PhiN 12/2000: 51 Heike Westram (München) Triumph des Künstlers über Wahnsinn und Tod:
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PhiN 12/2000: 52 Es könnte zweifelhaft erscheinen, ob der Erzähler wirklich als Künstlerfigur verstanden werden kann, da der Text ihn nicht ausdrücklich als Künstler bezeichnet. Ausschlaggebend ist, daß den Lesern nur ein einziges Kunstwerk vorliegt: "The Fall of the House of Usher", dessen Autorschaft ein anonymer Ich-Erzähler innehat (solange man die Instanz des Autors 'Poe' unberücksichtigt läßt). Gerade dieses Verbergen des Künstlers hinter seinem Kunstwerk aber wird als das Künstlerische im Text ausgestellt. Der Erfolg dieser Strategie wird offensichtlich in der Sekundärliteratur, in deren 'Überlesen' sich offenbart, was der Text zu verbergen sucht. 2 Der überlesene Erzähler in "The Fall of the House of Usher"Meine Betrachtung beginnt genau an dem Punkt, an dem auch mein persönliches Interesse für "The Fall of the House of Usher" eigentlich einsetzte bei meiner eigenen Lektüre des Textes in Abgrenzung zu anderen Lesarten. Mein Fokus richtet sich auf den Erzähler im Text als der Instanz, die sich die Autorschaft über den Text zuschreibt und damit als Künstler inszeniert, ohne sich selbst so zu benennen, ohne sich überhaupt zu benennen. Er verbirgt sich hinter seiner Erzählung - so sehr, daß er zumeist auch nicht wahrgenommen wird. Poe läßt seine Texte auffallend oft von Ich-Erzählern vermitteln. Damit wird das Erzählen selbst immer mitthematisiert. Der Ich-Erzähler setzt (zusätzlich zum Titel oder zur Signatur des Autors) einen weiteren Rahmen um die Erzählung, auf dem er sich als Erzählender selbst befindet . Der überwiegende Teil der Sekundärliteratur zu "The Fall of the House of Usher" übersieht diese Instanz und setzt somit einen eigenen Rahmen um den Text, d. h. sie betrachtet immer nur einen Ausschnitt des Textes. Einige Beispiele sollen dies erläutern:
In diesem Punkt scheint sich die Sekundärliteratur (insbesondere bis zum Ende der 60er Jahre) einig zu sein: entweder erklärt sie Usher explizit zum Helden oder Hauptfigur der Erzählung, oder sie betrachtet ausschließlich diese Figur (Gordon & Tate 1969: 29ff.; Abel 1969: 40; Brooks & Warren 1969: 24; Kendall 1969: 100; Marsh 1972; Garmon 1972; Phillips 1972). Zum Teil wird der Erzähler bei dieser Betrachtung völlig ausser Acht gelassen, so z. B. bei Leslie Fiedler (1966) oder John Marsh (1972). Läßt die Kritik den Erzähler in seinen Text hinein, dann zumeist nur der begrenzten Funktion eines Zeugen:
Sogar Colin Martindale, der ausdrücklich die Position des Erzählers als "integraler Bestandteil" der Erzählung retten will, verpaßt diese Gelegenheit, indem er in einer psychologischen Lesart von Rodericks Kampf um sein Unbewußtes den Erzähler funktionalisiert zur "opposite force" oder zum "purveyor of the ideal" (Martindale 1972: 9ff.). |
PhiN 12/2000: 53 Doch der Erzähler wird nicht nur auf seine Funktion als reiner Beobachter eingeschränkt, er füllt diese Funktion zudem nach Meinung der Kritik nur unzureichend aus. Entweder ist er ein unzulänglicher Erzähler: "Although Poe's first person narrator is in direct contact with the scene, he merely reports it; he does not show us scene and character in action; it is all description" (Gordon & Tate 1969: 29). Oder er ist ein 'fehlerhafter' Beobachter (so bei Garmon 1972: 13; Butler 1976: 11, St. Armand 1972: 7). Patrick F. Quinn zieht daraus auch gleich Rückschlüsse auf den hinter seinem Erzähler stehenden Autor Poe:
Diese Marginalisierung des Erzählers erscheint sehr fragwürdig. Selbst unter der Annahme, es handle sich tatsächlich um "limitations of the narrator's perception" (Butler 1976: 12), stellt sich doch die Frage, inwieweit es der Literaturkritik möglich sein soll, hinter diese Begrenztheit des Erzählers zu blicken, sozusagen schlauer zu sein als dieser. Es genügt nicht, den Erzähler auf die Seite zu schieben, da seine Wahrnehmung sowieso nicht ausreicht, denn es gibt kein 'Jenseits' seiner Wahrnehmung. Alles, was wir als Leser vor uns haben, ist seine Wahrnehmung bzw. seine Darstellung. Aber die Sekundärliteratur scheint nicht nur den Erzähler buchstäblich aus seiner Erzählung 'herauszulesen', sondern beraubt ihn teilweise seiner eigenen Erzählung, so z. B. bei Cleanth Brooks und Robert Penn Warren:
Diese Enteignung wird noch weitergetrieben, wenn in psychobiographischer Lesart bei Marie Bonaparte oder Leslie A. Fiedler selbst dem Autor die Autorität über seinen eigenen Text aberkannt wird (s. u.). Gerade der Versuch aber, über diese Aberkennung zu einem (ästhetischen) Urteil zu gelangen, "to judge the ultimate success or failure", ist meiner Ansicht nach dem Text selbst schon eingeschrieben. Denn auch der Erzähler enteignet Roderick seiner Werke und beurteilt ihn als Künstler sich selbst als Gegenmodell setzend. Diese Fokussierung des Erzählers ist selbst eine marginale Position: Keine der genannten Kritiken konnte sich dazu entschließen, den Erzähler allein aufgrund der Leistung des Erzählens als Künstler zu sehen. Selbst die Interpretationen, die den Erzähler noch wahrnehmen und auch seine Ambivalenzen erwähnen, versäumen es dennoch, ihn als Vermittler der Erzählung und damit als Produzenten und Künstler zu erfassen, so z. B. Charles Feidelson (1969) oder David W. Butler (1976). Sogar Quinn, der diese vermittelnde Instanz des Erzählers beachtet und ihm kurzfristig den Status des Autors zugesteht: "He is at the same time both the author of the story and, as spectator of its events, the audience as well" (Quinn 1954: 84), nimmt ihm dennoch die Position desjenigen, der Bedeutung zuschreibt: "Usher's guest never penetrates beyond the appearances; he lives this experience; its significance eludes him" (85). Doch um Poes Thematisierung von Kunst oder Künstlern zu erfassen, genügt es auch nicht, nur die Figuren zu betrachten, denen das ausdrückliche Attribut 'artist' zugeschrieben wurde, wie es Nathalia Wright versucht. Wright macht sich auf die Suche nach 'produzierenden' Künstlern in Poes Texten und findet kaum eine Handvoll. Selbst diesen spricht sie noch den Künstlerstatus ab, da sie entweder "not a very significant figure" oder nicht "primarily" Künstler sind. So verbleibt ihr zuletzt nur eine vereinzelte Künstlerfigur im Gesamtwerk Poes: "Only one major character in all Poe's work is cast primarily and significantly in the role of a producing artist: Roderick Usher" (Wright 1975:, 57). Damit übersieht sie jedoch die bei Poe häufige Thematisierung von Kunst, insbesondere von Dichtkunst, die oft mehr im verborgenen stattfindet, wie z. B. beim Meisterdetektiv Dupin, der sich nicht versehentlich auch als Dichter bezeichnet (vgl. Poe 1844). |
PhiN 12/2000: 54 Auf der Handlungsebene scheint der Erzähler tatsächlich zunächst eine Nebenrolle zu spielen insofern man die Handlungsebene auf die Ereignisse im Hause Usher begrenzt. Was aber so im Text meisterhaft verborgen ist, ist der Künstler selbst womit die Geste des Verbergens selbst zu einer künstlerischen Strategie erhoben wird. Wright begnügt sich dagegen in ihrer Auseinandersetzung mit "The Fall of the House of Usher," aufzuzeigen, inwieweit die Künstlerfigur Roderick in der späteren Kunstgeschichte Nachfolger hat. Dieser Ansatz erscheint nicht nur wenig effektiv im Bezug auf den Text selbst, sondern ermangelt auch einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem Künstlermodell. Wright scheint lediglich zu implizieren, daß Poe im Entwurf von Roderick gleichsam prophetisch tätig war. Das gelingt ihr aber nur, indem sie den Erzähler völlig außer acht läßt und Roderick als positiv dargestellten Künstler betrachtet. Ähnlich wie Wright lesen auch Thomas Woodson (1969), H. Wells Phillips und David W. Butler Roderick als idealisierten Künstler sei es aufgrund einer Ähnlichkeit zu späteren 'wirklichen' Künstlern oder als Personifikation eines romantischen Künstlerideals:
Phillips läßt seinen Text mit eben dieser Unerklärlichkeit enden, was verdeutlicht, wie wenig diese Feststellung zur Untersuchung von Poes Text geeignet ist. In einzelnen Fällen wird der ganze Text als Hommage an den romantischen Künstler gelesen:
Diesen Standpunkt entwickelt Butler aber gerade dadurch, daß er den Text nicht "as a whole" nimmt, sondern die Rahmung durch den Erzähler ausblendet. Anders erscheint es offensichtlich auch kaum möglich, Roderick so positiv aufzufassen. Greift man nämlich noch über diesen einzelnen Text hinaus und berŸcksichtigt Poes zahlreichen Literaturkritiken und Essays, kann Roderick kaum mehr als romantisches Ideal Poes gelesen werden. James M. Hutchisson verdeutlicht in seiner Analyse der poetologischen Texte Poes, daß nach Poe zwar "imagination" für den Künstler wichtig ist, an erster Stelle aber die Vernunft steht: "reason guided the poet's technical skill" (Hutchisson 1996: 297). Hutchinson weiter:
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PhiN 12/2000: 55 Im weiteren Verlauf wird sich zeigen, daß nicht Roderick, sondern der Erzähler als der von Poe favorisierte Künstler verstanden werden muss, selbst wenn er sich nicht als solchen bezeichnet, sondern anonym und hinter seinem Text verborgen bleibt, was wiederum durchaus im Sinne Poes verstanden werden kann: "In opposition to the romantic stress on the expression of personality, he [Poe] insisted on the importance not of the artist, but of the created work of art" (Matthiessen in Hirsch 1996: 406). In genauer Entsprechung bleibt am Ende der Erzählung ein anonymes Kunstwerk übrig der so ausführlich beschriebene Künstler Roderick ist dagegen, zusammen mit seinen Kunstproduktionen, versunken. Eine interessante Variation zur positiven Bewertung Rodericks als Künstler bietet der feministische Ansatz von Cynthia S. Jordan. Interessant deshalb, da hier nicht die Instanz des Erzählers als Erzählender und Sprechender übersehen wird. Aber Jordan kommt zu einem völlig anderen Ergebnis: Für sie stellt der Erzähler eine diskriminierende Instanz dar - er ist es, der die Frau im Text opfert, indem er sie zum Schweigen bringt. Roderick liest Jordan dagegen als positive Figur, die die Stimme der Frau mit aller Macht gegen den Erzähler am Leben erhalten will. Zu diesem Zweck ist Jordan genötigt, Roderick zunächst zu feminisieren: "the androgynous male character" (Jordan 1987: 5). Und sie verwandelt innerhalb ihres Textes den Erzähler von einem anfänglichen Mittäter zum letztendlich alleinigen Täter, dem sich Roderick ritterlich in den Weg stellt. Der Punkt, in dem ich Jordan zustimmen möchte, ist, den Erzähler insofern als Täter zu betrachten, als sein Sprechen Gewalt ausübt gegen Madeline und vor allem gegen Roderick. So weist Jordan z. B. auf Momente der Zensur von Seiten des Erzählers hin, wenn dieser Rodericks Gedicht wiedergibt "in phrasing that hints at partial censorship: 'The verses [...] ran very nearly, if not accurately, thus:'" (Jordan 1987: 10). Es wäre ein interessanter Ansatzpunkt, einmal zu fragen, ob dem Erzähler seine Gewaltausübung auch tatsächlich gelingt, oder ob Rodericks Sprechen durch sein Sprechen hindurch als nicht unterdrückbar wiederkehrt (so könnte z. B. die allgemeine Fokussierung der Sekundärliteratur auf die Figur Rodericks und das völlige Überlesen des Erzählers gesehen werden als die Form, wie sich Roderick nicht begraben läßt, immer wiederkehrt und den Erzähler unter sich begräbt in einer Wiederholung der Geste Madelines). Doch genügt es dazu nicht, den Erzähler als "closed-minded" hinzustellen (Jordan 1987: 13) und Roderick "growing abilities as a storyteller" (Jordan 1987: 12) zuzuschreiben diese Positionierung erlaubt der Text nicht. James M. Cox ist einer der wenigen, der den Text als eine Kritik an bestimmten Kunstformen und Usher nicht als zukunftsweisende, sondern zum Untergang verdammte Künstlerfigur liest:
