegenständlich werden läßt.
Natürlich: Wir erleben Francis Dolarhyde hier beim Eintritt in die Reflektions- und Objektivierungskultur der Moderne. Was ist, muß kenntlich gemacht und wahrgenommen werden; Subjektivität entsteht in der Ratifizierung durch erwiderndes Wahrnehmen. Das Selbst muß auftreten und sich bestätigen lassen. Vor allem Kant hat uns gelehrt, daß Subjektivität nicht voraussetzungslos, sondern nur über den Umweg der Reflektion zu haben sei. Dabei zeigt schon der Begriff des 'Reflektierens' an, daß Subjektivität allein zeit- und räumlich existieren kann. Konsequent hat Kant diese Kategorien zu transzendentalen Aprioris von Wahrnehmung überhaupt bestimmt. Sie sind "notwendige Vorstellungen, die allen Anschauungen zum Grunde" liegen; in ihnen "allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich" (Kant: B 47). PhiN 17/2001: 4 Die Distanzierungsleistungen des Auges sind unausgesprochene Voraussetzung auch des kantischen Modernitätsbegriffes. Dolarhyde erobert sich hier eine Bühne, schafft sich ein Leben im Spektakulären und damit eine Erfahrung vom Selbst unter modernen Bedingungen. Er tritt ein in die Welt des Logos gegen die Hindernisse seines zerstörten Antlitzes und seiner unartikulierten Stimme. Die wesentlichen Fingerzeige zum Objektivierungsbegehren Dolarhydes erhält Graham dabei von seinem ungewöhnlichen Sekundanten Hannibal Lecter: "'[The audience of dead victims is] set so he can see himself. In their eyes '" (RD: 67) Das Böse, das von Dolarhyde ausgeht, ist nichts weniger als abgründig, es scheint vollständig rationalisierbar, betrachtet man nur seine emotionalen Versehrungen aus der Kindheit. Die Blicke, die sich anfangs mit Entsetzen von seinem entstellten Gesicht abwandten, zieht er jetzt mit Gewalt auf sich. Daß jene, die seine Existenz bezeugen sollen, von ihm sogleich ermordet werden, fügt sich eigentlich nur in die vielfach beschriebene Tendenz aller Reflektionskultur zur Verdinglichung; in der Linie vom lebendigen zum Kamera- zum toten Auge kann man die Bewegung von Reflektion zu Objektivierung zu Petrifizierung gespiegelt sehen. Das Lebendige ist, was sich der Reflektionskultur am ehesten entzieht (so argumentieren auch in der Moderne eminente Vertreter der Existenz- und Lebensphilosophie wie William James, Nietzsche, Heidegger, Bergson); größere Dignität kommt dem Geronnenen, Festgestellten zu. Dolarhydes Ambition, ins Spektakel der modernen Reflexionskultur einzutreten, ist, wenn es mörderisch wird, eigentlich nur besonders konsequent, beschleunigt und vollendet dessen Logik. In diesem Spektakel, entzündet von unserem optisch geprägten Erkenntnisbegriff, wird er objektiv und identifizierbar. Der Ermittler Graham kann ihn am Ende dann stellen, weil er bei aller Vorsicht doch einen Fingerabdruck hinterlassen hat auf der Pupille eines seiner Opfer. Auch in dem Band Hannibal, der die Trilogie beschloß (Harris 1999), sind die Motive des Spektakulären und des Theatralischen von tragender Bedeutung. Auch hier geht es um die Verfertigung eines snuff-Videos, freilich um eines, bei dem Lecter selbst das Opfer sein soll. Den Industriellen Mason Verger hatte er einst dazu gebracht, sich im Drogenrausch die Gesichtshaut abzuziehen und wilden Hunden zum Frass vorzuwerfen. So jedenfalls erinnert es Verger Lecter insistiert vielmehr, er habe sein eigenes Gesicht aufgegessen. Das Rückgrat brach Lecter ihm dann außerdem, und nun sinnt der gelähmte, totengesichtige Verger auf Rache. Er hat Schweine züchten lassen, denen Menschenfleisch die grösste Delikatesse ist: sie sollen Lecter lebendigen Leibes fressen, in einem kontrolliert-ausgeklügelten Modus von den Beinen aufwärts, so das Lecter es mitansehen muss. Dies "theater" (104), zu seinem ewigen Ergötzen, will Verger filmisch festgehalten sehen. Selbstverständlich aber scheitert der Plan: Lecter entkommt Verger, der Meister des Fressens verhindert sein Gefressen-Werden. Frass wilder Tiere wenn auch der eines Fisches, nicht der der Schweine wird jener. PhiN 17/2001: 5 Vom Schauen und vom Schmecken, so könnte der Obertitel der Lecter-Trilogie lauten. Im Gewand von Krimi und splatter führt uns Harris einen Putschversuch im Palast der Kognition vor: den des Küchenmeisters gegen seinen Thronherrn, den traditionell in Ehren stehenden Seher. Lecter kämpft gegen das optisch dominierte Erkennen und die uns daraus zugewachsene moderne Reflektionskultur. Den Simpel Dolarhyde, der Anschluß an sie sucht, verachtet er. Was ihn an Graham bindet "we are just alike" ist eine Mächtigkeit des Intuitiven und Sinnlichen.2 Und es ist stimmig, daß Graham Dolarhyde zwar stellt, dieser ihm im Kampf aber das Gesicht zerschneidet (345); so wird auch er endgültig zum Dissidenten im Spektakel platonischer Schau und kantischer Reflektion. Lecter, der Psychologe, betrachtet die Psychologie als "a dead religion" (SL: 163), gleichsam als die Phrenologie des 20sten Jahrhunderts.3 Das Raum/Zeit-Apriori der Reflektionskultur bleibt im Kern materialistisch. Hier wie dort werden Quantifizierung und Logifizierung als Blick in die menschliche Substanz ausgegeben; hier wie dort bleibt das Subjekt ein sich selbst Auswendiges, das zeit- und räumlich Maß an sich zu nehmen hat, um sich selbst zu erfahren. Die Äußerlichkeit ist der modernen Reflektionskultur nicht äußerlich, sondern, man erlaube das Paradox, zuinnerst. Der moderne Mensch ist nie unmittelbar bei sich selbst, sondern muß, um einen Eindruck von sich zu haben, immer erst sein Haus verlassen, muß von fremdem Anschluß her eine Verbindung zu sich herstellen, und hört dann doch bloß eine Stimme vom Band. In seiner Verachtung der Psychologie ist Lecter dem demütigenden Umstand auf der Spur, daß die Moderne zwar einerseits den Subjekten erlaubt, in nie gekanntem Ausmaß mittelbar über sich zu reden, sie es ihnen aber unmöglich macht, unmittelbar von sich selbst zu sprechen. Das Eigenursprüngliche ist das Unaussprechliche aller modernen Vernunft. Weil sie dies weiß, sucht sie die Subjekte mit dem Wissen um die bedingungslose Möglichkeit von Wissen zu trösten, noch bevor sie von etwas Konkretem und Spezifischem wüssten. Das Cartesische "Cogito ergo sum" bringt das ebenso auf den Punkt wie Kants berühmter Satz "Das 'Ich denke' muß alle meine Aussagen begleiten können". Doch das Angebot, wir könnten unsere Möglichkeit des Erkennens erkennen, noch bevor wir ein erstes Mal konkret in den Raum der zu erkennenden Phänomene eintreten, markiert das schlechte Gewissen der Moderne und bleibt dabei nur schales Placebo für das intuitive Selbstbewußtsein, das vormodern einmal möglich erschien. Lecter selbst beherrscht die Psychologie freilich fabelhaft. The Silence of the Lambs, das Mittelstück der Trilogie (Harris 1988), zeigt ihn als virtuosen Manipulator der jungen FBI-Agentin Clarence Starling. Jene profitiert dann immerhin durch Einsicht in das, was die Kulturkritik des 20sten Jahrhunderts als die 'Instrumentalität' von Reflektion selbst verschreckt und entgeistert; man denke an Horkheimer und Adorno (1989) beschrieben hat. "It's hard and ugly to know somebody can understand you without even liking you. When you see understanding just used as a predator's tool, that's the worst." (H: 48) PhiN 17/2001: 6 Lecter nun was immer er sein mag; darum haben wir uns noch genauer zu bemühen , er ist das Andere der Psychologie, das Andere der Quantifizierbarkeit, das Andere der Objektivierbarkeit.