Er argumentiert nicht nur aus dem Handlungsverlauf der Erzählung heraus, in der ja der Künstler Roderick buchstäblich versinkt, sondern auch in Auseinandersetzung mit dem Genre selbst: |
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Dennoch wird der Erzähler auch von Cox nicht als Künstler oder auch nur zentrale Figur begriffen: "But this time the narrator, instead of assuming the pose of central actor, comes to the aid of his dying friend and in the process manages to become Usher's accomplice..." (Cox 1969: 114). Indes ist der Beitrag von Cox einer der wenigen, die den Blick auf die 'Pose' des Erzählens richtet, womit er den Erzähler nicht nur ins Blickfeld, sondern ins Zentrum seiner Betrachtung rückt. Leider reduziert er ihn dabei (in einer Gleichsetzung aller Erzähler bei Poe) wiederum zum Medium diesmal für Poes 'Stil'. Damit werden die intertextuellen Verweise in "The Fall of the House of Usher" bei Cox zur puren Geste:
Cox' fragwürdige Gleichsetzung des Erzählers mit Poe nicht als Person, aber "in style" -, erscheint noch harmlos angesichts der Gleichsetzungen, die andere Sekundärliteraturen vornehmen. Mit dem Unterschied, daß sie, ihrem Überlesen des Erzählers gemäß, den Autor in Roderick wiederentdecken zunächst aufgrund des gemeinsamen Status als Künstler: "It is as though the author, himself akin to his Roderick, had elaborated his story in terms of 'abstract design' served by 'acuity of senses'; [...]" (Spitzer 1969: 67). Zumeist ist diese Identifizierung des Autors in den Figuren seines Werks geleitet von psychologischen oder psychoanalytischen Ansätzen: "Poe transferred to Roderick his own fear of impending mental decay which came at times during his life" (Quinn 1941: 23). Dabei wird aber, wie bei Arthur Hobson Quinn, Sigmund Freuds These, daß sich das Ich des Dichters "in Partial-Ichs zu zerspalten und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelenlebens in mehreren Helden zu personifizieren" (Freud 1908: 220) scheint, offensichtlich keine Beachtung geschenkt, denn Quinn verstrickt sich in den Versuchen, Poe in seinen Texten immer genau an einer Figur festmachen zu können:
In seinem Vergleich von Poes Detektivgeschichten mit "The Fall of the House of Usher" läßt Quinn in beiden Fällen nicht nur die Erzählinstanz völlig außer acht, sondern versucht auch, die Ambivalenz zwischen 'ratio' und den dunklen Seiten der Psyche festzuschreiben: Poe kann unmöglich beides im Auge gehabt haben, also muß er auf eine Seite festzulegen sein. Damit ergibt sich für ihn das Problem, eine Verfahrensweise zur eindeutigen Identifizierung zu finden. Die Widersprüchlichkeit seiner Argumentation wird offensichtlich, wenn Quinn wenige Zeilen später Poe in den Detektivgeschichten mit dem Erzähler gleichsetzt, begründet durch das Schreiben in der ersten Person: "He [Poe] apparently found it impossible, writing in the first person, to project himself clearly as the efficiently reasoning detective" (Quinn 1954: 83). Dieser Argumentation zufolge müßte Poe aber in "The Fall of the House of Usher" klar als Erzähler identifizierbar sein. Offensichtlich genügt die Ich-Erzählhaltung nicht für eine Identifikation mit dem Autor selbst. Ich halte diese Identifizierungsversuche für fragwürdig, insbesondere wenn sie sich genötigt sehen (oder letztendlich dazu dienen), die Person 'Poe' zu interpretieren bzw. festzuschreiben: "Poe could not be the detective, the hunter, for he was too radically the criminal, the prey" (Quinn 1954: 83). |
PhiN 12/2000: 57 Kenneth Silverman dagegen hält sich direkter an Freuds Ansatz, die Figuren als Doppelgänger des Autors zu lesen: "Doubling is extensive in Poe's tales, many of whose heroes and heroines are hard to distinguish from each other and often have the physical and mental traits of Poe himself" (Silverman 1991: 151). Dabei ist er vorsichtig genug, Poe nicht konkret mit einzelnen Figuren zu identifizieren. Marie Bonapartes Psychobiographie hingegen ist gerade auf die eindeutige Identifizierung der Person Poe in seinen 'symptomatischen' Texten angewiesen. Auffällig bei ihrer Analyse von "The Fall of the House of Usher" ist dabei, daß sie zunächst wie Freud von Partial-Ichs des Autors auszugehen scheint und "the compound of Usher and the narrator" mit Poe gleichsetzt (Bonaparte 1949: 237). Um aber die Sado-Nekrophilie Poes auch an diesem Text offensichtlich zu machen, ist sie gezwungen, die eine Hälfte dieser Komposition irgendwann unerwähnt fallen zu lassen, um bei der unauflösbaren Einheit "Usher-Poe" anzugelangen (Bonaparte 1949: 243ff.). Der Erzähler ist nur noch jemand, der da sein muß, um diese Geschichte auch zu erzählen: "The narrator-friend, Usher's double, escapes from death [...] since someone had to be left to tell the story" (Bonaparte 1949: 249). In dieser Gleichsetzung des Autors Poe mit seiner Figur Usher wird nicht nur der Erzähler zur Randfigur, sondern auch die ganze Erzählung reduziert auf eine Wunscherfüllung ihres Autors: der Rückkehr der toten Mutter (Bonaparte 1949: 250). Und nur die Verdrängung des Erzählers erlaubt es Bonaparte, "The Fall of the House of Usher" als Geschichte der Bestrafung der Hauptfigur zu lesen (Bonaparte: 249) und dabei den Triumph des überlebenden Künstlers zu übersehen. In ihrer Betrachtung der Werke als Symptome übersieht sie das spezifisch Literarische an Poes Texten, wie Shoshana Felman bemerkt:
Leslie Fiedler spitzt Bonapartes Argumentation weiter zu, um Poes Texten aufgrund ihrer Krankhaftigkeit jede Literarizität abzusprechen:
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PhiN 12/2000: 58 Die psychobiographische Lesart von Bonaparte könnte noch verstanden werden als ein konsequentes Fortführen einer Dekonstruktion des Begriffs von Autorschaft, wie er bereits bei Freud zu finden ist (vgl. hierzu Kofman 1993). Wird dieser Standpunkt aber nicht konsequent eingehalten, sondern nur zur moralischen Wertung verwendet wie bei Fiedler, der seinen Einfluß durch Bonapartes Lesart deutlich macht, wird diese Enteignung des Autors fragwürdig: Fiedler vergleicht verschiedene amerikanische Künstler, um manchen den Status eines Autors als schöpferisches Subjekt zuzugestehen (so z. B. Melville), während er Poe zu einem Kranken, einem Wahnsinnigen degradiert, den er aus dem Diskurs ausschließen kann. Poes Texte, so Fiedler, "seem inlarge part symptoms rather than achievements" (Fiedler 1966: 423). Das Schlupfloch, durch das er Poe scheinbar wieder als Künstler hereinläßt, ist seine eigene Person:
Doch leider ist es Fiedler nicht möglich, diese Überlegung über "his life-long task of composing a Poe-image" (Fiedler: 23) auf spannende Weise weiterzuführen (z. B. im Hinblick auf eine Auseinandersetzung mit Identität oder Autorschaft als Konstrukt), da er (ganz Usher) gewissermaßen aus einer Übersensibilität heraus steckenbleibt (versinkt?) in einem eigentümlichen Gemisch aus Patriotismus (Poe als "alienated from the deepest levels of the American mind"), Moralität ("Poe lacks as a writer a sense of sin") und Antialkoholismus ("the poet as drunkard") (Fiedler 1966: 424-28). Fiedlers Position ist aber dem Text selbst schon eingeschrieben. Gelegentlich erkennt die Sekundärliteratur einen ihr eigenen 'Wiederholungszwang', der die Kritiker immer wieder auf dieselben Punkte zurückkommen läßt:
Interessanter ist jedoch, daß die Kritiken nicht nur sich selbst oder die gleichen strittigen Fragen immer wiederholen, sondern Positionen einnehmen, die in "The Fall of the House of Usher" schon angelegt sind und damit den Text selbst wiederholen, oder, wie Shoshana Felman sagt, 'ausagieren'. Ich möchte Felman nicht dahin folgen, Widersprüche in der Sekundärliteratur als Symptome "of the Poe-etic effect" zu lesen, auf der Suche nach einem Unbewußten des Textes oder in der Struktur der Literaturgeschichte (vgl. Felman 1988). Aber ich möchte die Überlegung von Felman in ihrer Untersuchung der Sekundärliteratur zu Henry James' "The Turn of the Screw" hier wieder aufgreifen, daß ein literarischer Text so angelegt sein kann, daß er die verschiedenen Leserpositionen bereits beinhaltet und thematisiert, so daß die kritische Lektüre ihrerseits dessen nicht bewußt in ihrem Ansatz im Text angelegte Strukturen selbst wiederholt:
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PhiN 12/2000: 59 So scheint sich im Streit um den Kunstwert von Poes Erzählung (so z. B. in Leo Spitzers Kritik an Brooks und Warren [Spitzer 1969: 59f.]) der Kampf um die Anerkennung der Kunst im Text zu wiederholen. Die Sekundärliteratur nimmt hier die Position des Erzählers ein, der Rodericks Status als Künstler nicht nur beschreibt, sondern auch bewertet. Besonders deutlich wird dieser Gestus wieder bei Fiedler: "At the opposite pole from this [Melville] is Poe, who was content simply to be possessed by his subjects [...], and whose works, therefore, seem in large part symptoms rather than achievements" (Fiedler 1966: 423). Es wurde bereits deutlich, daß diese von Bonapartes Ansatz beeinflußte Lektüre Fiedlers die Freud'sche Dekonstruktion der Autorschaft verfehlt, da sie einzelnen, für krank erklärbaren Autoren vorbehalten bleibt und somit deutlich ein Ausschlußverfahren darstellt, dem andere Autoren entgehen, deren Werke als Schöpfungen anerkannt bleiben. Gerade der Gestus des Verwerfens eines Künstlers als vom Wahnsinn getrieben, die Wertung seiner Werke als Symptome entspricht der Haltung des Erzählers in "The Fall of the House of Usher", der Rodericks Kunst in direktem Zusammenhang mit seiner psychischen Verfassung beschreibt, bzw. sie auf seinen Wahnsinn zurückführt: "the pure abstractions which the hypochondriac contrived to throw upon his canvas" (Poe 1839: 365). Fiedlers entrüsteter Kampf gegen den Künstler Poe, den er am Ende seiner Schilderung zwar nicht in einem See, aber im Alkohol versinken läßt, erscheint somit als Wiederholung des Textes selbst und ist damit diesem von ihm (unter anderen) kritisierten Text schon eingeschrieben. Ein weiteres Argument Felmans läßt sich ebenfalls auf Fiedler anwenden: Wenn er Poe in seinem moralischen Feldzug den Künstlerstatus unbedingt absprechen will, könnte dies durchaus als 'psychoanalytische Verneinung' verstanden werden, zumal er gleich ein ganzes Kapitel seines Buches über amerikanische Literatur auf Poe verwendet:
Allerdings entzieht sich Fiedler diesem Paradox auch wieder: Erstaunt findet der Leser beim Durchlesen dieses Kapitels "The Blackness of Darkness: Edgar Allan Poe and the Development of the Gothic" eine Auflistung anderer amerikanischer Autoren (wie Twain, Melville, Hawthorne, Faulkner etc.) und die Besprechung ihrer Werke, die Poe buchstäblich auf eine knappe Hälfte des Kapitels einschränken. Fiedler ersetzt so den ihm unliebsamen Poe selbst in dem ihm gewidmeten Kapitel durch andere Künstler, was wiederum die Haltung des Erzählers in "The Fall of the House of Usher" wiederholt. Andere Texte der Sekundärliteratur wiederholen den Gestus des Erzählers, indem sie das Irrationale, Unerklärte, Unheimliche von "The Fall of the House of Usher" durch rationale Erklärungen zu füllen versuchen. Selbst G. R. Thompsons Ansatz, der den Erzähler stark fokussiert und gerade seine Ambivalenzen verdeutlicht, tappt hier in die Falle: Indem der Erzähler sich laut Thompson von Roderick infizieren läßt und immer wahnsinniger wird, entsteht ein Erklärungsbedarf bezüglich des Zusammenfalls des Hauses. Thompson füllt die Lücke der Fiktionalität mit physikalischen Erklärungen über luftleere Räume und Elektrizität eine erstaunliche Ähnlichkeit zum versuchten Rationalismus des Erzählers (Thompson 1972: 19)! Dabei ist Thompson wie der Erzähler gezwungen, eine eigene Geschichte in den Text hineinzuschreiben, da Poes Text ihm leider nicht genügend Material (buchstäblich: elektrizitätsleitendes Material) liefert. Zu Recht wird dieses Umschreiben von Quinn kritisiert. Doch begeht Quinn in seiner Kritik an Thompson den gleichen Fehler, wenn er die Wahrscheinlichkeit dieser physikalischen Überlegungen prüft (Quinn 1981: 158f.). |
PhiN 12/2000: 60 Die Sehnsucht der Sekundärliteratur, die Ambivalenzen und Unglaubwürdigkeiten des Textes wegzudiskutieren oder festzuschreiben, dient immer auch einem Ausschlußverfahren: "The act of reading and interpreting those ambiguities, however, reveals itself paradoxically to be an act of reducing and eliminating them" (Felman 1977: 154). Poe war sich der Wirksamkeit der Ambiguitäten im Text wohl bewußt. Wie sehr aber gerade das Unerklärte die Lebendigkeit eines Kunstwerks seiner Meinung nach erhöht, kann man einer seiner vielzähligen Literaturkritiken entnehmen:
Der Leseprozess, der durch "The Fall of the House of Usher" ausgelöst wird, ist aber bereits im Text selbst angelegt, und zwar:
Zu einem 'richtigen' Lesen ist mehr notwendig als nur Wahrnehmung. Es ist immer ein Akt der Interpretation, der Be-deutung. Das wird schon zu Beginn des Textes verdeutlicht in der merkwürdigen ersten Erwähnung des Risses im Hause Usher, der erst vom Ende der Erzählung her Bedeutung erhält und somit auch zu Beginn nicht eindeutig wahrnehmbar ist: "Perhaps the eye of a scrutinizing observer might have discovered a barely perceptible fissure [...]" (Poe 1839: 359; Hervorhebung von mir; im Folgenden Fall). Lesen wird so im Text selbst permanent thematisiert, nicht nur in expliziter Erwähnung anderer geschriebener Texte. Und dabei wird Roderick auffällig als Nicht-Leser präsentiert: Der Erzähler trifft zwar auf ihn inmitten von Büchern, doch diese liegen um ihn herum wie tote Relikte (Fall: 361). Selbst wenn er als 'lesend' beschrieben wird, ist das kaum einem bedeutenden Leseakt zuzurechnen: Er sitzt über den Büchern "dreaming for hours", und statt selbst Bedeutung zu stiften, sind es die Bücher, die ihn be-deuten: "the books which, for years, had formed no small portion of the mental existence of the invalid" (Fall: 369, Hervorhebung von mir). Bezeichnenderweise ist es auch in der letzten Nacht der Erzähler, der vorliest, während Roderick, "as if unconscious of my presence" (Fall: 377), nicht einmal zuzuhören scheint: "His eyes were bent fixedly before him, and throughout his whole countenance there reigned a stony rigidity" (Poe 1839: 377). Zudem unterläuft Roderick ein fataler 'Lese-Fehler': den nur scheinbar toten Körper von Madeline 'liest' er als tot und interpretiert ihren angeblichen Tod auch nicht im Dienste einer Stabilisierung der eigenen, überlebenden Person. Lesen wird vom Text aber präsentiert als unabtrennbar von Interpretation, die immer auch die eigene Person in Relation zum Gelesenen setzt und stabilisiert. Von Anfang an scheint der Erzähler kaum etwas anderes zu machen als zu lesen. Die Ereignisse beginnen für ihn mit einem Brief, den er auch gleich über seinen Inhalt hinaus interpretiert: "The MS. gave evidence of nervous agitation" (Poe 1839: 357) Schon seine erste Wahrnehmung des Hauses ist nicht einfach "perception", sondern "contemplation" (Fall: 356). Worauf auch immer sich sein Blick richtet, er versucht zu entziffern und zu bedeuten, sei es die Struktur des Hauses oder das Gesicht seines Freundes. Er interpretiert Rodericks Äußeres, seine Äußerungen (die zumeist schon nur in der Interpretation des Erzählers wiedergegeben werden) und seine Kunstwerke. |
PhiN 12/2000: 61 Felmans Betrachtung von Henry James' The Turn of the Screw als einen Text, in dem Lesen nicht im Verhältnis zu Wissen, sondern zu Macht inszeniert wird, in dem "authority" die Gewalt der Autorschaft widerspiegelt und eine Zensur des Autors impliziert, läßt sich wohl auch für "The Fall of the House of Usher" fruchtbar machen (Felman 1977: 164ff.). Auch das 'Lesen' des Erzählers, d. h. seine Wahrnehmung der Personen und Ereignisse im Hause Usher sind Akte der Interpretation, "imposing meaning" und damit 'Gewaltakte', die der Stabilisierung des Erzählers bzw. seiner Inszenierung als Künstler dienen. Das Lesen des Erzählers konstituiert aber zugleich auch sein eigenes Erzählen. Für den Leser seines Textes gibt es schließlich nichts außer diesem Erzählen. Nichts bleibt übrig vom Hause Usher als sein Sprechen davon. Und niemand bleibt übrig als seine Person, sein Text. Aus diesem Blickwinkel finde ich es umso erstaunlicher, daß die Instanz des Erzählers von der Sekundärliteratur so häufig 'überlesen' wird. Zumeist liegt der Grund für diese Ausgrenzung in der allzu starken Fokussierung der Handlungsebene unter Vernachlässigung der Erzählsituation. Gelegentlich findet sich jedoch eine Interpretation, die verdeutlicht, daß uns als Lesern nichts gegenübersteht als dieser Erzähler:
Aber auch Thompson gesteht dem Erzähler keine triumphierende Position am Ende des Textes zu: "the double collapse of his [Roderick's] mind along with the narrator's" (Thompson 1972: 17). Und Thompson betrachtet zwar den Erzähler als Filter, nicht aber als Produzenten. Es ist aber gerade das Erzählen, das die Ereignisse stiftet:
In seiner Betrachtung des Erzählers in "The Fall of the House of Usher" macht Ronald Bieganowski einen wichtigen Schritt hin zur Zentralisierung des Sprechens des Erzählers Erfahrung besteht nicht vor Verbalisierung, sondern wird durch sie erst hervorgerufen. Allerdings ist zu überlegen, wie weit man diesen Gedanken vorantreibt. Für Bieganowski bleibt der Erzähler weiterhin innerhalb des von ihm erzählten Textes. Und wenn dieser Text endet mit dem Untergang des Hauses im See, endet für Bieganowski auch jede Äußerung des Textes: "As the tarn's waters become silent, the House of Usher (family, mansion, and fiction) as utterance is no more" (Bieganowski 1988: 183). |
PhiN 12/2000: 62 Dieser Blickwinkel ermöglicht es Bieganowski, den Erzähler als scheiternd zu beschreiben (Bieganowski 1988: 187). Was Bieganowski damit aber übersieht, ist, daß der Erzähler ihn immer noch innerhalb seiner Geschichte betrachtend diese Geschichte in Rückschau erzählt, und zwar nach dem Untergang des Hauses. Dieser Untergang des Hauses, innerhalb des Textes das Ende, ist gewissermaßen der Anfang der Erzählung selbst, eine Beobachtung, die für Poe von einigem Gewicht war: "Here then the poem may be said to have its beginning - at the end, where all works of art should begin" (Poe 1846: 202). Bieganowskis Standpunkt weitertreibend es gibt keine Erfahrung vor der Verbalisierung bleibt der Erzähler buchstäblich am Rande des Unterganges des Hauses Usher stehen, den er selbst erst mit seiner Geschichte setzt: Es gibt kein House of Usher außerhalb des Textes, vor dem Text, vor dem Erzähler. Er produziert es, produziert seinen Untergang, produziert den Text mit dem Titel "The Fall of the House of Usher", der auch dann noch besteht, wenn der Untergang sich vollzogen hat. Eigentlich verdeutlicht Bieganowski selbst, daß dieser Untergang auch eine Entstehung ist: "For the narrator, this text records the fall of the House of Usher, Madeline's toppling Roderick, while for us readers it records the arousal of these images" (Bieganowski 1988: 185). Auch Riddells dekonstruktivistischer Ansatz übersieht in seinem Blick auf die Intertextualität der Erzählung deren Textualität als Materialität, die bestehen bleibt:
Was Riddell hier mit "the story itself" meint, bezieht sich vermutlich auf das Ende der Erzählung: "- and the deep and dank tarn at my feet closed sullenly and silently over the fragments of the 'House of Usher'" (Fall: 379). Aber diese letzten drei Worte sind eben nicht, obwohl in Anführungszeichen gesetzt, die Geschichte selbst - denn deren Titel erhebt sie gerade über den "fall". David H. Hirsch ist daher zustimmen, wenn er Riddell entgegnet: "the 'story' does not 'collapse' the way the house does. It remains a viable 'structure' that English speakers continue to read and make sense of" (Hirsch 1996: 415). In seiner Besprechung von Poes Text "The Purloined Letter" verdeutlicht Jacques Derrida, daß einem literarischen Text nicht Genüge getan wird, wenn die Erzählinstanz ausgeklammert wird: "In missing the position of the narrator, his engagement in the content of what he seems to recount, one omits everything in the scene of writing [...]" (Derrida 1988: 198). Dabei fügt er zwischen den Autor und den Ich-Erzähler die Position des "inscriber" ein:
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PhiN 12/2000: 63 Inwieweit diese Instanz des "inscriber" eine künstlich gesetzte ist, möchte ich dahingestellt sein lassen. Zumindest scheint es mir nicht ausgeschlossen, daß der Erzähler diese Position einnehmen kann und damit sein Kunstwerk den Text und sich als Autor hinter seiner Erzählung verbirgt. Aber ich möchte mit diesem Zitat Derridas die Aufmerksamkeit auf die Rahmungen im Text und um den Text lenken. Poe selbst hebt die Notwendigkeit von Rahmung hervor: "it has always appeared to me that a close circumscription of space is absolutely necessary to the effect of insulated incident: it has the force of a frame to a picture" (Poe 1846: 204). Ausgehend von dieser Beschreibung wird ein wesentlicher Rahmen in "The Fall of the House of Usher" erkennbar. Denn der Großteil des Textes bewegt sich innerhalb einer "circumscription of space", nämlich innerhalb des Hauses, das damit eine innere Rahmung darstellt. 'Davor' und 'danach' aber markieren gewissermassen ein freies Feld, auf dem sich nur der Erzähler bewegt, das Haus er-findet und seinen Untergang beschreibt, sich gewissermaßen auf dem Rahmen selbst einschreibt. Georges Poulet unterliegt also einem Irrtum, wenn er schreibt:
Was Poulet hier auf mißliche Weise übersieht, ist, daß nicht alles verschwindet beim Fall des 'House of Usher': "The Fall of the House of Usher" als Text entsteht erst über dem Zusammenbruch der Mauern. Am Ende der Ereignisse findet sich der Erzähler wieder auf einem freien Feld, auf dem er sein Textgebäude errichten kann: "In the same way in which the house is enclosed in its own singular atmosphere, so too, its inhabitants are the prisoners of their own time, which cannot be mingled with that of the outside world" (Poulet 1969: 109). Betrachtet man, anders als Poulet, den Erzähler, so sieht man ihn nicht nur aus diesem Gefangensein (ziemlich eilig) heraustreten, sondern auch, wie er sich in seinem Erzählen ganz deutlich an die Außenwelt richtet, dieses zerstörte 'House of Usher' mit der Setzung eigener Zeichen vermittelt. Dazu ist es allerdings notwendig, den Erzähler wie Derrida als gedoppelt zu begreifen: als "narrated narrator" und "narrating narrator". Hätte Bonaparte dem Erzähler mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hätte sie in ihrer Gleichsetzung des Hauses mit einer symbolischen Mutter "the deathly Mother-Mansion" (Bonaparte 1949: 241) - zu einer anderen Deutung des Textes kommen können: "As for the fissure that runs from top to bottom, this, in symbolic form, recalls the 'cloven body of the woman,' of which Zola speaks" (Bonaparte 1949: 239f.). Denn wenn am Ende der Erzählung dieser "blood-red"-glühende Spalt sich weitet und den Erzähler ausspeit, hat sich die Geburt des triumphierenden Künstlers vollzogen. Nicht nur bleibt am Ende der Erzählung einzig der Erzähler übrig es stellt sich auch die Frage, ob überhaupt jemals andere Figuren 'existiert' haben außer ihm. Die Erwähnung des Opiumtraums zu Beginn des Textes könnte als Hinweis verstanden werden, die Ereignisse im Hause Usher als Phantasma des Erzählers zu sehen. In diesem Sinne liest Clark Griffith die Erzählung als Introspektion des Erzählers, er erzählt eigentlich von sich, Roderick und Madeline sind lediglich Projektionen: |
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Dies ist immer noch eine psychologische Betrachtung des Erzählers innerhalb seines Textes, aber immerhin eine, die den produzierenden Anteil erfaßt. Ich möchte hier noch weitergehen, indem ich den Erzähler explizit in dieser Position des Erzählenden betrachte, als jemanden, der eine Fiktion präsentiert. Das bedeutet, daß er die Personen durch seine Erzählung erst erschafft. Die Namen der Figuren können selbst als Indiz auf diese Fiktionalität gelesen werden. Thomas Woodson zeigt mögliche Quellen für die Namen von Roderick (E.T.A. Hoffmann: "Das Majorat"), Madeline (John Keats: "Eve of St. Agnes") und den Familiennamen Usher ("The Wife of Usher's Well"; mittelalterliche Ballade) auf: "In any case, the Ushers are determinedly 'literary' in origin and being, more teasing to the mind, perhaps, because of their insubstantiality and abstractness" (Woodson 1969: 19). Und Poe spielt in dem Text ganz offensichtlich mit dem Namen Usher: "The valet now threw open a door and ushered me into the presence of his master" (Fall: 360; Hervorhebung von mir). Dieses Wortspiel wird zwar häufiger erwähnt von der Sekundärliteratur, aber nicht auf den Träger des Namens selbst zurückgeführt. Denn wenn man die hier ausgespielte wörtliche Bedeutung auf Roderick zurückführt, was wird er dann anderes als ein 'Platzanweiser', als jemand, der etwas anderes einleitet oder auf etwas anderes hinführt mit anderen Worten, als ein Signifikant, der auf etwas anderes verweist (wie zum Beispiel den Erzähler)? Aber selbst, wenn dieser Schritt nicht vollzogen wird, den Erzähler ausdrücklich als 'Autor' seiner Erzählung zu verstehen, ist Roderick (wie der Erzähler selbst) immer noch in erster Linie eine fiktionale Figur. Allerdings hat man bei manchen Vertretern der Sekundärliteratur das Gefühl, daß diese Fiktionalität nicht länger berücksichtigt wird, insbesondere dann, wenn versucht wird, seine psychische Verfassung richtig zu diagnostizieren, was einen merkwürdigen Kompetenzkampf auslöst: Ist Roderick nun "schizoid" (Spitzer 1969: 60), leidet er unter einer "anxiety-hysteria" (Bonaparte 1949: 241) oder "hypochondrias" (Butler 1976: 1), ist er vergiftet durch Gase (Walker 1966: 589), oder, sehr modern, einfach nur allergisch (Wright 1975: 65)? In jedem Fall wird der Erzähler in dieser Diskussion außer acht gelassen, er beschreibt bestenfalls die Krankheit richtig oder falsch. Dieses Lesen der Erzählung als genaue psychische Studie, unter Verkennung bzw. Aberkennung der Literarizität, kann so weit gehen, daß ihrem Autor, Poe, zwar der Status des Dichters genommen, dafür aber der eines Wissenschaftlers zuerkannt wird (vgl. Lawrence 1969: 35f). Inwieweit gerade bei der Beschreibung von Rodericks Wahnsinn der Erzähler in den Vordergrund zu rücken ist, wird später noch verdeutlicht. Die Figur Rodericks ist nicht als positive Künstlerfigur zu lesen, sondern ist vom Text funktionalisiert: Will sich der Erzähler selbst als Künstler (wenn auch im verborgenen) darstellen, benötigt er ihn zur Kontrastierung:
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PhiN 12/2000: 65 Dementsprechend wird Roderick auch weniger als Person, als Charakter dargestellt, sondern über seine Kunst definiert:
Roderick als scheiternder "romantic artist" dient vor allem der Positionierung des Erzählers:
Charles E. May betont hier den für mich wichtigen Punkt, den Triumph des Erzählers durch den Akt des Erzählens: "succeed[s] in doing in discourse" (May 1989: 67). Usher ist für den Erzähler eine repräsentative Figur, "manipulated for the purposes of the story": "In many contemporary, self-reflexive short stories, this background aesthetic tension is foregrounded so that the conflict between fiction and reality becomes the self-conscious conflict of the characters" (May 1989: 66). Zudem ist das Kunstwerk des Erzählers (der Text "The Fall of the House of Usher") das einzige, das am Ende übrigbleibt: Rodericks künstlerische Produktionen versinken mit seiner Leiche im See und sind nur noch greifbar in den Zitierungen und Beschreibungen des Erzählers mit seiner (anonymen) Signatur. Möchte man eine biographische Parallele zum Autor selbst ziehen, so scheint der Text in dem Versuch eines Künstlers, sich als solcher zu etablieren, Poes eigenen künstlerischen Status zu reflektieren:
Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß Poe in der Zeit, bevor er "The Fall of the House of Usher" schrieb, unter anderem als Literaturkritiker tätig ("some eighty-nine book reviews") und für seine scharfe Kritik berüchtigt war (Woodson 1969: 7; Silverman 1991: 144f.). Auch 1839 war Poe, zwar vermindert, als Rezensent für Burton's Gentleman's Magazine tätig (Hutchisson 1996: 308). Gerade die Abgrenzung von anderen Künstlern dient zur Stiftung der eigenen Identität als Künstler. Und der Erzähler grenzt sich vom Künstler Roderick nicht nur über eine unter Ehrfurcht - "awe"- verdeckte Kritik seiner Kunstwerke ab, sondern indem er sich, im Gegensatz zu Roderick, auf die sichere Seite der identitätsgefährdenden Momente von Wahnsinn, Tod und Weiblichkeit schreibt. |
PhiN 12/2000: 66 3 Der Wahnsinn des Künstlers als KunstmodellDie Instanz des Erzählers, seine Wahrnehmung und Schilderung ist für uns Leser unhintergehbar: Wir können Roderick nur so sehen, wie er ihn uns präsentiert. Der Erzähler hat so die Möglichkeit, Roderick als wahnsinnig zu beschreiben, ihm den Wahnsinn zuzuschreiben - einen Wahnsinn, den er von sich selbst abwenden will. Betrachtet man seine Aussagen über Roderick unter diesem Blickwinkel, wird deutlich, wie sehr es dabei um Autorität 'Ich' kann den Zustand meines Gegenübers beurteilen und Autorschaft geht 'Ich' kann eine Aussage darüber machen:
Das Zitat macht offensichtlich, was der Text im Unklaren läßt: wer spricht? Auf subtile Weise vermengen sich in der indirekten Rede des Erzählers die Erzählebenen: Ist Usher das, "what he was", nach seinen eigenen Worten? Oder in den Augen des Erzählers? Oder in 'Wirklichkeit'? Unter diesen Ambivalenzen verbirgt der Erzähler seine Machtausübung mittels seines Sprechens und es gelingt ihm insofern, als die Sekundärliteratur diese Ambivalenz meistens völlig übersieht (z. B. Butler 1976: 8). Dem Leser ist jede Möglichkeit einer anderen Wahrnehmung genommen, wenn die letzten drei Worte eine unerschütterliche Realität konstatieren und damit konstituieren. Auf den ersten Blick scheinen die meisten Aussagen über seinen Zustand von Roderick selbst zu stammen. Allerdings ist auffallend, daß diese Aussagen fast ausschließlich in indirekter Rede wiedergegeben werden. Indirekte Rede dient dem Erzähler nicht nur dazu, sich Rodericks Stimme gewissermaßen anzueignen, sondern auch gleichzeitig dessen Sprechen umzuschreiben, zu kommentieren und dabei sein eigenes Tun hinter einer angeblichen Aussage Rodericks zu verbergen. Wörtliche Rede von Roderick erscheint nur an wenigen Stellen (Poe 1839: 363, 364, 373, 377f.) und offenbart sich selbst dann als nicht zuverlässig zitiert: "'Her decease,' he said, with a bitterness which I can never forget, 'would leave him (him, the hopeless and the frail) the last of the ancient race of the Ushers'" (Fall: 364; Hervorhebung von mir). Redet hier Roderick von sich selbst in indirekter Rede? Oder ist es doch der Erzähler, der sich hier der Rede Rodericks bemächtigt? Anführungszeichen und indirekte Rede werden hier als wenig glaubwürdig, gemäß einer originalgetreuen Wiedergabe, gekennzeichnet. Überdies fügt der Erzähler in eine der wenigen angeblich wörtlichen Äußerungen Rodericks einen wertenden Kommentar über ihn ein. Das Verfahren der angeeigneten Rede ist hier vom Text offen ausgestellt, dennoch fällt es der angeführten Sekundärliteratur nicht auf. |
PhiN 12/2000: 67 Schon zu Beginn geht der Kommentar der angeblichen Wiedergabe voraus: Die Bewertung von Rodericks Handschrift durch den Erzähler als Beweis einer Nervenkrankheit wird vom Inhalt des Briefes nur noch bestätigt (Fall: 357). Noch bevor Roderick in persona auftaucht, stellt ihn der Erzähler in eine Ahnenreihe, bekannt für "a peculiar sensibility of temperament," und deutet ein jahrhundertealtes inzestuöses Verhalten an (Fall: 358). Die erste Begegnung des Lesers mit Roderick ist eine wiederum stark wertende Beschreibung von dessen Äußerem ("cadaverousness of complexion", "a finely moulded chin, speaking ... of a want of moral energy", "inordinate expansion", "ghastly pallor", "miraculous lustre", "unheeded"), die darin mündet, Rodericks Menschlichkeit in Zweifel zu ziehen: "I could not, even with effort, connect its Arabesque expression with any idea of simple humanity" (Fall: 361f.). Und bevor Roderick selbst (indirekt) über seine "nervous affection" spricht, ist er vom Erzähler schon längst beschrieben (Fall: 362). Derart subtil vorbereitet, kann der Erzähler im folgenden immer klarere Zuschreibungen vollführen: Roderick leidet unter "superstitious impressions" (Fall: 363) und Melancholie (Fall: 365), er ist ein "hypochondriac" (Fall: S. 365).