Als Agentin Starling dann über Lecters Motive zu spekulieren beginnt psychologisierend, räsonierend, kalkulierend , erhält sie folgenden Bescheid:
Den Versuch der Festlegung seiner Person beantwortet Lecter mit seinen eigenen Mitteln: "A census taker tried to quantify me once. I ate his liver with some fava beans and a big Amarone." (SL: 24) Und hatte der kantische Modernitätsbegriff seine Verankerung in der Selbstreflektion, mithin in der Reifizierung des Denkens und in der Ontologisierung des Bewußtseins zu nehmen versucht, so hat Lecter auch hierauf eine Antwort parat: Am Ende des Romanes Hannibal erleben wir, wie er mit langem Stiel die Hirnmasse aus dem Schädel eines noch lebenden und bewußten FBI-Direktors löffelt. Dieses Mahl übrigens läßt er sich in Gesellschaft seiner neuen Gefährtin Clarence Starling munden, die sich ihm empfohlen hatte, als sie in einem Einsatz das Gesicht eines Kollegen zur Unkenntlichkeit zerschoß. Bei alledem ist Lecter aber Freund der schönen Künste und ein Mann von großer Bildung. Im Roman Hannibal hat er Quartier genommen in Florenz und arbeitet dort als Museums-Kurator; die ganze optische Pracht der Renaissance steht ihm zur Verfügung. Dies ist kein Widerspruch, denn Lecter ist vor allem ein monströses Talent im Geschäft der Internalisierung. Die ganze Welt holt er sich, ein Genie der Mneme, nach Innen. Alles auswendig Bestaunte erhält fortan inwendig einen neuen und unauslöschlichen Ort. Anhand antiker Mnemotechniken und der rhetorischen Strukturlehren des Cicero baut er Paläste in seinem eigenen Kopf (H: 253), um darin ganz nach Belieben lustzuwandeln. Daß wir Lecter in den ersten Romanen nur immer stationär, als Gefangenen, erlebten, betont seine innere Freiheit lediglich, kontrastiert nur zur eigentlichen Grenzenlosigkeit seines Bewußtseins.
PhiN 17/2001: 7 Hier erleben wir gleichsam die Rekonstruktion der platonischen Schau aus meta-subjektiver Sicht; das Selbst ist an den Raum nicht mehr gebunden, sich in ihm zu konstituieren und politisch mit anderen in ein ausgleichendes und gemeinsames Benehmen zu setzen. Im eigenen Innenraum wird das Subjekt raumlos, grenzenlos, und kann sein Gelände durchstreifen ohne Rücksicht auf Selbst- und Fremdfürsorge. Alles steht ihm zu beliebiger Verfügung. Aus Reflektion und Moral wird Delikatesse. Am schärfsten aber zeigt sich diese Dynamik von einverleibender Internalisierung und Entgrenzung in Lecters Kannibalismus. Moderne Reflektionsphilosophie arbeitet mit Dualismen und dem Binären. Das Subjekt bedarf der Objekte, um sich an ihnen selbst kennenzulernen. Das Ich braucht das Andere, der Mensch seine ganze Welt, um sich in ihr zu erfahren. Das ist der Preis, den die moderne Subjekttheorie zu entrichten hatte: Das Selbst wird fix und firm nur in der Abgrenzung von dem, was es selbst nicht ist. 'Entfremdung' ist hier der gemeinhin benutzte Ausdruck. Reflektion vergegenständlicht und macht zuletzt auch den Reflektierenden zum Gegenstand, zum Begrenzten, In-sich-Gefangenen. Zwischen Mensch und Welt herrschen wohl geordnete, aber auch kühle Verhältnisse. Gegen den modernen Kult der Vergegenständlichung von Welt stellt Lecter die Utopie von deren kannibalischer Einverleibung. Das Selbst, das die ganze Welt sich einverleibt, wird grenzenlos und selbst wieder welthaltig. Alle Distanziertheit zu den Phänomen, welche zuletzt auch das Ich zum Ding unter Dingen werden läßt, bricht auf; ein endlicher Konvent von Mensch und Welt kann beginnen. Großartig illustriert finden wir dies in den folgenden Worten Michail Bachtins:
Aus Erkenntnis der Welt durch das Subjekt wird beider inniges Durchdringen und wechselseitiges Aufheben. Aus platonisch-unbeteiligter und objektivierender Schau wird kulinarisches Ereignis. Die Menschenfresserei spitzt dies Motiv zu bis zum Äußersten und bekennt sich zu jenem Welthunger, der von den kalt-gegenständlichen Begriffen der modernen Vernunft nicht zu stillen ist, und der deshalb auch alle bisherigen Imperative der Selbst- und Fremdfürsorge aufgibt. Es geht darum, endlich nicht mehr nur auf der Welt zu sein, sondern auch in ihr zu sein, und jene in sich selbst zu besitzen. Die Moderne wollte von aller Ontologie nichts mehr wissen, doch das gelang ihr nur um den Preis der Ontologisierung des Wissens selbst, welches mit letzter Autorität die Welt in ein Tableau des Faktischen umzuorganisieren hatte. PhiN 17/2001: 8 Hier nun, in den Kriminalromanen des Thomas Harris, kehrt die Ontologie, kehrt die Suche nach emphatischer Welthaftigkeit, nach dem nackten Sein, mit aller Wucht zurück, und weil das Denken in der Moderne ignorant geworden ist gegen das Sinnenhafte und Konkrete, wird die Suche betrieben mit Zähnen und Gaumen. Dies Motiv hat dabei einen ehrenwerten Resonanzraum, findet sich wiederholt schon im Untergrund und an der Peripherie der Moderne. Johann Wolfgang Goethe etwa, philosophisch immer ein Außenseiter geblieben und dabei ein dezidierter Gegner des kantischen Kultes der autonomen Vernunft, verlangte stets nach einem Vermögen der Erkenntnis, welches sich über reines Räsonieren erhebt und gleichsam kulinarische Perzeption von Welt betreibt.