Schon der erste Absatz der Erzählung gibt einen deutlichen Eindruck
der psychischen Verfassung des Erzählers: "a sense of insufferable
gloom pervaded my spirit", "with an utter depression of soul",
"a sickening of the heart", "an unredeemed dreariness of
thought", "that so unnerved me", "the shadowy fancies
that crowded upon me" (Poe, 1839: 357f.). Versucht er auch, seine
Verfassung zurückzuführen auf "its [the scene's] capacity
for sorrowful impression" (Fall: 358), ist doch deutlich, daß
seine eigene Wahrnehmung von Anfang an von "gloom" beeinflußt
ist.
Dementsprechend häufig wird dieser Anfang von der Sekundärliteratur als 'Wirklichkeit' gelesen, in die der Erzähler gerät und die er lediglich beschreibt (z. B. Quinn 1954: 86f.). I. M. Walker erwähnt zwar, daß bereits zu Beginn der Erzählung die düstere Stimmung vorherrscht sie dient aber seiner Ansicht nur dazu, den Leser auf das Grauen im Hause Usher vorzubereiten (Walker 1966: 586). Die sehr subjektive Wahrnehmung des Erzählers wird dabei nicht berücksichtigt. Der Erzähler 'liest', d. h. interpretiert zu Beginn seiner Erzählung seine Umgebung, ohne ihr eine stabile Bedeutung geben zu können: "[T]he nightmare of a vacant featureless world imaged by sinking beneath the surface of the tarn a world where meaning and value have dissolved into nothingness" (Woodson 1969: 16). |
PhiN 12/2000: 68 Schon am Ende des ersten Absatzes versucht der Erzähler zunehmend, mittels Interpretation den Wahnsinn von sich selbst abzuwenden, indem er ihn von sich 'wegschreibt'.
Und was ist besser geeignet, sich selbst als vernünftig und rational
zu präsentieren, als einen Anderen zum Wahnsinnigen zu erklären,
den Wahnsinn auf den Anderen gleichsam festschreibend (vgl. Foucault 1969)?
Durch diese Abgrenzung ist es dem Erzähler möglich, seine eigene
Position zu stabilisieren, obwohl sie immer wieder vom Wahnsinn bedroht
wird. Im folgenden kann der Erzähler aber auch diese Bedrohung an
Roderick festmachen: "I felt creeping upon me, by slow yet certain
degrees, the wild influences of his own fantastic yet impressive superstitions"
(Fall: 372). In diesem Bemühen ist der Erzähler überzeugend genug, daß die Sekundärliteratur oft keinen Zweifel an seiner Rationalität hat:
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PhiN 12/2000: 69 In der Beschreibung seiner Anfangsstimmung und seiner Ängste in der letzten Nacht wird aber deutlich, wie weit der Erzähler von einer derart stabilen Position gewissermaßen die des Analytikers auf dem Sessel hinter der Couch entfernt ist. Diese versucht er sich durch seine Erzählung erst zu erschreiben. Gelegentlich wird ihm diese Ambivalenz zwar zugestanden, aber zurückgeführt auf eine eigentümliche Spaltung in Poe: "Poe himself was divided between extreme rationalism and extreme hostility to reason" (Feidelson 1969: 72f.) was dem Kritiker wiederum eine stabile Position gegenüber den Ambivalenzen des Textes ermöglicht. Denn dem Leser von "The Fall of the House of Usher" ist es kaum möglich, der Falle zu entgehen, die ihm der Text hier stellt: Um sich selbst gegen den Wahnsinn Ushers zu stabilisieren, identifiziert sich der Leser mit dem Erzähler und dessen Welt der scheinbar stabilen Zeichen weit genug, um dessen Wahnsinn zu überlesen. Da einige Kritiker Roderick als positives Künstlermodell lesen (wie Woodson oder Butler), setzen sie Rodericks Wahnsinn in einen Zusammenhang zur Kunstproduktion, z. B. Gerald M. Garmon:
Butler behauptet sogar, daß Poe mit Roderick der zeitgenössischen medizinischen Auffassung von Wahnsinn wie bei Conolly (1830) ein romantisches Künstlerideal entgegensetzt:
Da Butler nur von Usher als Künstlerfigur ausgeht, kommt er nicht umhin, Poes Position als in Konkurrenz zu dieser zeitgenössischen, medizinischen zu setzen. Betrachtet man allerdings den Erzähler, so folgt dieser genau dem von Conolly beschriebenen Muster zur Vermeidung des Wahnsinns mittels Vergleich. Zudem gehen diese Kritiken von einer Hochschätzung des Wahnsinns für die Kunstproduktion aus, die Poe selbst in "The Philosophy of Composition" ausdrücklich zurückweist:
Im Gegenteil: Poe setzt diesem Mythos das handwerkliche Arbeiten entgegen, die genaue Konstruktion eines Textes, die Entstehung eines Kunstwerks aus Logik und Analyse (Poe 1846: 195ff.). Und umgekehrt scheint "The Fall of the House of Usher" anzudeuten, daß eine Vermittlung durch "poetic sentiment" es vermag, den Schrecken von Wahnsinn und Tod, dem sich der Erzähler gegenübersieht, in "aught of the sublime" umzuwandeln (Fall: 356). |
PhiN 12/2000: 70 4 Der Künstler und der Tod: Kunst als das Erzählen des TodesDer Tod tritt in "The Fall of the House of Usher" nicht erst an den Figuren Madeline und Roderick auf. Bereits der erste Absatz deutet Morbidität an in den "bleak walls", "vacant eye-like windows" und "decayed trees" der Szenerie. Thompson verstärkt diesen Eindruck in seiner Interpretation des Hauses als "a death's-head looming up out of the dead landscape" (Thompson 1972: 17). Das im Zerfallen begriffene Haus vermischt sich in der Beschreibung des Erzählers mit seiner Umgebung, sein Ende ist ihm schon zu Beginn eingeschrieben.
Auch Roderick ist vom Tod gezeichnet. Seine erste wörtlich wiedergegebene Äußerung antizipiert bereits sein Ende: "'I shall perish,' said he" (Fall: 363). Einige Kritiker beschreiben Roderick daher als den Tod suchend (z B. Quinn 1954: 90; Fiedler 1966: 415). Fiedler geht noch weiter, wenn er Poes Texte als unmißverständlichen Ausdruck einer ihm zugeschriebenen Todessehnsucht versteht, wobei er die literarischen Texte gemäß Freud als Wunscherfüllungen liest und den Autor personifiziert in Roderick begreift:
Auch Feidelson liest den Text als Bewegung auf den Tod zu; ein Tod, der sich in der Erzählung erfüllt (Feidelson 1969: 79). Damit wird aber die Sekundärliteratur dem Zusammenhang von Tod und Kunst nicht vollständig gerecht. Indem Feidelson den Tod als das kreative Moment der Erzählung versteht, gelangt er an einem Paradox in der vermeintlichen Aussage Poes an:
Aber nur Rodericks Kunst "ceases to exist", während das Kunstwerk des Erzählers gerade über diesen Tod entsteht. Und es ist Rodericks eigenes Verhalten gegenüber dem Tod, das zu seinem Untergang führt:
Betrachtet man jedoch die Rolle des Erzählers genauer, wird deutlich, daß es nicht nur um den dem Leben eingeschriebenen Tod geht, sondern um die Um-Schreibung von Tod in Leben. |
PhiN 12/2000: 71 In diesem Zusammenhang ist signifikant, daß Poe sich des Motivs des Scheintods bedient. In seiner Geschichte des Todes zeigt Philippe Ariès auf, daß die zunehmende und sich bis ins 19. Jahrhundert erhaltende Angst vor dem Scheintod einhergeht mit einer zunehmenden Polarisierung von Tod und Leben. Bis dahin wurde der Tod als 'Mischzustand' angesehen, "dem gleichzeitig etwas vom Leben und etwas vom Tode innewohnte" (Ariès 1980: 514). Poes Text ist damit in einer Zeit angesiedelt, in der sich der Übergang von der Betrachtung des Todes als Teil des Lebens (und noch vom Leben beherrscht) hin zu einer Betrachtung des Todes als einer Gewalt, die auf das Leben übergreift, vollzieht unter anderem an der Debatte über den Scheintod. Von nun an hat die Angst vor dem Tod die "Schwelle des Unsagbaren" überschritten und kann nicht mehr "in befriedende Worte übersetzt" werden (Ariès: 514f.). "The Fall of the House of Usher" beginnt geradezu mit einem Mischzustand in der Beschreibung des Hauses und der parallelisierten Beschreibung Rodericks, präsentiert zugleich Madeline in der unheimlichsten Form dieser Mischung: als Scheintote, und endet in einem eindeutigen Tod, der durch den überlebenden Erzähler in seiner ganzen Gewalt dargestellt wird.