In der Umkehrung hatte bereits Platon, Kants bedeutender idealistischer Vorgänger, die Götter gelobt für die sachdienliche Einrichtung der Menschenleiber, die es verhindere, daß unser Wunsch nach Einverleibung von Welt nicht überhand nehme und wir so allezeit ein distanziertes, kalkuliertes Verhältnis zu ihr behalten. Die Gefahr der Grenzverwischung von Innen und Außen, vom Selbst und seinem Anderen war ihm als Bedrohung deutlich vor Augen.
Das kannibalische Selbst anerkennt keine Reserven und keine Grenzen mehr. Die Distanz zum Nächsten, die zuvor nötig war, das Selbst von eben diesem abzusetzen und als entitätisches zu konfigurieren, ist nicht länger notwendig. Nachdem die klassischen Erkenntnis-Prämissen der platonischen und der aufklärerisch-modernen Philosophie (das Primat des Auges, die apriorische Vernunft des Gesichtsfeldes) aufgelöst (zerstört, zerschossen, zerschnitten) sind, bleibt nur ein haltloses Erkennen der Welt als ein sie Auffressen. Das Fressen wird zur Vereinigung, zum wahren Bund mit der Welt.5 So ist auch das Selbstempfinden des Hannibal Lecter zuletzt nicht mehr reflexiv Verhältnisse und Distanzen aushandelnd mit Anderen , sondern grenzenlos. "Dr. Lecter does not require conventional reinforcement. His ego, like his intelligence quota, and the degree of his rationality, is not measurable by conventional means." (H: 136) PhiN 17/2001: 9 Bibliographie Adorno, Theodor W. und Max Horkheimer (1989): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. Bachtin , Michail (1987): Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a. M. Goethe, Johann Wolfgang (1985): Naturwissenschaftliche Schriften. Frankfurt a. M. Harris, Thomas (1981): Red Dragon. New York. (= RD) Harris, Thomas (1988): The Silence of the Lambs. New York. (= SL) Harris, Thomas (1999): Hannibal. New York. (= H) Jonas, Hans (1966): The Phenomenon of Life. Chicago. Kant, Immanuel (1974). Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt a. M. Klarer, Mario (1999): "Kannibalismus als Utopie im frühen Amerikabild", in: Amerikastudien/American Studies, 44, 321𤭆. Platon (1998): Gesetze, in: ders., Sämtliche Dialoge, Band 7, Hamburg. Platon (1998): Phaidros, in: ders., Sämtliche Dialoge, Band 2, Hamburg. Platon (1998): Timaios, in: ders., Sämtliche Dialoge, Band 6, Hamburg. Anmerkungen
1 "Since the days of Greek philosophy sight has been hailed as the most excellent of the senses. The noblest activity of the mind, theoria, is described in metaphors mostly taken from the visual sphere. Plato, and Western philosophy after him, speaks of the 'eye of the soul' and of the 'light of reason.' Aristotle, in the first lines of the Metaphysics, relates the desire for knowledge inherent in the nature of all men to the common delight in perception, most of all in vision." (Jonas: 135) 2 Nach ihrer ersten Wiederbegegnung im Gefängnis schleicht sich Graham vor die Zelle des schlafenden Lecter: "Graham wanted to see Dr. Lecter asleep. He wanted time to brace himself. If he felt Lecter's madness in his head, he had to contain it quickly, like a spill." Lecter aber bemerkt die Anwesenheit des Polizisten: "You just came here to look at me. Just to get the old scent again, didn't you? Why don't you just smell yourself?" (62 und 66) 3 Zur parallelen Codierung von Psychologie und Phrenologie im Roman Hannibal vgl. Seite 103. 4 Vgl. auch die instruktiven Überlegungen von Mario Klarer (1999). 5 Im christlichen Ritual des Abendmahles, der Einverleibung des Leibes und des Blutes Christi, ist dieser Gedanke auch heute noch präsent (vgl. Klarer 1999). |