Wenn Kunst sich der Repräsentation von Tod widmet, setzt sie sich immer auch mit ihrer eigenen Kraft zur Repräsentation auseinander; wie Elisabeth Bronfen und Sarah Webster Goodwin unter Rückgriff auf psychoanalytische Theorien aufzuzeigen versuchen:
Die Angst vor dem Tod beherrscht anch Bronfen den Menschen ab dem Moment der Durchtrennung der Nabelschnur. Sprache und Repräsentation dienen fortan immer der Verhüllung dieser Angst bzw. des Todes selbst (Bronfen 1992: 31). Es bedarf aber nicht erst dieser Theorien über die frühkindliche Entwicklungsphase, um zu verstehen, inwieweit der Tod gerade im Zusammenhang mit Repräsentation eine destabilisierende Erfahrung darstellt. Schmerz und Tod können nicht durch Zeichen vermittelt werden. Die Transformation dieser Erfahrung eines 'wirklichen' Körpers in Zeichen, in Sprache, bedeutet eine Verschiebung in eine objektivere Form und damit eine Abmilderung der Gewalt der Wirklichkeit. Tod in Sprache umzusetzen dient damit dem Selbstschutz, da er externalisiert wird vom Körper in Zeichen (Bronfen 1992: 46). Tod ist dabei immer nur als kulturelles Konstrukt zu verstehen, da der Tod außerhalb der persönlichen Erfahrung des (noch) sprechenden Subjekts liegt. Der Tod kann immer nur an anderen beobachtet werden, wodurch er nur eine Idee in der Vorstellung des Subjekts bleibt. Damit bleibt dieser Signifikant ohne greifbares Signifikat und bildet eine Grenze der Sprache, ein "failure of the tropic", das die symbolische Ordnung stört (Bronfen 1992: 54). |
PhiN 12/2000: 72 Gleichzeitig kann der Tod vom Überlebenden irrtümlicherweise
als der Ort gelesen werden, an dem Signifikant und Signifikat 'wirklich'
zusammenfallen, die Kluft zwischen Signifikant und Signifikat nicht auftritt,
da der Tod für den Überlebenden von vornherein eine Realität
ist, die nur in ihrer Zeichenhaftigkeit wahrgenommen werden kann. Damit
scheint Tod ein Garant dafür, daß es etwas gibt wie "the
possibility of true signification", was das Subjekt in seinem Versuch
bestätigt, sich mittels Repräsentation zu konstituieren (Bronfen
1992: 84). Für das Subjekt entsteht die Notwendigkeit, diese bedrohliche Grenze - sowohl des Subjekts als auch der Sprache umzusetzen. Über den Tod zu schreiben bedeutet, Kontrolle über die destabilisierende Erfahrung von Sterblichkeit zu erlangen. Die 'Dekomposition' eines Körpers wird verarbeitet über die Komposition eines Textes, die Zerstörung transformiert in eine Neuschaffung, und die Ästhetisierung benützt, um den (unästhetischen) Vorgang 'Tod' zu verhüllen. Das Ergebnis sind stabile Zeichen, die die destabilisierende Erfahrung ersetzen und gleichzeitig dazu dienen, sich selbst als überlebend (und damit als vor dem Tod gerettet) darzustellen (Bronfen 1992: 8). Sprechen setzt dem Tod, der es beenden würde, die endlose Wiederholung entgegen: "giving birth to its own image in a play of mirrors that has no limit" (Foucault in Bronfen 1992: 76). Diese Formulierung Michel Foucaults verweist implizit auf Lacans Vorstellung von Sprache und Sprechen, die nicht nur der Verhüllung des Todes, sondern der Stiftung von Identität und Bedeutung überhaupt dienen:
Von Beginn seines Sprechens an dient dem Menschen die Sprache zum Selbstentwurf. Lacan versucht zu klären, wie es dazu kommt, daß das "Symbolische" einen so wichtigen Stellenwert für das Subjekt erhält. Er geht dabei vom "Spiegelstadium" aus, einem Zeitpunkt in der frühkindlichen Entwicklung, in dem das Kind aus dem vorsprachlichen Stadium eintritt in die "symbolische Matrix": Das Kind erkennt sich in seinem Spiegelbild und erlebt sich zum erstenmal als "Ich", als autonome Entität. Zu diesem Zeitpunkt fehlt dem Kind aber noch die Erfahrung eines einheitlichen, kontrollierbaren Körpers, weshalb es dieses "Ich" nur indirekt - vorgespiegelt erlebt als ein "Ideal-Ich", das es zu erreichen gilt, das aber nicht erreicht werden kann, sondern immer Fiktion bleibt. Dieses ideale, einheitliche "Ich" bleibt bestimmend in der weiteren Entwicklung, der Mensch kann diese "Instanz [...] nicht mehr auslöschen" und muß in Zukunft "Nichtübereinstimmungen mit der eigenen Realität überwinden" (Lacan 1949: 64). Die Einheitlichkeit des Subjekts ist damit eine imaginäre Instanz, die im Realen nicht erlangt werden kann, aber im symbolischen Register bestimmend bleibt. |
PhiN 12/2000: 73 Als Kunstwerk, das Sprache und Sprechen ausstellt, scheint jeder Text diesen Übergang vom Imaginären zum Symbolischen offensichtlich zu machen. Der Erzähler transformiert seine Phantasmen in eine Erzählung, so daß am Schluß buchstäblich nur der Text bleibt, als gelungene Symbolisierung. Nicht nur wendet er so seine eigenen Ängste, die Bedrohung durch Wahnsinn, Tod und die Frau von sich ab und verwandelt sie in stabile Zeichen, er erhält auch noch das Surplus, sich dabei als Erzähler zu konstituieren, er schafft sich eine stabile Identität als Künstler, als Schöpfer der Zeichen. Und mittels des Kunstwerks, das gelesen wird, tritt er damit auch in Kommunikation mit der Außenwelt, kann eine zusätzliche Stabilisierung erlangen über die Anerkennung seiner Kunst was Roderick zwangsläufig vorenthalten bleibt, da seine Kunst ihn nicht überlebt. Auch auf der Textebene selbst scheint dieser Prozeß der Symbolisierung thematisiert zwar nicht in diesem psychoanalytischen Vokabular, aber, wie bereits erwähnt, als Notwendigkeit der Kunst zur Vermittlung, als "poetic sentiment with which the mind usually receives even the sternest natural images of the desolate or terrible" (Fall: 356). Aber zu diesem Zeitpunkt des Textes herrscht noch eine Atmosphäre des Verfalls, der Instabilität vor. Im Mittelteil des Textes konzentriert sich der Erzähler auf Rodericks scheiternde Symbolisierungsversuche, um am Ende seines eigenen Textes bei einem wirklich vollzogenen "murder of the thing" (Lacan in Bronfen 1992: 27) anzugelangen in seiner eigenen Symbolisierung.
Interessanterweise wird auch gelegentlich von der Sekundärliteratur hervorgehoben, wie weit der Text in der Symbolisierung geht:
Rodericks Kunstproduktionen unterscheiden sich in dieser Hinsicht deutlich von der des Erzählers, werden aber von der Sekundärliteratur zumeist positiv bewertet:
Doch gerade hier scheint sich ein Verfehlen Rodericks abzuzeichnen: Seine Kunst ist zu abstrakt. Sie antizipiert den Tod, kann ihn aber nicht vermitteln. Roderick gelingt der Übergang vom Imaginären ins Symbolische nicht genügend. Auch andere Hinweise im Text sprechen dafür, daß Roderick nicht in der Lage ist, durch sein Sprechen eine Realität für sich zu konstituieren, die ihn in eine Machtposition gegenüber den ihn umgebenden Objekten einnehmen ließe. Seine Theorien über die Sensibilität seiner Umgebung und deren unausweichlichen Einfluß auf ihn (Fall: 362f. und 368f.) sind nicht nur sehr weit entfernt von der klassischen Vorstellung, daß der Mensch in seinem Benennen Gewalt über die Dinge innehat (Roderick kann die Objekte zwar noch benennen, aber sie sind es, die Gewalt über ihn ausüben), sondern können auch gewertet werden als Zeichen der Verwirrung zwischen Wahrnehmung und Imagination (Wright 1975: 58). Mit anderen Worten, Roderick ist nicht in der Lage, Innen und Außen voneinander zu unterscheiden, sein Ich genügend differenziert von Objekten wahrzunehmen mit Freud könnte man sagen, es liegt eine narzißtische Störung bei Roderick vor (vgl. Freud 1915). |
PhiN 12/2000: 74
Ich möchte nicht zu sehr in eine psychoanalytische Beschreibung
der Figur geraten, aber diese wenig differenzierende Wahrnehmung Rodericks
erscheint mir wesentlich zur Bewertung seiner Kunst im Text. "In Roderick
Usher's world the differences between the human (animal), vegetable, and
the mineral kingdoms are abolished" (Spitzer 1969: 63). Allerdings
ist für Spitzer diese Verschmelzung Ushers mit seiner Umgebung eher
ein Ausdruck für eine in sich einheitliche Gesamtatmosphäre,
die dem Tod entgegenzustreben scheint und Usher in seiner Todessehnsucht
einschließt (Spitzer 1969: 65). Poes Text scheint für Spitzer
hier eine Milieustudie darzustellen. Dem widersprechend ist es aber wiederum der Erzähler, der Roderick als Teil seiner Umgebung schildert, eine Differenzierung Rodericks von seiner Umgebung erschwert und ihn damit gleichsam zum Objekt wandelt: empfindsam, animiert, aber in sicherem Abstand von der Position des 'wahren' Künstlers - dem schöpferischen Subjekt mit Verfügungsgewalt über die Objekte. Auch der äußerst sparsame Einsatz direkter Rede bei Roderick dient dazu, Roderick als eher nicht-sprechend darzustellen. Er spricht nicht und er spricht vor allem nicht über Madelines vermeintlichen Tod. Im Gegenteil, gerade nach ihrer Bestattung scheint sein Sprechen (im weitesten Sinne) völlig zu versagen: er produziert keine Kunst mehr ("His ordinary occupations were neglected or forgotten"; Fall: 371), seine vordem kräftige Stimme ist wie verstümmelt: "The once occasional huskiness of his tone was heard no more; and a tremulous quaver, as if of extreme terror, habitually characterized his utterance" (Fall: 371). Roderick spricht nicht aus, was so "oppressive" auf ihm lastet und ihn verstrickt in "the mere inexplicable vagaries of madness": "I thought his unceasingly agitated mind was laboring with some oppressive secret, to divulge which he struggled for the necessary courage" (Fall: 371f.). Und als Roderick am Ende seine Stimme wieder erhebt, dann um auf sein mangelndes Sprechen aufmerksam zu machen:
Seinen Malereien fehlt gerade der Zusammenhang zur Sprache sie sind nicht übersetzbar in Worte, nicht durch Sprechen darstellbar oder vermittelbar, was dem Erzähler Grauen verursacht, verborgen unter Bewunderung:
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PhiN 12/2000: 75 Der Erzähler setzt Rodericks "pure abstractions" nicht nur in direkten Zusammenhang mit seinem Wahnsinn (Fall: 365), sondern zitiert auch ein künstlerisches Gegenmodell in den "too concrete reveries of Fuseli" (Fall: 366). Inwieweit der Erzähler sich damit performativ mittels Zitierung zwischen diese beiden Pole plaziert, wird an später noch verdeutlicht. An dieser Stelle möchte ich mich darauf beschränken, daß es für den Erzähler immer wieder um die Übersetzbarkeit geht, um die Möglichkeit der Verbalisierung, die Roderick so offensichtlich nicht gelingt: "One of the phantasmagoric conceptions of my friend, partaking not so rigidly of the spirit of abstraction, may be shadowed forth, although feebly, in words" (Fall: 366). Wollte man das, was der Erzähler uns vorführt, in eine These übersetzen, könnte sie ungefähr so lauten: Möchte der Künstler den Tod besiegen, muß er ihn in ein Kunstwerk übersetzen. Will er ein wahres Kunstwerk schaffen, sollte es den Tod zum Thema haben. Und während der Erzähler sein Kunstwerk über das Sterben von Roderick und Madeline schafft, sich zum Künstler über den Tod erhebt, bleibt Roderick trotz aller Kunstproduktion ein Sterblicher: "If ever mortal painted an idea, that mortal was Roderick Usher" (Poe 1839: 365). Man kann "The Fall of the House of Usher" lesen als eine Allegorie auf die Beziehung des Künstlers zum Tod: Roderick scheitert und wird vom Tod besiegt, da er ihn nicht in stabile Zeichen, in ein Kunstwerk zu transformieren vermag. Der Erzähler hingegen schreibt den Tod um in ein Kunstwerk, das ihn selbst überleben wird, und erhöht den poetischen Wert seines Textes gerade dadurch, daß er über den Tod schreibt:
Und 'Tod' erhöht nicht nur den Wert des Kunstwerks, der 'sichere' Tod erscheint in der Erzählung auch als notwendig zur Stabilisierung eines Textes. Solange sich Madeline im Zustand des Untoten befindet, funktionieren auch die Texte nicht mehr. "The Mad Trist", vom Erzähler ausdrücklich zur Beruhigung Rodericks vorgelesen, wird destabilisierend: Die Signifikanten des Textes erhalten eine beunruhigende Referenz außerhalb des Textes in den Geräuschen, die die Wiederkehr der Untoten ankündigen (Fall: 374-77). Die Erzählung selbst entsteht dagegen erst über den sicheren Tod von Madeline und Roderick.
Roderick ist nicht in der Lage, den Tod zu repräsentieren, schon deshalb nicht, weil er verkennt, daß Madeline nicht wirklich tot ist. Die Sekundärliteratur übersieht oft diese Tatsache, wie sie auch manchmal nicht beachtet, daß Roderick nach Madelines angeblichem Tod nicht mehr künstlerisch tätig wird (so bei Abel 1969: 50). Das geht gelegentlich so weit, Roderick besondere schöpferische Kräfte zuzuschreiben, wenn Madeline am Ende wiederaufersteht (Butler 1976: 5). Diese Lesart ist m. E. völlig untragbar. Denn welche Aussagekraft sollte dieser "apparent rebirth of a woman" (Butler 1976: 5) haben, der sogleich vom Tod gefolgt ist?
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PhiN 12/2000: 76 Denn der 'narrating narrator' (Derrida, s. o.) ist nicht mehr derjenige, der dem Tod ausgesetzt ist, sondern derjenige, der das Sterben, "The Fall" erst mit seinem Text setzt. Mit gottähnlicher Macht schafft und zerstört er in einem das Vorrecht des Künstlers: "Whereas in true art there is always the double rhythm of creating and destroying" (Lawrence 1969: 36). Sprechen, insbesondere das Sprechen über den Tod des Anderen, wird als Macht inszeniert.
Dementsprechend ungeklärt läßt der Erzähler auch Rodericks Tod. Dies ist umso erstaunlicher bei einem Erzähler, der bislang durch seine rationalen Erklärungsmuster auffiel. Hier gibt er keine Antwort, woraufhin die Sekundärliteratur immer wieder die Frage stellt nach der Ursache für Rodericks Tod, die sie aber auch gleich selbst beantwortet (so z. B. Abel, der Roderick zu einem eigentlich schon Toten erklärt, der nur versehentlich noch unter den Lebenden weilt; Abel 1969: 53), ohne zu bemerken, daß der Text selbst diese Frage ausgespart hatte. Wieder verbirgt der Erzähler sein Tun so gekonnt, daß seine Leser es nicht mehr wahrnehmen. 5 Das weibliche Untote und die 'männliche' KunstWas der Text wohl am meisterhaftesten und auf mannigfaltige Weise verbirgt, ist die tote Frau. Denn letztlich ist sie es, die buchstäblich die Entscheidung 'fällt' zwischen den zwei Künstlern, indem ihre Leiche den einen Roderick unter sich begräbt. Die Sekundärliteratur nimmt zwar den Tod Madelines wahr, setzt ihn aber immer nur in Bezug zur psychischen Verfassung Rodericks. Ihr Tod hat nur Bedeutung für ihn. Die Repräsentation ihres Todes wird hingegen nicht hinterfragt, was nach Bronfen seinen Grund darin hat, daß diese Repräsentation in unserer Kultur zu geläufig ist (Bronfen 1992: 3). Aber "The Fall of the House of Usher" erzählt vom Tod einer Frau verborgen hinter dem Sterben Rodericks. Der Tod der Frau, dargestellt von einem männlichen Künstler, erfüllt eine wichtige Funktion: Die Verhüllung des Todes ist für das männliche Subjekt leichter möglich, wenn eine Frau als Leiche 'dient', da dann der Tod des Anderen auch noch im Kontext der Frau als der Anderen steht, also gewissermaßen zur geschlechtsspezifischen Bedrohung wird: die Frau ist sterblich, der Mann überlebend (Bronfen 1992: xi). Die Darstellung einer toten Frau dient für den Künstler der schützenden Vorstellung, daß er anders als die Frau - keinen Tod 'hat' (Bronfen 1992: 122, 218), Sterblichkeit bleibt der Frau vorbehalten (de Beauvoir 1951: 173).
Als Tote läßt sich die Frau wesentlich leichter in den 'Mythos
Frau' einpassen; der weibliche Körper erscheint nun, da er tot ist,
als perfekte, makellose, nur noch ästhetische Form, als ein Objekt
der Kunst (Bronfen 1992: 5). Bronfen betont die Reduktion, die der tote
weibliche Körper dadurch erfährt, daß er in Kunst umgewandelt
wird: Er wird dadurch zu einem von außen kodierten Körper, zu
der Stelle, die die Vorstellungskraft und Kreativität des Künstlers
markiert (Bronfen 1992: 50). In "The Fall of the House of Usher"
wird der Tod jedoch signifikanterweise nicht nur am Objekt Frau dargestellt,
zum anderen bleibt die Repräsentation der Leiche aus bzw. geschieht
nur indirekt. Dennoch wird eine Frau durch den Text dargestellt oder eben
gerade nicht dargestellt. Und es ist ein männlicher Künstler,
der sich durch diesen Text eine Identität gibt. Laut Judith Butler funktioniert Subjektbildung immer über Ausschluß: Das Subjekt benötigt einen "Bereich verworfener Wesen", gegen den es sich abgrenzen kann, um für sich selbst Autonomie und Leben zu beanspruchen. Die Konstituierung des Subjekts verlangt also nach einem "verwerfliche[n] Außen, das im Grunde genommen 'innerhalb' des Subjekts liegt, als dessen eigene fundierende Zurückweisung" (Butler 1995: 23). "Sobald das Subjekt sich zu bejahen sucht, braucht es doch das Andere, das es eingrenzt und verneint: nur durch diese Wirklichkeit, die es selber nicht ist, gelangt es zu sich selbst (de Beauvoir 1951: 152). Da die Subjektwerdung nach Lacan durch das Inzestverbot des Vaters ausgelöst wird, ist sie geschlechtlich bestimmt: Das männliche Kind ist gezwungen, sein Begehren nach der Mutter zu verdrängen und identifiziert sich nun mit dem Vater. Damit kommt der 'Phallus' ins Spiel: Das männliche Subjekt braucht die Bestätigung, wie der Vater den Phallus (eine symbolische Größe, der das Innehaben des männliche Geschlechtsorgans leider nicht genüge tut) zu besitzen. Diese Bestätigung kann es nur durch die Frau erhalten, was diese wiederum in die Position des Phallus bringt: sie 'ist' der Phallus. Damit ist aber die männliche Identitätskonstruktion abhängig von der weiblichen Bestätigung (Butler 1991: 52-3; 74-5). Der Phallus bezeichnet so die Überschneidung zwischen dem Feld der Geschlechterdifferenz, in die das Kind eintritt, und der Sprache, der Signifikation; denn der Phallus ist für Lacan "der Signifikant, der bestimmt ist, die Signifikatswirkungen in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen." (Lacan 1958: 126) Durch die Geschlechterdifferenz ist dem männlichen Teil unserer Kultur die Bildung des 'Anderen' als pseudo-natürliche Grenze des Subjekts ermöglicht bzw. vorgegeben: die Frau ist "das Andere", gegen das sich der Mann als Subjekt abzuheben versucht. Simone de Beauvoir schildert ausführlich den Mythos 'Frau', dessen Konstrukt eine ebenso konstruierte Männlichkeit bestätigen bzw. erst erzeugen soll (de Beauvoir 1951: 152ff.). |
PhiN 12/2000: 77 Da die Frau der Phallus 'ist' (Lacan 1958: 130), hat sie auch die Macht über die Stabilität der männlichen Subjektkonstruktion. Sie kann ihn in seiner Männlichkeit bestätigen oder diese Illusion zerstören (Butler 1991: 77). Frauen dienen dem Mann als "Spiegel, der vom (männlichen) 'Subjekt' besetzt wird, um sich darin zu reflektieren" (Irigaray 1979: 29). Der Mythos 'Frau', der das männliche Subjekt bestätigen soll, ist allerdings ein referenzloses Zeichen, da keine Frau ihm entspricht - der Mythos statuiert also nur Ambivalenz (Bronfen 1992: 66). Da 'die Frau' alles Andere zu sein hat, "ist sie auch ein Anderes als sie selbst, anders als das, was von ihr erwartet wird." Sie ist "die ewige Enttäuschung", die die Identifizierung des Mannes stört (de Beauvoir 1951: 205). In "The Fall of the House of Usher" ist Madeline nicht nur das buchstäblich Ausgegrenzte (wodurch der Erzähler seine Position stabilisiert), sie wird auch deutlich als Bedrohung Rodericks inszeniert. Körperlichkeit, Sexualität und Tod präsentieren sich als die subjektgefährdenden Seiten der Natur, die ausgegrenzt und in die Frau als Andere verlegt werden müssen. Damit wird die Frau aber zum Träger dieser Natur-Gefahren und selbst zur Gefahr. Die Leiche einer Frau wird zum Symbol für den Sieg über die Natur (Bronfen 1992: 86). Das Verhältnis von Roderick zu Madeline wird im Text vage als über ein normales Geschwisterverhältnis hinausgehend beschrieben: "sympathies of a scarcely intelligible nature had always existed between them" (Fall: 371). Die Sekundärliteratur tilgt oft diese Ambivalenz des Textes, indem sie das Verhältnis als eindeutig inzestuös definiert (so bei Spitzer, Quinn, P. F., Bonaparte und Fiedler) und damit eine eindeutige Problematik in den Text einführt bis hin zur Klärung von Rodericks Wahnsinn durch den Inzest, während der Text selbst das Verhältnis von Roderick und Madeline weniger als Erklärungsmodell benutzt, sondern es verrätselt. Liest man aber diese sexuelle Beziehung im Text, so wird noch deutlicher, daß Madeline eine Gefährdung Rodericks darstellt. Denn sexuelle Versuchung wird laut Bronfen vom männlichen Subjekt generell als Gefährdung interpretiert: Es soll an seine Körperlichkeit gebunden werden. Die Reaktion auf diese Bedrohung ist oft die Vernichtung des Körpers, der sie trägt: des weiblichen Körpers (Bronfen 1992: 67). Da der Text es dem Leser erschwert, Madeline als für sich vollständige Figur zu erfahren, wird sie von der Sekundärliteratur des öfteren lediglich als eine Doppelung Rodericks verstanden (z. B. bei Silverman 1991: 151). Oder Roderick und Madeline werden als zwei Hälften eines Ganzen gelesen: "They are hardly distinguishable, except that Madeline is less substantial, and the come to stand for two aspects of the same individual" (Feidelson 1969: 80). Auch Quinn liest "The Fall of the House of Usher" als Erzählung über eine "split personality", allerdings wieder mit starkem Fokus auf Roderick: Madeline ist, wie das Haus, eine Repräsentation von Rodericks Unbewußtem (Quinn 1954: 88f.). Abels Ansatz hingegen betont mehr das Verhalten Rodericks gegenüber seiner Schwester, und wieder liegt die Problematik Rodericks auf Seiten der Wahrnehmung und Differenzierung:
Schon D. H. Lawrence betont, am Inzest festhaltend, ein grundlegendes Verkennen Rodericks:
Roderick identifiziert sich auf mehrfache Weise nicht über Andersheit,
sondern Gleichheit: Er setzt sich ineins mit dem House of Usher sowohl
in physischer Hinsicht, als Gemäuer, das ihn umgibt und beeinflußt,
von dem er sich nicht lösen kann, als auch in symbolischer Hinsicht
als Titel der Familie. Man könnte soweit gehen, zu sagen, Roderick
identifiziert sich wesentlich als Stammhalter seiner Familie, als letzter,
der den Namen Usher trägt einen Namen, der, wie dieser selbst auszudrücken
scheint, niemals besessen, sondern immer nur weitergegeben werden kann.
Interpretiert man den Hinweis "in the direct line of descent"
(Fall: 358) als jahrhundertealte Tradition der Inzucht im Hause Usher
(wie es die Sekundärliteratur zumeist tut), dann ist für diese
Identifikation Rodericks seine Schwester Madeline unumgänglich sonst
bleibt er tatsächlich "the last of the ancient race of the Ushers"
(Fall: S. 364). |
PhiN 12/2000: 78 Beim Blick auf die Pseudo-Leiche Madelines wird deutlich, daß Roderick zudem als Zwilling identifiziert wird allerdings zu einem Zeitpunkt, da er bereits ein 'gewesener Zwilling' ist. Nicht zuletzt verstärkt Rodericks völlig verstörtes Verhalten nach dem vermeintlichen Tod Madelines den Eindruck, daß für ihn eine Identifikation nur über die Schwester möglich ist. Dabei ist die Schwester nicht das Andere, von dem er sich abgrenzt dann hätte er ihren Tod stabilisierend interpretieren können. Er verfehlt jedoch ihre Andersheit in einem sich spiegelnden Blick auf Madeline, der sie zu einem Teil seiner selbst macht und ihren Tod zu einer Form der Kastration. Roderick verkennt, daß Madeline als Frau ihm wesentlich nicht-gleich ist und bleibt gewissermaßen im primären Narzißmus verhaftet, indem er Madeline nicht als 'Außen' anerkennt und über die Aufgabe dieses Objekts den Übergang in die Symbolische Ordnung vollzieht. Gerade Madelines Tod hätte die Möglichkeit zu dieser Verzichtleistung geboten, doch Roderick scheitert - auch deshalb, weil Madeline nicht tot ist. Angesichts Rodericks Zweifel an Madelines Zustand tot oder untot ist er auch kaum in der Lage, sie zur eigenen Stabilisierung zu interpretieren. Denn ist Madeline wirklich tot, fehlt ihm sein narzißtischer Spiegel, lebt sie aber noch, dann wird er gerade in diesem Moment zu ihrem Mörder. Ihr Status als Un-Tote, an sich schon jenseits aller Stabilität und außerhalb jeder Referenz, wird für Roderick zur Dekonstruktion seiner selbst. Damit scheint die Figur Madelines zunächst die männliche Identifikation zu subvertieren: "For Roderick Usher [...], as for most of Poe's characters, nothing stays buried. [...] painful objects, memories, and persons keep returning in defiance of the characters' conscious control" (Silverman 1991: 150). Feministische Lektüren haben aufgrund dieser Muster Poe zu einem "female writer" erklärt: "By pointing out that Poe's dead women refuse to stay dead, for example, critics challenge the notion that Poe's tales merely silence feminine experience" (Kot 1996: 388). Ich würde insoweit zustimmen, daß Poe nicht einfach etwas zum Schweigen bringt, sondern gerade dieses Zum-Schweigen-Bringen in seinen Texten ausstellt. Aber von hier aus stellt sich wiederum die Frage, wozu diese unheimliche Wiederkehr der (scheinbar) Toten im Text dient. Persons Standpunkt, die Frauenfiguren Poes würden sich durch ihre Wiederkehr der Ästhetisierung entziehen, kann ich nicht zustimmen. Zwar verdeutlicht Person zu Recht, daß Rodericks Versuche diesbezüglich kläglich scheitern, wenn er am Ende von seinem vermeintlichen Objekt, der angeblich toten Schwester, heimgesucht wird. Dabei übersieht sie aber, daß ein Künstler übrigbleibt, der die nun 'wirklich' Tote in der Tat ästhetisiert und dabei vielleicht gerade durch ihre rächende Wiederkehr verschleiert, daß die Basis seines eigenen Kunstwerks wiederum der Tod einer Frau ist (Person in Kot 1996: 391). Denn man könnte durchaus sagen, daß nur das Untote sich der Ästhetisierung entzieht in seiner beunruhigenden Nicht-Referenz. Auch die Sekundärliteratur hält die Ambiguität dieses Zustands oft nicht aus. Während uns "The Fall of the House of Usher" im Zweifel darüber läßt, ob Madeline nun tot war oder nicht, versuchen manche Kritiker, sie auf die sichere Seite des Todes festzuschreiben. Ihre Wiederkehr am Ende des Textes hat keine "reality outside the deranged minds of the two protagonists in the tale" (Walker 1966: 592). Allerdings ergibt sich daraus für Walker die Notwendigkeit, Rodericks Todesursache umzuschreiben: "Roderick is not killed by his sister, but is literally terrified to death by his environment and his distorted imagination [...]" (Walker 1966: 592). |
PhiN 12/2000: 79 So wie ihr Un-Tod entzieht sich die ganze Figur Madeline der Be-Deutung. Man kann von "The Fall of the House of Usher" nicht als von einem Text sprechen, der den Tod einer Frau oder ihren toten Körper repräsentieren würde im Gegenteil: In geradezu auffälliger Weise fehlt Madeline im Text. Sie taucht nur dreimal im Text auf, jedesmal sprachlos (außer einem "low moaning cry" am Ende) und immer in ihrer Anwesenheit schon fehlend: Zu Beginn taucht sie nur auf, um sogleich zu verschwinden (Fall: 364), dann sieht sie der Erzähler für einen kurzen Moment als vermeintliche Leiche, die nur dazu dient, den Bruder zu bezeichnen (als Zwilling) und am Schluß sorgt ihr Wieder-Auftauchen für den Untergang des ganzen Hauses. Eine zentrale Rolle nimmt sie nur dadurch ein, daß sie fehlt. Wenn Madeline etwas be-deutet, dann wohl den Mangel selbst. Man könnte von ihrer Figur durchaus sagen, daß sie "aufgrund [ihrer] Struktur dazu bestimmt ist, die Annullierung dessen zu bezeichnen, was [sie] bezeichnet" (Lacan 1956: 32). Und Madelines Fehlen im Text ist so ausschlaggebend, daß sich die Sekundärliteratur gelegentlich dazu anschickt, diese klaffende Lücke zu füllen, indem sie Madeline zur Hauptfigur erhebt, wie bei Spitzer, der sie als Gegenmodell zu Usher wieder in den Text hineinliest: "Madeline [...] is the true male and last hero of the House of Usher [...]" (Spitzer 1969: 59). Lyle H. Kendall geht noch weiter, wenn er "The Fall of the House of Usher" als Vampirgeschichte liest und Madeline zum Vampir macht. Allerdings nötigt ihn diese Interpretation, den Text von Poe selbst noch einmal umzuschreiben, damit er Madeline hineinlesen kann in eine Erzählung, die m. E. gerade ihr Fehlen ausstellt (Kendall 1969: 99ff.). Kendall gehört zumindest zu den wenigen Autoren, die der Figur von Madeline mehr als einen Seitenblick zuwerfen (im Gegensatz zu den meisten Kritikern, die genau die Geste des Erzählers wiederholen - nur um ebenfalls eine Ähnlichkeit Madelines zu Roderick festzustellen). Die lebende Madeline ist für Roderick Zeichen der "evidently approaching dissolution" (Fall: 364), sie subvertiert die Vorstellung von kontinuierlicher, sicherer Präsenz (Bronfen 1992: 187). Ihre Leiche dagegen könnte auf das Leben verweisen. Ariès verdeutlicht, daß "der Leichnam die Geheimnisse des Lebens und der Gesundheit birgt" und deshalb bereits im 17. Jh. zum begehrten Objekt der Medizin wird (Ariès 1980: 452). Und gerade vor der Medizin, die Madelines toten Körper als ein lesbares Zeichen für die Pathologie begehrt, versucht Roderick diesen zu bewahren. Aber seine Geste ist ambivalent: Zum einen scheint er den toten Körper als ein stabilisierendes Zeichen in seiner Verfügungsgewalt behalten zu wollen, zum anderen verbirgt er sie, auch vor seinen eigenen Augen. Außerdem wird die Leiche durch diese Geste, die sie erhalten soll, erst produziert. Und in diesem Umgang mit der Leiche verfehlt Roderick wieder den Zugang zur Gesellschaft. Während, wie Ariès beschreibt, der Tod "stets etwas Soziales und Öffentliches gewesen" ist (Ariès 1980: 716), herrscht im Hause Usher selbst dem Tod gegenüber nur noch die Geste des Verbergens vor: Madeline stirbt im Hintergrund und wird im Keller vor den neugierigen Augen der Ärzte versteckt. Ein Begräbniszeremoniell - als eine Möglichkeit, den Tod ins Symbolische zu transformieren - findet überhaupt nicht statt.In ihrem Grab liegend wird Madeline das unlesbare Zeichen in persona:
|
PhiN 12/2000: 80 Und indem hier als tot interpretiert wird, was nicht tot ist, entwickelt sich das Drama des Hauses Usher.
Es wurde bereits deutlich, daß der Erzähler den Tod nicht zufällig zum Thema seiner Erzählung macht, sondern damit den Kunstwert dieser im Sinne Poes erhöht. Und es ist gerade Madelines Tod, der poetisch so wertvoll ist. Daß der Erzähler dieser Poetologie folgt, darauf gibt er selbst einen deutlichen, aber meist überlesenen Hinweis:
Diesem Hinweis nachzugehen ist äußerst lohnenswert. Denn
diese "too concrete reveries" des Malers Johann Heinrich
Füssli
(1741-1825) stellen aus, was der Erzähler so geschickt verbirgt: die
Porträtierung der toten Frau. Zahlreiche seiner Bilder wie
"Ezzelin
Bracciaferro und die tote Meduna" (ca. 1784), "Die Höhle
der Hypochondrie" (1799), "Celadon und Amelia" (1801),
"Lear
und Cordelia" (1805) zeigen tote oder zumindest deanimierte
Frauenkörper
unter den Blicken oder in den Armen eines Mannes. Füsslis
berühmtestes
Gemälde, "Der
Nachtmahr" (1. Fassung 1781, 2. Fassung 1790/91, Fig. 1) wird von Wright
als Referenz dieses Erzähler-Hinweises
festgemacht
(Wright 1975: 59). Dafür spricht nicht nur der Bekanntheitsgrad des
Gemäldes, sondern auch das Vorkommen zahlreicher Reproduktionen im
frühen 19. Jahrhundert, z. B. von Raddon (Stich von 1827), Gavarni,
Ramelet und Callot (Illustrationen, alle 1830). Zwar stellt "Der
Nachtmahr"
dem Titel nach eine schlafende Frau dar, ihre Haltung dagegen
läßt
eher an eine Leiche denken. Zudem gibt Peter Tomory als Vorbilder der so
beeindruckenden Kopf- und Armhaltung Werke an, in denen Frauenleichen
repräsentiert
werden (Tomory 1974).
Man könnte sagen, Füssli zitiert in seiner Schlafenden verschiedene Tote woraus sich eine ähnliche Ambivalenz ergibt wie aus dem untoten Zustand Madelines. Und der Erzähler scheint dieses Zitieren zu wiederholen, wenn er den Namen "Fuseli" fallen läßt, unmittelbar vor der einzigen genauen Beschreibung eines Gemäldes von Roderick. Diese Geste des Erzählers ist weder zu abstrakt, noch "too concrete" - er verbirgt, was er macht, gut genug, um von der Sekundärliteratur meist nicht entdeckt zu werden. Garmon tappt in diese Falle, wenn er bemängelt, daß "the narrator still does not recognize that Roderick's painting, on the simplest level, had been of his sister's tomb" (Garmon 1972: 13). Eher kann man sagen, daß es Garmon ist, der nicht erkennt, daß der Erzähler, allerdings auf einem etwas komplizierteren 'Level', nicht nur das Bild von Roderick richtig 'liest', sondern in seinem Hinweis auf Füssli auch noch mit einem ambivalenten, toten-nichttoten Körper ergänzt. Der Erzähler fügt damit in Rodericks Kunst ein, was dieser zu fehlen scheint: die Repräsentation der toten Frau - aber nicht so offensichtlich wie in Füsslis Gemälden, sondern in einer geschickten Geste des Versteckens, die damit auch noch verbirgt, daß die Erzählung sich selbst somit zur "most poetic" macht. Nur leider ist der Erzähler nicht der beraubte Geliebte diese Rolle muß er, wenn auch maskiert, Roderick zugestehen. Was mit ein Grund dafür sein könnte, weshalb die Figur Roderick letztendlich verschwinden muß: Denn wie unangebracht wäre dieses Klagelied, wenn neben dem Erzähler der 'wahre' Trauernde stumm danebenstünde? Den Inzest vorausgesetzt, ergibt sich hieraus noch ein weiterer Grund, warum Roderick eine stabile Transformation des Todes von Madeline in ein Kunstwerk nicht gelingen kann: als ihr Bruder kann er unmöglich die tabuisierte Position des "bereaved lover" einnehmen dieser Platz wird somit frei und kann ihm vom Erzähler genommen werden. |
PhiN 12/2000: 81 6 Schlußbemerkung
Indem ich mich selbst in meiner Auseinandersetzung mit Texten über
"The Fall of the House of Usher" in einen Text über all
diese Texte hineinbegeben habe, bin ich weit genug davon entfernt, noch
beurteilen zu können, inwiefern ich selbst eine Reduzierung von Poes
Text vornehme durch Be-Deutung. Doch habe ich versucht, nicht etwas Unlesbares
lesbar zu machen, sondern das Lesbare, aber immer wieder Überlesene
in den Mittelpunkt meiner Lektüre zu stellen. Ich bin mir darüber im klaren, daß bereits ein Aufzeigen der Ambivalenzen im Text, die sich einer eindeutigen Bedeutung entziehen, dazu tendiert, gerade das, was den Text literarisch macht, zu eliminieren. Aber indem ich anerkenne, daß in diesem Sinne die Lektüre dem Text unterlegen ist, entgehe ich vielleicht einem "acting out" nur, weil ich den Erzähler nicht wiederholen und sein Werk durch meines ersetzen möchte. Und während ich versucht habe, die Taktik des Erzählers aufzudecken, offensichtlich zu machen, was er im verborgenen läßt seine eigene Position als Künstler , bleibt die 'wahre Kunst' bei Poe gerade diese Geste des Versteckens:
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